Venezuela: "Viele fühlen sich von den verschiedenen politischen Strömungen nicht mehr angesprochen"

Gespräch mit dem Journalisten Marco Teruggi über die aktuelle Entwicklung in Venezuela und Lateinamerika

venezuela_chavistas_parlament_5-1-2021.jpeg

Mit der chavistischen Mehrheit zogen auch die Bilder von Simón Bolívar und Hugo Chávez wieder in das Parlament ein. Die Opposition hatte sie am ersten Tag der Legislatur 2016 entfernt
Mit der chavistischen Mehrheit zogen auch die Bilder von Simón Bolívar und Hugo Chávez wieder in das Parlament ein. Die Opposition hatte sie am ersten Tag der Legislatur 2016 entfernt

Teil I

Die realtiv hohe Wahlenthaltung bei den Parlamentswahlen in Venezuela muss untersucht werden. Eine 30,5-prozentige Beteiligung ist im Vergleich zu anderen Parlamentswahlen auf der Welt nicht so gering, aber der Bolivarische Prozess ist bislang von hohem politischen Engagement und Partizipation gekennzeichnet gewesen.

Es gibt wohl drei Faktoren, die zu einer Enthaltungsrate von fast 70 Prozent beigetragen haben: 1. Die schwierige Situation der venezolanischen Bevölkerung aufgrund der Sanktionen; 2. der Aufruf zum Wahlboykott des US-nahen Oppositionsführers Juan Guaidó und 3. der Verfall der politischen Ebene, sowohl bei den Chavistas wie auch bei der Opposition.

Wie verstehen Sie diese Situation?

Zunächst können wir, wie Sie erwähnt haben, den Bolivarischen Prozess verteidigen, indem wir Wahlbeteiligungen rund um die Welt vergleichen. Aus dieser Perspektive trifft es zu, dass die Wahlen vom 6. Dezember keine Ausnahme sind. Und es ist in der Tat wichtig, dies zu betonen, denn es gibt eine internationale Kampagne zur Delegitimierung der venezolanischen Demokratie.

Wenn wir die Situation von innerhalb des Landes aus analysieren, brauchen wir eine andere Interpretation. Für Venezuela ist eine Wahlbeteiligung von 30,5 Prozent gering. Hier könnten wir zwar einen anderen Vergleich ziehen, etwa die 25 Prozent Beteiligung an den Parlamentswahlen von 2005, als die gesamte Opposition den Wahlprozess boykottierte. Tatsache ist aber, dass es in den vergangenen sieben Jahren eine Tendenz hin zu geringerer Partizipation gegeben hat.

Eine Teilanalyse könnte auch auf die Enthaltung eines wichtigen Teils der Opposition fokussieren. Die Teilnahme der Chavisten hat aber auch nachgelassen: Der Block der Vereinten Sozialistischen Partei (PSUV) bekam jetzt rund 4,2 Millionen Stimmen, das sind zwei Millionen weniger als bei der Präsidentschaftswahl 2018, die auch schon von einer geringen Beteiligung gekennzeichnet war.

Anders gesagt, die niedrigen Wahlbeteiligungen sollten Anlass zur Sorge sein. Zudem hat der oppositionelle Sektor, der an den Dezember-Wahlen teilnahm, sehr dürftige Ergebnisse erzielt: ungefähr 1,2 Millionen Stimmen.

Der historische Kern der Unterstützung des Chavismus hat sich also verkleinert, aber der sogenannten demokratischen Opposition ist es auch nicht gelungen, einen überzeugenden politischen Vorschlag zu machen.

Nichtsdestotrotz wäre es falsch, die niedrige Wahlbeteiligung auf Guaidós Aufruf zur Enthaltung zurückzuführen. Anders gesagt: Guaidó rief die Menschen zum Wahlboykott auf, aber er stieß auf Schweigen in der Gesellschaft.

Das Problem geht tiefer. Was am 6. Dezember vor allem sichtbar wurde, ist die Distanz zwischen einem wachsenden Teil der Gesellschaft und den verschiedenen politischen Strömungen im Land.

Es gibt jedoch einige offensichtliche Ungleichheiten: Der Chavismus stellt weiterhin in hohem Maße einen einheitlichen Prozess dar und die PSUV ist im ganzen Land verwurzelt, während die Opposition gespalten ist und keine gefestigten Parteistrukturen in den Regionen hat.

All dies geschieht natürlich inmitten einer komplexen ökonomischen Situation, die seit fünf Jahren andauert. Zuerst waren es die Nahrungsmittelengpässe, dann die Hyperinflation; dann der Verlust der Geldbasis und das Fehlen von Papiergeld, die Einführung des Dollars, niedrige Löhne, der miserable Zustand der öffentlichen Dienste von Wasser und Gas bis Strom, der Benzinmangel usw.

Venezuela durchlebt eine Wirtschaftskrise, die durch die US-Sanktionen [seit 2017] verschärft wurde und eine extrem schwierige Situation für die Bevölkerung schafft. In diesem Zusammenhang stellen die sichtbaren Politiken eine Art Spiegelbild dar: Die Opposition sagt, dass die Quelle aller Probleme in Chávez und Maduro zu finden ist, während die Regierung behauptet, dass die Sanktionen die Wurzel aller Probleme sind.

Anders gesagt, ein Sektor agiert, als hätten die Sanktionen keine Folgen für das Leben der Menschen, während der andere Sektor sich weigert anzuerkennen, dass eine schlechte Regierungsführung tatsächlich Auswirkungen hatte.

Heißt das, dass sich die Diskurse ergänzen und im Grunde stagnieren?

Im Vorfeld der Wahlen war der chavistische Diskurs: "Mit einer neuen Nationalversammlung werden wir unsere Probleme lösen", aber wie, das wurde nicht gesagt. Die Opposition bietet auch keinen Plan an: Guaidós einziger Plan ist, die Regierung zu stürzen, während die "neue" Opposition, die die Debatte hätte beleben können, mit einem schwammigen Diskurs auftrat.

Was am 6. Dezember geschah, ist ein lauter Weckruf, eine Alarmsignal. Das heißt aber nicht, dass die politische Macht des Chavismus derzeit gefährdet ist. Wichtig ist jetzt, wie Siege und Niederlagen ausgewertet werden.

Bedenkt man, dass die Strategie von Gauidós Opposition darin bestand, Maduro zu stürzen – oder "einen Regierungswechsel zu erzwingen", wie die USA diplomatisch sagen –, sind sie wieder gescheitert.

Für den venezolanischen Veränderungsprozess gibt es aber eine offene Frage. Warum hat ein Teil der Gesellschaft die Erwartung verloren, dass sich etwas zum Besseren ändern könnte?

Würden Sie sagen, dass es eine Art von kollektivem Dissens gibt mit der Art und Weise, wie sowohl der Chavismus als auch die Opposition Politik machen?

Ich würde sagen, es hat einen Erosionsprozess gegeben und das hat genauso viel mit der Wirtschaft zu tun wie mit dem statischen Charakter der politischen Diskurse. Kein Sektor ist fähig, seine Logik durchzulüften oder zu erneuern.

Die Opposition, die noch immer vor allem um Guaidó herum organisiert ist, ist nicht in der Lage, sich zu erneuern. Sie wiederholt den Diskurs der nationalen Tragödie und fährt fort, die Botschaft vom "Regierungswechsel" zu verkünden, ist aber nicht in der Lage, wirklich Hoffnung zu machen.

Auf der anderen Seite setzt die Regierung einen Diskurs fort, dem es nicht gelingt, andere gesellschaftliche Sektoren einzubinden und Menschen, die auf Distanz gegangen sind, zurückzuholen.

Sicher, es gibt eine historische chavistische Basis, die ihre Unterstützung für die Regierung unabhängig davon aufrechterhält, aber der sich wiederholende Diskurs scheint die Mehrheit nicht anzusprechen.

Die Regierung ist in einer eigenartigen Situation. Einerseits ist sie stark und stabil in den Institutionen, aber zugleich ist ihre Beziehung zum Volk schwach. All dies entwickelt sich außerdem im Kontext der Versuche, Venezuela zu isolieren, und der imperialistischen Belagerung. Wie würden Sie das aktuelle Kräfteverhältnis beschreiben?

Im Inneren des Landes ist die Regierung bestrebt, an der Macht zu bleiben, und das gelingt ihr. Etwa eineinhalb Jahre lang hat die Regierung sich bemüht, die Opposition zu spalten: Sie hat den radikalsten Teil isoliert und den Eintritt einer demokratischeren Opposition in die politische Szenerie befördert.

Auch wenn es stimmt, dass der Einzug der neuen demokratischen Opposition kaum gesellschaftliche Unterstützung gefunden hat, wurde das Schachbrett neu geordnet und das Guaidó-Lager steht mit dem Rücken zur Wand. So dreht sich etwa der Diskurs von Leopoldo López in diesen Tagen vor allem darum, den "Glauben aufrechtzuerhalten". Es ist ein defensives und schwaches Narrativ.

Vor zwei Jahren hat Guaidó sich selbst zum "Präsidenten" ernannt und er bekam volle Unterstützung der USA und anderer Staaten, zusammen mit einer Gruppe lateinamerikanischer Regierungen. Sein Plan schien stark, er war im Aufstieg begriffen. Seitdem hat der Chavismus Guaidó aber erfolgreich in die Enge getrieben, der jetzt nichts mehr zu bieten hat: keinen Plan, keine Strategie, keinen Diskurs.

Zudem wird die demokratische Opposition, die im Moment noch sehr schwach ist, wahrscheinlich ein wichtigerer Akteur werden. Die Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen stehen bevor und sie wird daran teilnehmen, während Guaidó keine Alternative bietet. Weitere Sektoren werden sich an den kommenden Wahlkämpfen beteiligen, aber das bedroht die politische Macht des Chavismus nicht.

Die USA wissen jetzt, dass ihre Strategie nicht funktioniert hat, also müssen neue Wege beschritten werden. Das könnte bedeuten, dass die US-Regierung die Blockade im Rahmen einer Verhandlung lockern könnte, bei der die Forderung nach dem Rücktritt Maduros nicht der erste Schritt ist, wie es mit Donald Trump der Fall war.

Die Art, wie die USA mit der "Venezuela-Frage" umgehen, muss sich ändern. Das ist die wichtigste Lektion, die aus den Dezember-Wahlen und anderen aktuellen Ereignissen zu ziehen ist. Wird die neue US-Regierung fähig sein, über Parallel-Regierungen, paramilitärische Interventionen, diplomatische Belagerung etc hinaus zu denken?

Der Chavismus ist widerstandsfähig. In seinen frühen Tagen war der Bolivarische Prozess mit Putschen und Erdölsabotage konfrontiert [2002 und 2003], sowie mit Versuchen, den demokratischen Prozess aus der Bahn zu werfen [2005]. Dann kam eine Zeitspanne, in der die Opposition den demokratischen Weg beschritt. Seit 2014 hat sie jedoch wieder auf die alte anti-demokratische Logik gesetzt. Jetzt, da die gewaltsame Absetzung der Regierung gescheitert ist, erwarte ich, dass wir eine zunehmende Rückkehr der Opposition auf demokratische Bahnen sehen werden.

Interessant ist, dass die Regierung sich durch wechselnde Oppositionstaktiken hindurch behaupten konnte. Dies kann man als Gegensatz zur MAS-Regierung in Bolivien sehen, die nach drei Wochen Druck im Jahr 2019 gestürzt wurde, nur um ein Jahr später durch das Volk wieder eingesetzt zu werden.

Die außergewöhnliche Widerstandsfähigkeit des Chavismus hat gezeigt, dass die Rechte die Regierung nicht mit Mitteln der Gewalt absetzen kann. Es gibt keine Abkürzungen.

Lang vor den Parlamentswahlen begannen manche Chavisten von einem Prozess der "Entfremdung" von der Politik zu sprechen. Andere Analysten sprechen von der "Entpolitisierung" der venezolanischen Gesellschaft. Wie würden sie das aktuelle Panorama diesbezüglich beschreiben?

Ich denke nicht, dass es einen Entpolitisierungsprozess gegeben hat. Die venezolanische Gesellschaft ist hoch politisiert. Venezolaner sind interessiert an Politik, sie verfügen über Analysewerkzeuge und verwenden regelmäßig politische Kategorien. Aber viele fühlen sich von den verschiedenen politischen Strömungen nicht mehr angesprochen, das ist der Punkt.

Das führt uns zu einer wichtigen Frage: Was geschieht tatsächlich in der dialektischen Beziehung zwischen den Leuten und der politischen Führung? Entfernen sich die Leute von der Politik oder entfernt sich die politische Führung von den Leuten?

Hier gibt es sowohl Symmetrien als auch Asymmetrien. Der Chavismus verfügt über eine Partei, er hat eine Struktur und er hat verschiedene Bewegungen im Regierungsblock. Die Opposition hat das nicht.

Ich würde also nicht sagen, dass es eine Entpolitisierung gibt, aber es gibt einen Distanzierungsprozess. Viele sehen, dass ein Spiel im Gange ist, aber ihre Probleme werden in dem Spiel nicht gelöst werden. Da das so ist, fragen sie sich: Warum soll ich bei den Parlamentswahlen abstimmen, wenn alles, was ich erwarten kann, mehr vom Gleichen ist? Aber das an sich ist eine politische Haltung.

Ich sollte aber auch hinzufügen, dass, während die Diskurse sich wiederholen und die Menschen nicht einbeziehen, hinter den Kulissen Dinge geschehen, und die Menschen sind sich dessen auch bewusst. Es gibt Kanäle für den Dialog – internationale Verhandlungen wie die von Norwegen im vergangenen Jahr vermittelten –, und es werden neue Deals im wirtschaftlichen Bereich umgesetzt, die günstige Bedingungen für Privatinvestitionen schaffen, etc.

Teil II

Die Regierung unternimmt Schritte zur Liberalisierung der Wirtschaft. Dazu gehören das Anti-Blockade-Gesetz und andere Maßnahmen, die den Transfer staatlicher Vermögenswerte in den privaten Sektor erleichtern und gleichzeitig günstige Bedingungen für in- und ausländisches Kapital schaffen. Wie interpretieren Sie, was hier vor sich geht?

Hier kommen mehrere Dinge zusammen. Einige sind Tatsachen, andere geben Raum zur Interpretation. Es gibt eine [von den USA angeführte] Blockade, und das ist eine Tatsache. Die Sanktionen treffen nicht nur die Regierung, sondern jeden, der ins Land kommt, um zu investieren oder Geschäfte zu machen. Auch das ist Fakt. Ebenso, dass der Staat durch die Blockade einen großen Teil seiner Einnahmen verloren hat.

Es gibt ein großes Defizit an Einnahmen. Ein Beispiel: Der venezolanische Staat hat die Grundversorgung in der Hand. Dazu gehören Wasser, Gas, Strom, Kommunikationsdienste usw. Die Unfähigkeit des Staates, zu investieren, hat zu einer Verschlechterung dieser Dienstleistungen geführt. Das wiederum wirkt sich auf das tägliche Leben der Menschen aus.

Um der Krise entgegenzuwirken, so der Ansatz der Regierung, muss privates Kapital herangezogen werden. Das wiederum erfordert sichere Rahmenbedingungen und Investitionen. Viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Aber es stellt sich eine Frage: Wie sind wir an diesen Punkt gelangt? Zunächst muss festgestellt werden, dass die wirtschaftliche Situation nicht nur mit den Auswirkungen der Sanktionen erklärt werden kann. Der Rückgang der Reallöhne beispielsweise begann schon vorher. Im Jahr 2014 lag der Mindestlohn bereits unter 50 US-Dollar pro Monat.

Und um 2014/2015 herum konnte man sehen, wie staatliche Unternehmen herunterkamen und verfielen, etwa die staatlichen Zuckermühlen. Um zu verstehen, was passiert ist, könnte man folgern, dass es Sektoren mit einem langfristigen Plan gab: Die Rückkehr von Privatkapital in die Bereiche, in denen der Staat eine führende Rolle hatte.

Man mag mit dieser Sichtweise nicht einverstanden sein, aber die Wahrheit ist, dass das als politische und wirtschaftliche Taktik nicht unzulässig ist. Das Problem ist, dass es nicht offen gemacht wurde. Es wurde der Gesellschaft nicht vermittelt.

Wenn es nun um die aktuelle wirtschaftliche Situation geht, so wird argumentiert, dass das staatliche Modell einfach nicht funktioniert hat, die Lösung liege also im privaten Sektor. Mir scheint, wir sollten verstehen, wie die Situation sich wirklich entwickelt hat: Was jetzt passiert, hatte sich seit einiger Zeit angebahnt und zu dieser Entwicklung kamen die Sanktionen noch dazu.

Doch jenseits aller Spekulationen deutet heute alles darauf hin, dass man sich um private Investitionen bemühen muss. Das beinhaltet weitere wirtschaftliche Zugeständnisse, Privatisierungen und die Rückgabe einiger Vermögenswerte an die früheren Besitzer.

Was daraus werden kann, hängt ab von der Art des Kapitals, das in die Wirtschaft kommt und mit welcher Kontrolle. Wenn dieser Prozess gut durchgeführt wird, in geordneter Weise, unter staatlicher Aufsicht, mit Ausschreibungen, wenn all dies die Kassen der Nation füllt, dann ist es gut. Meine Erfahrungen außerhalb Venezuelas sagen mir aber, dass der Zufluss privaten Kapitals in der Regel schnell und schwer zu überwachen ist, während die Erholung der staatlich kontrollierten Teile der Wirtschaft meist sehr langsam ist.

Dennoch, der Prozess ist im Gang. Worauf es ankommen wird, unabhängig von meiner Sichtweise, ist, ob und wie der Staat die Kontrolle über die Wirtschaftsstrategie behält.

Das ist meine Einschätzung. Andere sagen, dass der Staat unter keinen Umständen seine Vermögenswerte aufgeben soll. Das ist eine andere Position.

Bis jetzt hat die Regierung Privatisierungen nicht offiziell vorgeschlagen, aber es gibt Leute, die sie dazu auffordern. Nach Ihren argentinischen Erfahrungen mit Privatisierungen, was halten Sie davon?

Für mich ist klar, dass es Dinge gibt, die man nicht der Marktspekulation überlassen darf. Wenn die Grundversorgung in die Hände großer Unternehmen übergeht, deren eigentliches Ziel Gewinne sind, dann folgen daraus exorbitante Preissteigerungen und die Menschen werden in eine wirklich schlechte Lage gebracht. Das wissen wir aus Argentinien, und das sollte für hier eine Warnung sein.

Wenn der Kapitalzufluss geordnet und kontrolliert abläuft, dann sollte der Staat in der Lage sein, sich zu erholen und in die Infrastruktur der öffentlichen Dienstleistungen zu investieren. Wenn der Prozess jedoch chaotisch und ungeordnet abläuft und wenn er zur Privatisierung von Basisdienstleistungen führt, dann werden die Auswirkungen sehr negativ sein.

Wie ich schon sagte, der Staat sollte genau wissen, wer in welchen Sektor eintritt und wie, er muss die Wirtschaftsströme verfolgen usw. Zum Beispiel muss der Staat das einfließende Kapital je nach Herkunft erfassen: Es wird internationales und nationales Kapital geben, und letzteres wiederum wird sich zwischen den alteingesessenen und den neuen Geschäftsbereichen aufteilen.

Um auf das Anti-Blockade-Gesetz zurückzukommen, das Sie anfangs erwähnten: Dabei handelt es sich um einen der wichtigsten Hebel, den die Regierung hat, um den Dialog zu fördern. Die Regierung fordert, dass die Blockade aufgehoben wird, aber wenn Privatkapital dasselbe verlangen würde, dann würde die Zugkraft der Anti-Sanktionskampagne wachsen. Jedenfalls schafft die Regierung die Voraussetzungen dafür, dass Unternehmen in Bereiche vordringen, die vor wenigen Jahren für privates Kapital noch völlig außer Reichweite waren; aber damit das in vollem Umfang funktioniert, müssen die Sanktionen gelockert werden.

Bei einem Treffen des "Netzwerk der Künstler, Intellektuellen und sozialen Bewegungen zur Verteidigung der Menschheit" im Jahr 2019 analysierten Sie den neoliberalen Vormarsch vor dem geopolitischen Hintergrund des Kontinents. Seit damals gab es Veränderungen zum Besseren in Bolivien und Fortschritte in Chile, sowie weitere Rebellionen und Proteste in ganz Lateinamerika. Wie beurteilen Sie die geopolitische Lage jetzt?

Wie Sie schon sagten, man muss bedenken, dass die Debatte unmittelbar nach dem Staatsstreich in Bolivien und dem Aufstand der Indigenen in Ecuador stattfand. Beide Ereignisse zeigten die Prekarität der Prozesse.

Die drängende Frage damals war zunächst, warum hielt die Regierung von Evo Morales dem Druck nicht stand und was waren ihre Schwächen?

Andererseits, mit Blick auf Ecuador: Wie und wann entwickelte sich die enorme Distanz zwischen Regierung und Gesellschaft? Und darüber hinaus: Warum war da eine derart große Kluft zwischen dem "Correismus" [der politischen Strömung, die mit dem ehemaligen Präsidenten Rafael Correa verbunden ist] und der indigenen Bewegung?

Geopolitisch gesehen ist die Lage jetzt besser. Die bolivianische Regierung kam durch Wahlen wieder zurück, was ein großer politischer Sieg war, und es besteht die Möglichkeit, dass Ecuador bei den Wahlen im Februar [für die Linke] zurückgewonnen wird. Das bedeutet unter anderem, dass regionale Integrationsbestrebungen wie die Union Südamerikanischer Nationen reaktiviert werden könnten.

Darüber hinaus können wir andere interessante Zeichen sehen: der chilenische Versuch, die Verfassung zu ändern; der jüngste Aufstand in Peru; der Prozess der kontinuierlichen Mobilisierung in Kolumbien; oder die Proteste gegen den IWF in Costa Rica... All dies weist auf die Tatsache hin, dass der Neoliberalismus in keiner stabilen politischen Situation ist; aber das bedeutet nicht, dass die fortschrittliche Prozesse in stabilem Zustand wären.

Außerdem gibt es immer Streit innerhalb der alternativen Projekte, besonders wenn sie Zugang zur Macht bekommen. Die Millionen-Dollar-Frage ist: Können antineoliberale Räume der Macht stabil bleiben, während das Projekt voranschreitet?

Mit Blick darauf müssen wir darauf achten, wie Prozesse und Bewegungen sich entwickeln, und dabei sollten wir berücksichtigen, dass wir uns in der Ära einer großen US-Offensive befinden.

Im vergangenen Jahr hatten wir auf der Seite der progressiven Kräfte einige Fortschritte erreicht, andererseits spürten wir den permanenten Druck der USA. Nun steht in den USA ein Regierungswechsel an. Es ist offensichtlich, dass die strategischen Ziele der USA sich nicht ändern werden, aber die neue Administration könnte auf einige formale Änderungen drängen. Zum einen wird der konfrontative Kurs von Marco Rubio aufhören, und es könnte zu Verhandlungen kommen, aber die Ziele bleiben die gleichen. Am Ende des Tages sind die, die ins Weiße Haus kommen, genauso "Falken" wie diejenigen, die es verlassen.

Außerdem werden wir beobachten müssen, wie sich die Hinwendung zu Russland und China entwickelt, einschließlich der Möglichkeit, uns mit einem eigenen Projekt auf diese Großmächte zu beziehen.

Und schließlich wirft all dies eine weitere Frage auf: Welches ist das Entwicklungsmodell, das den fortschrittlichen Prozess auf dem Kontinent bestimmen wird?

Sie sprachen von der "Keine-Debatten-Zone" in progressiven Prozessen. Sie wiesen auf den Mangel an interner Debatte hin, insbesondere im Bereich der intellektuellen Produktion. Wir sind interessiert, Ihre Gedanken dazu zu hören.

Die Frage, die ich gestellt hatte – auch bei dem Treffen des Netzwerks – war, wie wir über die Eigenschaften und Besonderheiten des Veränderungsprozesses diskutieren. Unter Intellektuellen kam diese Frage [bei dem Treffen] auf den Tisch. Das war unmittelbar nach dem Aufstand in Ecuador und dem Putsch in Bolivien.

Die Frage war und ist wirklich, wann und wie wir über die Transformationsprozesse diskutieren? Intellektuelle müssen fortschrittliche Prozesse verteidigen, aber gleichzeitig scheint die Verteidigung es schwierig zu machen, die Prozesse zu reflektieren.

Und natürlich, wenn der Prozess unter Bedrohung ist, mag es scheinen, dass nicht die Zeit ist, um zu debattieren. Das ist kein neues Problem: Alle fortschrittlichen Prozesse sind damit konfrontiert.

Venezuela hat eine Verteidigungsstruktur gegen die imperiale Aggression aufgebaut, und das ist gut so. Aber es gibt praktisch keine Diskussion über die Situation der Bolivarischen Revolution.

Es gibt wichtige Fragen, die zu diskutieren sind. Einige, die auf den Tisch gehören, könnten sein: Was geschieht mit der Volksmacht? Wie sieht das Übergangsmodell aus? Was ist mit der Agrarreform geschehen? Was passiert, wenn privates Kapital hereinkommt? Gibt es einen Trend zur Wiederherstellung früherer gesellschaftlicher, politischer Verhältnisse ?

Das sind tatsächlich Fragen, die wir in jedem fortschrittlichen Prozess stellen könnten.

Natürlich muss diese Frage der Debatte im Zusammenhang mit der politischen Kultur des jeweiligen Landes gesehen werden. In Argentinien etwa gibt es eine Tradition der Debatte in den Medien, während in Venezuela diese Kultur nicht etabliert ist, und Kommunikationsmedien sind dort sehr zentralisiert. Dies führt zu einer einheitlichen Botschaft, die auf verschieben Ebenen wiederholt wird. So ist es sehr schwierig, die Türen für interne Debatten zu öffnen, wo unterschiedliche Sichtweisen zum Ausdruck kommen.

Wenn es um diese Frage der Debatte geht, frage ich mich: Könnte es zusätzlich zur Verteidigung der Prozesse, die ein Muss ist, noch etwas anderes geben? Sollte die Analyse sich selbst darauf beschränken, immer und immer wieder die gleichen Dinge zu wiederholen? Ich habe keinen Zweifel, dass man unbedingt das Imperium und seine Taktiken offenlegen muss, aber sollten Intellektuelle nicht auch untersuchen, was in den progressiven Prozessen vor sich geht?

Man könnte antworten: Jetzt ist nicht die Zeit. Im Falle Venezuela ist das wegen der harten Sanktionen ein starkes Argument. Wenn wir aber die These akzeptieren, dass die aktuelle Situation sich seit dem Jahr 2014 entwickelt hat, dann sprechen wir über einen Zeitraum von sechs Jahren mit Einschränkungen bei der Debatte.

Ich glaube, dass eine Synthese zwischen Debatte und Nicht-Debatte geschaffen werden kann. Das bedeutet ein Gleichgewicht von Verteidigung und kritischer Analyse der Situation. Und, das sollte ich hier hinzufügen, das gilt nicht nur für Venezuela, sondern auch für Bolivien, Ecuador und andere fortschrittliche Prozesse.