Bolivien: "Der Putsch gegen die Regierung ist auch ein Putsch gegen das Volk"

Adriana Guzmán und Diana Vargas vom Feminismo Comunitario Antipatriarcal über die anhaltende politische Repression in Bolivien

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Adriana Guzmán (links) und Diana Vargas von der Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal (FCA) in La Paz, Bolivien
Adriana Guzmán (links) und Diana Vargas von der Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal (FCA) in La Paz, Bolivien

Adriana Guzmán und Diana Vargas sind Teil der Organisation des Feminismo Comunitario Antipatriarcal (FCA) in La Paz, Bolivien. Adriana Guzmán, Aymara und internationale Sprecherin des FCA, ist seit dem Gaskrieg in Bolivien im Jahr 2003 als Feministin aktiv. Sie war Mitbegründerin des Feminismo Comunitario, der seit einer Spaltung 2017 unter dem aktuellen Namen weiter existiert, und gehört heute zu den bekanntesten Vertreterinnen der feministischen Basisbewegungen in Abya Yala1.

Im Rahmen einer breiteren kontinentalen Strömung meist plurinational orientierter Bewegungen fokussiert der FCA, der antikapitalistisch, antirassistisch, dekolonial und antipatriarchal ausgerichtet ist, auf das politische Lebensmodell der Gemeinschaft und nimmt Rekurs auf traditionelle Formen der Weltanschauung und der Gemeinschaftsorganisation. Angesichts der seit dem Putsch im November 2019 anhaltenden politischen Repression durch die De-facto-Regierung und dem Nichtvorhandensein verlässlicher juristischer Institutionen, haben die Feministinnen zur Dokumentierung von Menschenrechtsverletzungen zudem die Comisión Feminista Plurinacional gegründet.

Wir sprachen mit Adriana Guzmán und Diana Vargas über die Rolle des FCA, die aktuelle politische Situation in Bolivien und über die während des Putsches an Frauen verübte sexuelle Gewalt. Das Interview wurde am 13. Juli geführt, also vor dem aktuellen Generalstreik und den einhergehenden Mobilisierungen.

Was ist die Entstehungsgeschichte des Feminismo Comunitario Antipatriarcal und was konntet ihr in Bolivien in den vergangenen Jahren erreichen?

A.G.: Der politische Prozess des Wandels in Bolivien begann nach dem Gasmassaker im Jahr 2003 mit der verfassungsgebenden Versammlung, die für indigene und kleinbäuerliche Autonomie stand und unter anderem dekolonisierende und entpatriarchalisierende Bildung sowie ein kommunitäres Gesundheitssystem mit traditioneller Medizin umfasste. Die Dekolonialisierung der Staatspolitiken und vieles Weitere waren das Produkt eines politischen Kampfes der Völker. Der Staat sollte nicht national sein, denn der Nationalismus ist genozidal, er tötet die Völker, er tötet die Körper, er repräsentiert die Modernität, nach der alle streben. In diesem Prozess wurde der Kommunitäre Feminismus geboren.

Wenn der Kolonialismus und das ökonomische System nicht diskutiert worden wären, wenn das vivir bien, das Suma Qamaña, das Sumak Kawsa2 nicht zur Sprache gekommen wären, hätten wir diese Art des Feminismus nicht hervorbringen können, einen Kampf, der von den Frauen ausgeht und der auf dem Gedächtnis unserer Vorfahrinnen beruht.

Wir sind keine große Bewegung. Aber es geht nicht darum, wie viele wir sind, sondern darum, dass wir uns artikulieren, dass wir uns organisieren, dass wir diskutieren und gemeinsam mit anderen Organisationen Vorschläge erarbeiten, wie mit der Organisation Mujeres Bartolina Sisa, mit dem Dachverband der Bolivianischen Gewerkschaften (Central Obrera Boliviana) mit den Minenarbeitern, den Lehrerinnen und Lehrern, den Hausfrauen und so weiter. Wir haben nie verlangt, dass alle Frauen Kommunitäre Feministinnen werden. Unser Feminismus richtet sich vielmehr auf die Diskussion der Central Obrera, auf die Diskussion der Klasse, die sich auch auf die Diskussion des vivir bien richtet.

Denn auch die Gemeinden sind nicht perfekt. Auch dort gibt es Machismo und Gewalt. Wie viele Menschen wir erreicht haben, ist schwer zu sagen, aber es waren viele, denn wir haben an der verfassungsgebenden Versammlung teilgenommen, an den Justiz-Gipfeln, an den Gesundheits-Gipfeln, an den Entpatriarchalisierungs-Gipfeln, an denen Tausende Menschen teilgenommen haben. Wichtig ist hier vor allem unser Einfluss im Bereich des öffentlichen Bildungssystems, das die Materialien, die wir für eine entpatriarchalisierende Pädagogik produziert haben, aufgenommen hat.

Könnt ihr uns etwas über die Comisión Feminista Plurinacional erzählen?

D.V.: Wir haben die Kommission gegründet, weil wir mehr juristische Instrumente brauchen, um das, was geschehen ist, zur Anklage bringen zu können. Im Rahmen des Putsches gab es fast 40 Tote und es gibt hundert politische Gefangene. Bei ihnen handelt es sich nicht nur um Mitglieder von der Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS), sondern um Menschen, die aufgrund einer bestimmten politischen Auffassung auf die Straße gingen. Das sind dieselben Gruppen, die während des Gaskriegs Widerstand leisteten, und ebenso wie damals gab es auch jetzt wieder Blutvergießen.

