Kolonialismus im Land der Mapuche in Chile

Auch Schweizer Siedler:innen sind am Landraub im Wallmapu, dem Territorium des indigenen Volkes der Mapuche, beteiligt

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Die Forst- und Landwirtschaftsschule “La Providencia” in Traiguén, gegründet 1893 vom Schweizer Pfarrer Arnold Leutwyler
Die Forst- und Landwirtschaftsschule “La Providencia” in Traiguén, gegründet 1893 vom Schweizer Pfarrer Arnold Leutwyler

In der Nacht auf den 6. August 2020 versammelt sich trotz der pandemiebedingten Ausgangssperre eine Menge aufgebrachter Menschen vor den Gemeindehäusern der Kleinstädte Traiguén, Curacautín, Galvarino und Victoria. Sie grölen rassistische Parolen und vertreiben mit Gewalt die Mapuche-Aktivist:innen, welche zuvor über mehrere Tage die Gemeindeverwaltungen besetzt hielten. In dieser Nacht kommen einige von ihnen nur mit schweren Verletzungen davon.

Hinter der Aktion steht die rechtsextreme Organisation APRA Araucanía. Sie hatte davor seit mehreren Tagen gegen die Mapuche gehetzt. In den sozialen Medien feierten Anhänger:innen nachträglich die Gewaltnacht.

Im Zentrum des Konflikts stand der Hungerstreik von Machi Celestino Córdova. Er wurde 2014 wegen Mordes an dem Ehepaar Luchsinger-Mackay verurteilt. Bis heute verneint er, an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Mit den Besetzungen der Gemeindeverwaltungen unterstützten die Mapuche-Aktivist:innen den Streik Córdovas und forderten die Freilassung aller politischen Gefangenen.

Der Brandanschlag auf die Luchsinger und die APRA

In der Nacht auf den 4. Januar 2013 fand auf dem Gutshof Lumahue bei Vilcún ein Brandanschlag statt, bei dem das Ehepaar Luchsinger- Mackay in den Flammen ums Leben kam.

Die Schuldigen standen für die Behörden schnell fest: benachbarte Mapuche, die seit einiger Zeit das Land der Luchsingers zurückforderten. In den folgenden Jahren wurden weitere Personen des Mordes schuldig gesprochen – in Berufung auf das umstrittene Antiterrorgesetz. Dieses erlaubt anonymisierte Zeugenaussagen und erhöhte Haftstrafen.

Der Vorfall war ein Schock für die Großgrundbesitzer:innen im Wallmapu und gelangte als Schlagzeile bis nach Europa. Nachfahren von Siedler:innen berichteten vor offenen Presseohren, dass sie um ihr Leben fürchteten.

Als Reaktion auf dieses Ereignis erfolgte die Gründung der APRA – Asociación por la Paz y la Reconcialiación en la Araucanía (Vereinigung für Frieden und Versöhnung in der Araucanía). In den folgenden Jahren bemühte sich diese Vereinigung allerdings vor allem darum, die Mapuche pauschal als Terrorist:innen darzustellen und gegen sie zu hetzen. Die APRA hat zudem enge Verbindungen zur ultrarechten Regierungspartei Unión Democrática Independiente.

Und die Schweiz?

Der Tod des Ehepaars Luchsinger erschien auch in den Schweizer Medien, denn es handelte sich dabei um Nachkommen von Schweizer Aussiedler:innen. Die meisten dieser Nachfahren besitzen heute nur noch Chilenische Pässe und sprechen kaum mehr die Sprache ihrer Vorfahren, viele sind aber weiterhin stolz auf ihre Schweizer Herkunft.

Die NZZ berichtete von einer "Welle der Gewalt gegen weiße Farmer" und malte dabei einen "Rassenkonflikt" (sic!) an die Wand. Radikalisierte "Indianer", die mit linksterroristischen Organisationen in ganz Lateinamerika zusammenarbeiteten, gingen in der Vision des Autors gegen rechtschaffene Schweizer Aussiedler:innen vor.

Dabei seien die Nachfahren der Schweizer Siedler:innen schon seit mehr als 100 Jahren ansässig und hätten die Region maßgeblich mitgeprägt. "Heute [sind sie] mit einem Konflikt konfrontiert, für den nicht sie verantwortlich sind, sondern für den die Grundlagen vor vier oder fünf Generationen geschaffen wurden." Grundlagen, die jedoch bis heute fort bestehen und auf denen auch diese unreflektierte Kompliz:innenschaften zwischen Schweizer Medien und Siedler:innen vor Ort beruht.

Rückblick: Für ein "weißes" Chile

Ende des 19. Jahrhunderts eroberte der chilenische Staat das Wallmapu. Militärisch ging er gegen die indigenen Völker vor Ort vor, ermordete eine große Anzahl von ihnen und verbannte die Überlebenden in Reservate.

Um das "neu" gewonnene Land zu besiedeln, brauchte der Staat neue Bewohner:innen. Übereinstimmend mit der rassistischen und eurozentristischen Denkweise jener Epoche wollte man Chile "weißer" und "europäischer" machen. Es wurden also verarmte europäische Bauern und Bäuerinnen im Wallmapu angesiedelt. Die nötigen Kosten für die Reise und das Land wurde zum Teil von den beteiligten Staaten übernommen. Die neuen Bewohner:innen bekamen zusätzlich ein kleines Startkapital zum Aufbau eines Gutshofs. Unter ihnen waren – je nach Quelle – bis zu 22.000 Schweizer:innen.

Die Siedler-Familien machten das Land "urbar". Die Wälder wurden gerodet, Straßen und Häuser wurden gebaut. Das Wallmapu wurde so unter anderem dank Schweizer Siedler:innen zur Kornkammer Chiles. Aus einigen Bauern und Bäuerinnen wurden Großgrundbesitzer:innen, die ihre Ländereien auf Kosten der Indigenen Bevölkerung erweiterten. Landraub durch Siedler:innen war Anfang des 20. Jahrhunderts an der Tagesordnung. Komplette Verarmung auf der einen und wachsender Wohlstand auf der anderen Seite waren die Folgen – die zwei Seiten der selben Münze – der Kolonialisierung des Wallmapus1.

Die Schweizer Siedler:innen bauten eigene Clubs auf, gründeten eigene Zeitungen und Schulen. Sie pflegten zudem Kontakte in die Schweiz und stellten deren Honorarkonsule. Die Schweizer Presse berichtet hin und wieder über ihre "Nachkömmlinge". So titelte das Oberländer Tagblatt im Jahr 1953 "Auslandsschweizer als Pioniere" und berichtete über die "Musterfarm für Getreidebau" einer Schweizer Familie im Wallmapu.

Reform und Gegenreform

Knapp hundert Jahre nach der Eroberung des Wallmapus, kam im Jahr 1964 ein Schweizer Nachfahre an die Spitze des chilenischen Staates. Eduardo Frei Montalva war ein christlicher Reformer, der Chile wirtschaftlich, politisch und sozial demokratisieren wollte. Er wuchs in der Hauptstadt Santiago auf und wurde durch die dortigen politischen Prozesse geprägt.

Unter anderem sagte er mit der Vertiefung der Agrarreform von 1961 dem Großgrundbesitz den Kampf an. Kein Gutshof durfte mehr als 80 Hektar Land besitzen, das Land sollte unter den Landarbeiter:innen verteilt werden. Betroffen waren auch die Nachfahren von Schweizer Siedler:innen im Wallmapu. Gerade die Mapuche profitierten von der Landumverteilung, erstmals seit der Kolonialisierung bekamen sie zumindest einen Teil des ihnen zuvor geraubten Landes zurück2.

Der Reformpräsident war in der Schweiz beliebt. Sein Kurs sollte die radikale Linke davon abhalten, weiter Stimmen zu gewinnen, Chile während des kalten Kriegs innerhalb der westlichen Hemisphäre halten und wirtschaftlich vorantreiben. Die Schweiz bewilligte der Regierung Frei großzügig Kredite und beide Länder gingen umfassende Handelsbeziehungen ein.

In diesen Jahren wurde auch das Sturmgewehr der Schweizer Firma SIG aus Neuhausen nach Chile exportiert und von den dortigen Streitkräften zur Ordonnanzwaffe erklärt. Auch die Radwagenpanzer der Mowag aus Kreuzlingen erlebten durch den Kauf durch das chilenische Militär und die Polizei ihren ersten Exportboom nach Lateinamerika.

Nachdem Frei daran gescheitert war, ein sozialistisches Regierungsprojekt zu verhindern, kam 1970 durch demokratische Wahlen Salvador Allende an die Macht. Dieser führte die Agrarreform von Frei weiter und erzürnte die westlichen Staaten mit der Verstaatlichung ausländischer Unternehmen – unter anderem auch der Nestlé in Chile.

Am 11. September 1973 putschte schließlich das Militär dank US-amerikanischer Hilfe und Schweizer Waffen gegen die demokratische Regierung Allendes. Bilder von Soldaten mit Sturmgewehren aus der Schweiz gingen um die ganze Welt. Die Schweizer Linke kommentierte: “Schweizerwaffen putschten mit”.

Auf den Putsch folgten politische Repression und neoliberale Reformen. Insbesondere die Agrarreform wurde während der Militärdiktatur auseinandergenommen. Im Wallmapu wurden die vormals gegründeten Genossenschaften zerschlagen und das Land entweder an die Großgrundbesitzer:innen zurückgegeben oder unter den Meistbietenden und Freund:innen der Diktatur verteilt.

Die Schweiz verhängte als Reaktion auf die Gewalt ein Waffenausfuhrverbot für Chile. Die Schweizer Waffenfirmen umgingen dieses jedoch in den 1980er-Jahren, indem sie das Know-How mitsamt Maschinen und einer Lizenz zur Produktion nach Chile verkauften. Bis heute werden in Chile Sig-Sturmgewehre und Mowag-Panzer hergestellt.

Der Konflikt im Wallmapu heute. "Alte" und "neue" Schweizer:innen

Im Zuge der Privatisierung des Landes während der Diktatur unter Augusto Pinochet kaufte sich ein weiterer Schweizer ins Wallmapu ein. Der Unternehmer Stephan Schmidheiny übernahm Mitte der 1970er Jahre rund 120.000 Hektar Land und baute das drittgrößte Forstunternehmen in Chile auf, Masisa.

Doch das Land kam nicht von nirgendwo. Die Mapuche meinten, es würde ihnen gehören. So reiste im Jahr 2004, Aucán Huilcamán, der Sprecher eines großen Bündnisses von Mapuche, dem Consejo de todas las tierras in die Schweiz und verhandelte mit Schmidheiny. Dieser willigte schlussendlich ein, alle unbepflanzten Ländereien zurückzugeben. Im Gegenzug sollten die Mapuche darauf verzichten, die Ländereien mit bereits bestehenden Forstplantagen zurückzufordern.

Die Bewegung der Mapuche erstarkte in den letzten Jahrzehnten und begann verstärkt gegen die Forstplantagen und andere Großgrundbesitzer:innen zu kämpfen. Durch gewisse Erfolge ermutigt fordern immer mehr Gemeinschaften ihre Ländereien zurück. Zum Teil besitzen die Mapuche sogar noch Eigentumstitel, die sogenannten títulos de merced und andere aus der vergangenen Agrarreform, die beweisen, dass ihnen das Land ehemals zugewiesen wurde und die jetzigen Besitzer:innen das Land widerrechtlich entwendet haben.

Trotzdem gibt es kaum ein Vorankommen. Rechtsverfahren laufen nur sehr schleppend und das staatliche Landverteilungsprogramm schafft kaum Abhilfe, da es mit einer viel zu kleinen Finanzkraft zu aufgeblasenen Preisen verfügbares Land aufkauft und verteilt.

Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, greifen vereinzelte Mapuche-Gruppierungen immer wieder zur Gewalt gegen die Maschinen der Großgrundbesitzer:innen. Dadurch sehen sich die reichen Familien in ihrer Existenz bedroht und pochen auf ihr Recht, das Land zu besitzen. Um den teils illegitimen Landbesitz zu rechtfertigen, werden dabei Mapuche oft im Rückgriff auf kolonial geprägte Stereotype als "faul" bezeichnet, da sie ihr Land nicht nach europäischen Vorstellungen bewirtschaften.

In diesem Kontext steht der Anschlag auf das Ehepaar Luchsinger-Mackay. Bis heute sind die wahren Hintergründe für den Anschlag unklar. Viel zu viele Fragen blieben im Rahmen des Gerichtsprozesses offen. Waren die Brandstifter:innen tatsächlich die dafür verurteilten Mapuche? War der Tod der Farmer:innen beabsichtigt oder ein Versehen? Was es gar ein familieninterner Streit, bei dem die Aktivitäten der Mapuche vorgeschoben wurden, um einen Mordanschlag zu vertuschen? Zumindest eines ist inzwischen sicher: Es hat nie Verbindungen zu "terroristischen Organisationen" aus Lateinamerika gegeben, wie damals auch die NZZ behauptete3.

Die Regierung von Sebastian Piñera militarisierte unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung das Wallmapu. Im Juni 2018 präsentierte Präsident Piñera das Comando Jungla, eine Sondereinheit bestehend aus in Kolumbien im Antiguerrillakampf ausgebildeten Polizist:innen. Dieses setzt auch Mowag-Panzer der neuesten Generation ein – hergestellt unter Lizenz in Chile – zur Bekämpfung einer Guerrilla, die es bis dato nicht nachweislich gibt.

Am 18. November 2018 erschoss ein Mitglied des Comando Jungla von einem Mowag-Panzer aus den Mapuche Aktivisten Camilo Catrillanca. Er war eine wichtige Persönlichkeit im Kampf für die Rückgabe von Ländereien und in diesem Moment mit seinem Traktor auf dem Weg zu seinem Feld. Der Mord löste landesweite Proteste aus. Der Polizist wurde im Januar 2021 zu 16 Jahren Haft verurteilt. Über die wahren Hintergründe des Verbrechens ist jedoch bis heute wenig bekannt.

Genau ein Jahr nach dem Mord veröffentlichte das Schweizer Fernsehen SRF einen Dokumentarfilm über den Konflikt der Mapuche und den Mord an den Luchsinger-Mackays. Der Film mit dem Titel "Kampf ums Land – Schweizer Siedler in Chile" reproduziert unreflektiert alte Klischees. Die porträtierten Mapuche werden als etwas komisch, gewaltverherrlichend und unwirtschaftlich dargestellt und den hart arbeitenden Schweizer Siedler:innen gegenübergestellt.

Ganz nebenbei erwähnt der Film den ständigen Polizeischutz, den die Familie Luchsinger bekommt – der Uniform nach zu urteilen dasselbe Kommando, welches Catrillanca ein Jahr zuvor ermordete. Hin und wieder erscheinen im Bild auch Aufkleber der APRA. Ohne die Aktionen dieser Organisation zu hinterfragen, werden deren Vertreter:innen interviewt, die klagen, man würde sie unrechtmäßig als rechtsextrem bezeichnen.

So reiht sich auch das SRF in eine lange Tradition der bürgerlichen Berichterstattung ein. Der Film zeigt Großgrundbesitzer:innen, die sich "einfach nur Frieden" wünschen. Sie werden so im Film zu Sympathieträger:innen, ohne dass ihre politische Machenschaften hinterfragt werden. Mit dem Tod des Ehepaars Luchsinger klar in Beziehung stehende wichtige Fakten und Ereignisse werden ausgeklammert. Und so wird auch der Mord an Catrillanca im Dokumentarfilm mit keinem Wort erwähnt.

Der Text ist für das chilenisch-schweizerische Kunstprojekt "Wallmapu Ex Situ" entstanden.

  • 1. Für mehr Informationen: Almonacid Z, Fabián. El Porblema de la Propiedad de la Tierra en el Sur de Chile. 1850-1930). Historia (Santiago) [online]. 2009, vol.42, n.1, pp.5-56. Zugänglich auf: . ISSN 0717-7194. .
  • 2. Für mehr Informationen: Martin Correa Cabrera. Raúl Molina Otárola. Nancy Yañez Fuenzalida. La Reforma Agraria y las tierras Mapuches: Chile 1962 – 1975. LOM Ediciones, Santiago de Chile 2005.
  • 3. Unter anderem berichtete amerika21 zu dem Thema. Über die regelmäßig auftretenden Anschuldigungen über Verbindungen der chilenischen Linken und Mapuche zu den Farc: El Desconcierto