Die Kommission ist lebenswichtig, um diese Menschen unterstützen zu können und um internationale Institutionen und Organismen erreichen zu können, damit das Geschehene bekannt wird und die Toten und der Schmerz nicht straflos bleiben. International haben sie glauben lassen, dass es in Bolivien keinen Putsch gab! Und man kann sagen, dass es nicht nur ein Putsch gegen die Regierung war, sondern ein Putsch gegen das Volk, ein Putsch gegen den Widerstand und gegen alles, was wir aufgebaut haben. Die Organisationen in Bolivien sind heute zerschlagen und es ist wichtig, diese Information nach außen zu tragen, damit dies nicht straflos bleibt, damit die Faschisten wissen, dass wir in den vergangenen vierzehn Jahren unsere Kraft aufgebaubt haben, und damit alle wissen, dass das Volk seinen Schmerz nicht wortlos hinnimmt.

Welche Erwartungen habt ihr diesbezüglich an die internationalen Organisationen und Bewegungen, die sich mit dem Volk von Bolivien solidarisieren?

D.V.: Wir hoffen, dass sie die Anklagen und Berichte von unseren compañeras, die in den sozialen Netzwerken kursieren und die wir weiterleiten, bekannt machen und dass sie sich bezüglich Bolivien äußern. Das betrifft auch die internationalen Organisationen, die sich zu Komplizen von Luis Almagro von der Organisation Amerikanischer Staaten, der den Staatsstreich unterstützt hat, gemacht haben. Wir dachten, dass es uns politisch gut ginge, und dass uns das, was in Argentinien und Ecuador geschah, nicht passieren würde.

Wir haben compañeras aus Honduras, die uns rieten, vorsichtig zu sein, und uns erzählten, dass es vor zehn Jahren einen Putsch in Honduras gegeben habe und niemand ihnen geglaubt habe. Wir bauen auf den Worten und Lehren unserer compañeras auf, wir lassen uns nicht mundtot machen und wir hoffen, dass sich auch die Organisationen, Bewegungen und compañeras, die unseren Widerstand unterstützen, international äußern. Momentan geht unser Problem über das der Pandemie hinaus. Wir sind mit einer Regierung konfrontiert, der das Volk egal ist, und die uns mit dem Vorwand eines Virus ermordet, verfolgt und ausbeutet, ein Volk, das sich in einem Prozess des Wandels befand.

A.G.: Wir hoffen, dass die Pressezensur, die bis heute in Bolivien anhält, durchbrochen wird. Die Manipulation der Informationen erfolgt sowohl durch die leitenden Medien als auch durch die Akademien. Denn viele Akademikerinnen und Akademiker meinen, dass es in Bolivien keinen Staatsstreich, sondern zivilen Ungehorsam gegeben habe, und dass die Regierung der MAS korrupt gewesen sei. Für uns gibt es nichts, das das Massaker rechtfertigen könnte.

Ob es Korruption gegeben hat, ob Evo Morales die richtigen Entscheidungen getroffen hat oder nicht, es hätte andere Möglichkeiten der Lösung geben können, zum Beispiel eine politische Diskussion. Jedoch nicht das Massaker und nicht der Sturz der Regierung und der Putsch gegen das Volk.

In diesem Moment gibt es keine Menschenrechtsorganisationen in Bolivien. Wir haben die Rolle übernommen, uns für die Menschenrechte einzusetzen, die Information zu verbreiten, zu Journalistinnen und Menschenrechtsaktivistinnen zu werden. Das war nichts, das wir geplant hätten. Wir mussten es tun.

Und schließlich möchten wir uns auch mit feministischen compañeras aus anderen Territorien zusammenschließen, auch in Europa, um die Gewalt, die den Frauen im Kontext des Putsches angetan wurde, anzuklagen. Nichts von all dem Geschehenen, von dem Massaker, soll straflos bleiben. Aber die Erfahrungen aus anderen Ländern und anderen Staatsstreichen, die systematische Gewalt gegen die indigenen Frauen in Guatemala und in Mexiko, zeigen, dass die Gewalt gegen Frauen nicht sichtbar ist, und dass sie nie bestraft wird. Dass System hat andere Formen, uns Frauen zu ermorden. Es ist nicht notwendig, dass sie uns mit Kugeln massakrieren. Die sexuelle Gewalt, die während der Massaker in Bolivien begangen wurde, bleibt bisher straflos. Wir müssen Allianzen aufbauen, damit Gerechtigkeit erreicht wird, damit herausgefunden wird, wer die Täter der sexuellen und physischen Gewalt und der erzwungenen Schwangerschaftsabbrüche sind, die unsere compañeras im Kontext des Putsches erfahren mussten.

Wir werden unser Möglichstes tun, eure Forderungen in Deutschland bekannt zu machen. Vielen Dank für das Interview.

Mónica Grados und Tamara Candela sind Aktivistinnen der Initiative Basisbewegungen in Abya Yala (INAY) in Hamburg

  • 1. Abya Yala ist aus dekolonialer Perspektive und in der Sprache der Kuna aus Panama die Bezeichnung für den lateinamerikanischen Kontinent. Sie wurde von den politisch organisierten indigenen Bevölkerungen weitgehend übernommen.
  • 2. Sumak Kawsay (Quechua) und Suma Qamaña (Aymara) sind die Bezeichnungen für das buen vivir oder das vivir bien, das “gute Leben” verstanden in der andinen Konzeption des gemeinschaftlichen Zusammenlebens und der komplementären Beziehung zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur.