Gegen Abtreibungsverbot und Patriarchat: Ecuadors indigene Feministinnen

Am meisten von Gewalterfahrungen betroffen sind die Frauen, die wirtschaftliche Ausgrenzung erleben. Sie werden diskriminiert durch Armut, Rassismus und Sexismus

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Seit Jahren kämpfen Frauen in Ecuador für freie und sichere Abtreibung
Seit Jahren kämpfen Frauen in Ecuador für freie und sichere Abtreibung

Seit Jahren kämpfen Frauen in Ecuador für das Recht auf freie und sichere Abtreibung. Im April 2021 erlebte die "grüne Welle" einen Durchbruch: Mit sieben zu zwei Stimmen entschied das ecuadorianische Verfassungsgericht für die Entkriminalisierung der Abtreibung nach einer Vergewaltigung. Illegale Abtreibungen in Ecuador werden mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft, bei Fehlgeburten wird vielfach dasselbe Strafmaß angewandt. Meist sind es arme, indigene und afro-ecuadorianische Frauen, die deswegen im Gefängnis landen. Der Sexismus innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaften macht es ihnen neben der allgemeinen staatlichen Diskriminierung zusätzlich schwer, offen Position zu beziehen.

Patricia Yallico ist Filmemacherin und indigene Aktivistin. In ihrem Programm Insurrectas/Die Widerständigen diskutiert sie mit Paolina Vercoutere vom Volk der Otavalo und Ana Cristina Vera, Mitarbeiterin der Initiative Surkuna, die sich für reproduktive Rechte und Abtreibung einsetzt. Insurrectas veröffentlicht regelmäßig Beiträge zu feministische Themen in den sozialen Netzwerken.

Abtreibung ist ein komplexes, kontrovers diskutiertes Thema. Die Argumente der Gegenseite speisen sich aus verschiedenen Faktoren: politischer Kurzsichtigkeit, inquisitorischen Moralvorstellungen, Unwissenheit und – was am gefährlichsten ist – strukturellem Sexismus. Auch 2021 haben Frauen immer noch nicht das Verfügungsrecht über ihren Körper. Die Kirche besteht darauf, über unser Leben entscheiden zu wollen, die rückwärtsgewandte Erziehung und ein großer Teil der Legislative stärken ihr dabei den Rücken. Und wer sind die Frauen, die heimlich abtreiben und im Gefängnis landen? Schwarze Frauen, mittellose, marginalisierte Bäuerinnen und natürlich wir, die indigenen Frauen. Auch bei uns gibt es Vergewaltigung: durch Priester, Polizisten, Onkel, Cousins, durch "Freunde" und Lebensgefährten. Täter und Institutionen schweigen dazu. Aber für uns ist die Zeit des Schweigens vorbei. Insurrectas diskutiert heute mit Paolina Vercoutere Quinche vom Volk der Otavalo und Ana Cristina Vera von der Organisation Surkuna. Herzlich willkommen!

Ana Cris, was ist los in Ecuador? Wie ist die aktuelle Lage, wie steht es um unseren Kampf, den wir seit langem gegen das Abtreibungsverbot führen?

Ana Cris: Das Verfassungsgericht hat es endlich für unrechtmäßig befunden, Schwangerschaftsabbrüche nach einer Vergewaltigung zu kriminalisieren und Überlebende sexueller Gewalt mit Gefängnis zu bestrafen. Das ist definitiv eine gute Nachricht. Denn an die Stelle der Verfolgung, der die Betroffenen und Überlebenden sexueller Gewalt in der Vergangenheit ausgesetzt waren, tritt nun diese Rechtsgarantie. Ich finde, dies ist ein wichtiger historischer Moment in der Geschichte Ecuadors. Doch hier schließt sich auch gleich die Frage an: Wie machen wir jetzt weiter? Denn das war sicher ein erster Schritt, und zwar ein großer, dringend notwendiger, aber jetzt müssen wir nachlegen. Uns weiter organisieren und weiter kämpfen. Unser Ziel heißt völlige Entkriminalisierung. Wir wollen das Recht auf freie Abtreibung für alle in diesem Land. Und wenn das erreicht ist, wird es immer noch jede Menge zu tun geben: die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern beenden, die wirtschaftliche Ungleichheit, den Kapitalismus und das Patriarchat abschaffen. Der Kampf geht also weiter.

Praktizieren wir indigene Frauen Abtreibung?

Paolina: Wir indigenen Frauen haben schon immer abgetrieben und wir werden auch immer abtreiben. Abtreibung hat immer zum Leben von Frauen gehört, und da bilden wir indigenen Frauen keine Ausnahme. Vielleicht ist das Thema bei uns mit noch mehr Tabus behaftet, das heißt, es wird noch weniger darüber gesprochen, und öffentlich erst recht nicht. Dass Abtreibung in Verbindung mit sexualisierter Gewalt nun kein Verbrechen mehr sein soll, sehen wir als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit, denn wie Ana sagt: Am meisten von Gewalterfahrungen betroffen sind die Frauen, die wirtschaftliche Ausgrenzung erleben und somit doppelt oder dreifach diskriminiert werden: Durch Armut, Rassismus und den in unseren Gemeinschaften fest verankerten Sexismus. Oft wird einfach ziemlich vage über kulturelle Eigenheiten geredet, ohne zu benennen, wie normal und alltäglich Gewalt bei uns ist.

Unsere Initiative hat schon viele Frauen begleitet und unterstützt, die abtreiben wollten, und es ist erschreckend und schmerzhaft, was wir da schon an Gewalt gesehen haben und wie die Ayllu, also die Dorfgemeinschaften, immer alles unter den Teppich kehren. Jetzt, wo sich in Ecuador endlich etwas ändert, können wir unsere Stimme erheben und sagen: Ja, die indigenen und die afro-ecuadorianischen Frauen haben in dieser Gesellschaft den schwierigsten Stand, wir sind die Verletzlichsten von allen, weil wir dieser Gewalt am meisten ausgesetzt sind, und deshalb ist für uns diese Gesetzesänderung besonders wichtig.

Abtreibung wird also bei Indigenen und nicht-Indigenen, in ländlichen Gemeinden und in schwarzen Communities praktiziert. Wird Abtreibung irgendwo grundsätzlich als Verbrechen betrachtet?

Ana Cris: Bei uns ist Abtreibung nur straffrei, wenn es darum geht, das Leben oder die Gesundheit der schwangeren Person zu retten, oder wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Früher kam Abtreibung nur bei geistiger Behinderung der schwangeren Person in Frage. Dabei ist Gesundheit ein weites Feld: Es gibt neben der physischen auch die psychische Gesundheit und die soziale Gesundheit, und entsprechend breit sollte auch die Akzeptanz gegenüber dem Thema Schwangerschaftsabbruch sein. Die Kriminalisierung der Abtreibung ist in unserem Land leider Realität, und genau dagegen kämpfen wir.

Tatsächlich sind zwar viele Menschen gegen Abtreibung, aber Gefängnisstrafe finden sie auch unangemessen. Ich denke, da müssen wir ansetzen. Wir fordern das Recht auf eine freie Entscheidung. Abtreibung darf nicht länger als Verbrechen behandelt werden, das Menschen stigmatisiert, denn das wirkt sich tatsächlich schädlich auf ihr Leben aus. Unabhängig davon, ob es zur Verurteilung kommt oder nicht: Es ist eine Beeinträchtigung ihrer Rechte, und genau das wollen wir ändern. Abtreibung muss entkriminalisiert werden, damit kein Mensch, der eine Entscheidung über die eigene reproduktive Praxis trifft, dafür verfolgt werden kann.

Was ich besonders schlimm finde: Unseren Statistiken zufolge sind die "Straftäterinnen" zu 70 Prozent sehr jung, zu 100 Prozent arm und mittellos, und zu einem sehr großen Teil Angehörige indigener und afro-ecuadorianischer Gemeinschaften. Das bedeutet: Die Kriminalisierung trifft sowieso nur einen ganz bestimmten Personenkreis. Von allen Frauen, die ich unterstützt habe, war keine einzige aus der Mittelschicht, geschweige denn aus der Oberschicht. Wer wird also von unserem Strafrecht verfolgt? Welche Körper sind wichtig? Welches Leben ist wichtig und welches nicht?

Ich denke, die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs beantwortet diese Frage ziemlich eindeutig. Denn natürlich bietet das Gesundheitssystem Zugang zu sicheren, wenn auch illegalen Abtreibungen, und zwar für alle, die es sich leisten können. Somit richtet sich die Kriminalisierung unverhältnismäßig stark gegen verarmte Menschen und diejenigen, die am wenigsten Zugang zu sozialen Ressourcen haben, dazu zählen auch Jugendliche aus der Mittelschicht, weil sie in ihrem Alter nicht die finanzielle Unabhängigkeit besitzen, um sich eine Abtreibung leisten zu können. Uns geht es um soziale Gerechtigkeit für alle.

Genau, du hattest es vorhin schon erwähnt: Es hat mit dem System zu tun, in dem wir leben. Ein patriarchales, kolonialistisches, kapitalistisches System. Würdest du dem zustimmen, dass es das System ist, das uns als Frauen, als indigene und verarmte Frauen, unterdrückt?

Ana Cris: Auf jeden Fall. Ich denke, das liegt auf der Hand. Dieses System ist dazu bestimmt, Menschen gezielt zu unterdrücken und auszugrenzen. Ich glaube nicht, dass es bei der Kriminalisierung von Abtreibung wirklich um den Schutz des Lebens geht, wie immer behauptet wird, sondern um die wirtschaftliche, politische und moralische Kontrolle über die Bevölkerung, insbesondere über bestimmte Teile der Bevölkerung. Die Kriminalisierung von Abtreibung ist eine zusätzliche Strategie des Kapitalismus, des Patriarchats und des Kolonialismus, um unsere Körper und unsere Entscheidungen zu kontrollieren. Silvia Federici schildert sehr anschaulich, wie beim Übergang zum Kapitalismus Mechanismen zur Kontrolle der Reproduktion eingeführt wurden. Patriarchat, Kapitalismus und die Kriminalisierung der Abtreibung hängen zusammen, das steht mal fest.

Paolina, würdest du sagen, das mit den Lebensschützern und Provida und so ist nichts weiter als ein scheinheiliger Vorwand, den die Kirche sich ausgedacht hat?

Paolina: Ich denke, dass wir es hier mit einer ziemlich alten Kultur zu tun haben, die uns seit Jahrhunderten ihrer Doppelmoral unterwirft. Meinst du nicht auch? Auf der einen Seite haben wir in Lateinamerika, wie soll man sagen…, Gesellschaften, die noch immer kolonial geprägt sind, das gilt besonders für Ecuador. Der rassistische Staat verwehrt seiner Bevölkerung das Recht auf Andersartigkeit, auf kulturelle Unterschiede, er verweigert ihr die Möglichkeit, ihre Vielfalt zu leben. Er grenzt die Hälfte seiner Bevölkerung aus, nämlich die Frauen und insbesondere indigene und afro-ecuadorianische.

Der demokratische Diskurs soll darüber hinwegtäuschen, dass hier eine Moral herrscht, die bestimmte Dinge erlaubt und andere nicht. Gegenüber Rassismus und Armut ist man beispielsweise tolerant. Wenn wir hier in Ecuador Rassismus anprangern, heißt es: "Ok, ja, aber seid bitte nicht so nachtragend! Kommt darüber hinweg! Das ist 500 Jahre her, wir müssen nach vorne schauen". Dabei leben wir nach wie vor in einem kolonialen rassistischen Staat. Man muss nur ein bisschen am Lack kratzen, und schon ist er da, der Rassismus. Er ist allgegenwärtig, wenn auch unterschwellig. Das meine ich mit Doppelmoral, mit Scheinheiligkeit, und die kommt beim Thema Abtreibung voll zum Ausdruck, denn hier geht es um den Körper der Frau. Und das nicht nur in unserer Kultur, sondern überall auf der Welt. Dieses Schweigen, dieses Nicht-Thematisieren ist genauso strukturell, das strukturelle Schweigen sozusagen.

Du hattest vorhin erwähnt, dass ihr Begleitung bei Abtreibungen nach einer Vergewaltigung macht. Magst du darüber sprechen, was es für euch bedeutet, diese Arbeit zu machen?

Paolina: Wir begleiten derzeit den Fall eines jungen Mädchens, der uns ziemlich mitnimmt. Und da zeigt sich auch wieder, wie unkonkret doch der Begriff des plurinationalen Staats ist. Und wir Frauen müssen uns genauer überlegen, wie wir unsere Positionen in die kommunale Justiz, in das, sagen wir mal, schlecht durchdachte indigene Rechtssystem einbringen können, weil es in seiner derzeitigen Form nämlich viele Rechte von Frauen und Mädchen verletzt. Wie ihr ja wisst, werden die meisten Vergewaltigungen innerhalb der Familie begangen, und da lässt die indigene Justiz uns buchstäblich hängen. Sie betrachtet uns nicht als gleichwertige Rechtssubjekte, mutet uns Reviktimisierung zu und bietet uns nichts an, was in irgendeiner Weise mit Entschädigung zu tun hat.

Und das andere Justizsystem, das offizielle, rassistische Justizsystem hört uns nicht zu und stellt sich taub gegenüber Frauen, die arm sind und nicht gut Spanisch sprechen. Das ist das Dilemma: Keins der beiden Rechtssysteme hört uns zu oder zieht Entschädigung in Betracht. Das wollen wir sichtbar machen. Wir wollen, dass die indigene Justiz auch für unsere Interessen eintritt. Dass sie unsere Rechte als Frauen respektiert und garantiert, dass sie Entschädigungen für uns vorsieht, und zwar nicht auf Kosten der kollektiven Rechte, die uns alle schützen.

Ana Cris, ich würde gerne über dieses Klischee reden, dass wir es uns jetzt, wo das Recht auf Abtreibung nach einer Vergewaltigung eingeführt wurde, alle Sorgfalt fallenlassen und nach Herzenslust abtreiben. Was bedeutet es abzutreiben? Nur, damit die Leute eine bessere Vorstellung davon bekommen.

Ana Cris: Stimmt, es ist echt wichtig, dass den Leuten klar wird, was das heißt, eine Abtreibung vornehmen lassen. Wenn du ungewollt schwanger wirst, ist es ziemlich schwer, die richtige Entscheidung zu treffen. Im Prinzip kannst du das Kind austragen und es behalten oder es zur Adoption freigeben oder eben eine Abtreibung vornehmen. Und niemand wird diese Entscheidung auf die leichte Schulter nehmen. Es ist eine komplexe Lage, denn du bist schwanger, obwohl nichts in dir das wollte. Die Entscheidung erfordert viel Nachdenken und bringt uns in die Situation, wissen zu müssen, was wir im Leben wollen und welche Konsequenzen unsere Entscheidungen haben. Nur wir selber können diese Entscheidung treffen, weil wir am besten über unser Leben Bescheid wissen.

Was die Gesellschaft uns schuldet, ist das Vertrauen, dass wir den Vorwurf der sexuellen Gewalt nicht benutzen. Statt dessen überzieht sie uns mit Verdächtigungen und stereotypen Bildern. Für sie sind wir Gebärmaschinen. Höchste Zeit, dass das aufhört und dass sie stattdessen anfangen, uns als gleichwertige Rechtssubjekte anzuerkennen.

Schau dir den Diskurs über Abtreibung an: Offensichtlich trauen sie uns nicht zu, dass wir richtig handeln oder die richtigen Entscheidungen treffen, was unsere Sexualität oder unser Leben betrifft. Dieser Diskurs hat keinen wirklichen Bezug zu dem hat, was wir Frauen sind und wie wir leben.

Höchste Zeit auch, dass wir die Stereotypen über uns, über unsere Entscheidungen und über unsere Sexualität entmystifizieren. Räume schaffen, um unsere Forderungen zu entwickeln. Um eine Entscheidung zu treffen, die dein gesamtes weiteres Leben betrifft, brauchst du einen bestimmten Freiraum. Schlussendlich sind wir es, die schwanger werden, die sich kümmern und die gebären.

Paolina: Wie Ana schon sagt, in der Gesellschaft herrscht die Vorstellung, dass wir gedankenlos und unbesorgt abtreiben würden, sie nennen uns zügellos und was weiß ich nicht noch alles. Nicht seit jetzt, sondern seit Jahrhunderten. Deshalb ist es ganz wichtig, bei indigenen und afro-ecuadorianischen Frauen Überzeugungsarbeit zu leisten, damit sie keine Angst haben, die Gesundheitsdienste aufzusuchen.

Wie stellen wir uns dem Rassismus entgegen, der im Gesundheitssystem herrscht? Das ist eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen. Wenn wir nicht wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann müssen wir über diese Dinge sprechen.

Wir, und damit meine ich vor allem indigene Frauen, haben Angst, zu den Untersuchungen zu gehen, weil wir uns schämen, uns Verhütungsmittel verschreiben zu lassen, da die Kultur sich am männlichen Stereotyp orientiert. Die Mitarbeiterinnen in den Gesundheitszentren erzählen immer, wie schwer es ist, die Frauen dazu zu kriegen, dass sie das Untersuchungs- und Beratungsangebot nutzen. Und jetzt, aufgrund der Pandemie, noch viel weniger, weil auch die Mobilität stärker eingeschränkt ist und der Zugang zu Verhütungsmethoden erschwert wird. Wir sehen, dass es viele Hindernisse gibt, nur um Zugang zu Verhütung zu bekommen. Wenn das in der ecuadorianischen Gesellschaft schon ein Problem ist, kann man sich ja vielleicht vorstellen, wie tabuisiert der Zugang zu einer Abtreibung ist. Nur im Falle einer Vergewaltigung, von anderen Fällen ganz zu schweigen. Es gibt etliche Fragen im Bereich der Sexualerziehung, die geklärt werden müssen, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit den Fortpflanzungsorganen. Wir brauchen einen alltäglichen Umgang mit diesen Themen. Hier wäre dann auch der plurinationale Staat gefordert, den wir aufbauen möchten. Und es fehlt in den Organisationen völlig, wenn es darum geht, über diese Probleme zu sprechen, die uns in unserem täglichen Leben, im Körper der Frauen, wirklich betreffen.

Ich habe hier darüber bereits gesprochen, sie sagen, es gibt sie nicht. Es gibt auch keine Schwulen, keine Lesben, bei den indigenen Völkern existieren sie nicht.

Paolina: Es gibt keine Abtreibung, wir befinden uns in einer Seifenblase, und wir sind alle schön, wir ergänzen uns ...

... oder sind verrückt, und jetzt sind wir nicht nur verrückt oder Huren, jetzt sind wir Abtreiberinnen.

Paolina: Auch noch Abtreiberinnen...

Ana Cris, der Staat, die Legislative, die Justiz – alle tun sich schwer damit zu verstehen, dass freie, sichere und kostenlose Abtreibung notwendig ist. Ana, warum, denkst du, ist das so?

Ana Cris: Weil es da um die Dekonstruktion einer der Grundlagen des patriarchalen kapitalistischen Staats geht, nämlich um die Unterordnung der Frauen unter die Männer. Der Staat will die Kontrolle über unsere Reproduktionsfähigkeit. Wenn mehr Menschen gebraucht werden, müssen wir mehr produzieren, und wir sind für die kostenlose Produktionssteigerung verantwortlich. Werden weniger Menschen gebraucht, sollen wir Verhütungsmittel benutzen oder dürfen (in bestimmten Fällen) sogar abtreiben.

Der staatliche Kontrollanspruch auf unsere Gebärfähigkeit wird auf die Familienoberhäupter ausgedehnt. Deshalb ist es so schwierig, über dieses Thema offen zu sprechen. Ich glaube, mit der Unterwerfung der Frau innerhalb der Familie wurde ein Machtverhältnis geschaffen, das die Grundlage des Nationalstaats bildet. Die Kontrolle der Fortpflanzung ist darin ein ganz grundlegender Aspekt.

Der Staat geht dabei von einem Frauenbild aus, das uns verschiedene Fähigkeiten abspricht, z. B. die Autonomie unserer Körper, die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu begreifen und Forderungen zu stellen, die gut für uns sind, wie die nach Veränderung der soziokulturellen Schemata. Indem wir das alleinige Verfügungsrecht über unsere Reproduktionsfähigkeit einfordern, stellen wir das gesamte patriarchale Konstrukt in Frage.

Warum verstehen unsere männlichen Genossen in den bäuerlichen und den afro-ecuadorianischen Gemeinden eigentlich nicht, warum freie Abtreibung und sexuelle Aufklärung so wichtig sind? Gender und sexuelle Vielfalt ist auch so ein Thema, das in unseren Communities unheimliche Schwierigkeiten bereitet. Darüber würde ich gern ein anderes Mal sprechen. Paolina, du hast in deinem Kollektiv jahrelang Erfahrungen gesammelt. Was kannst du für Entwicklungen feststellen? Was gibt es für Tendenzen?

Paolina: Ich denke, dass es in unseren Kulturen eine ziemlich starke Tendenz gibt, bestimmte Themen auszusparen, um die Gemeinschaft nicht zu gefährden. Und statt die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zu thematisieren, haben wir uns bei unserer politischen Arbeit auf andere Sachen konzentriert, ethnische Fragen zum Beispiel.

Ich würde sagen, auch bei uns gibt es ziemlich viel Doppelmoral und Heuchelei, es wird viel über Geschlechtergleichheit geredet und darüber, wie gut wir einander ergänzen. In der Sprache wird zum Beispiel versucht, ziemlich viel davon umzusetzen, auch in anderen Bereichen, sogar in ökonomischen Fragen, aber bei der politischen Beteiligung und bei der Kontrolle über unsere Körper herrscht ein völliges Defizit.

Ich glaube, der Verlust unserer Gleichberechtigung und dass wir nicht einfach mit Männern als Genossen zusammenarbeiten können, sind Spätfolgen der Kolonisierung. Unsere politische Entfaltung ist blockiert. Aber wenn wir unsere Stimme nicht nutzen, überlassen wir den Männern komplett das Feld.

Was wäre euer Schlusswort? Ana Cris?

Ana Cris: Nun, ich denke, wir müssen immer noch dafür kämpfen dass dieses Mindestrecht, legale Abtreibung nach einer Vergewaltigung, allen Frauen ohne Einschränkungen zugestanden wird. Und dann muss es natürlich weitergehen. Alles, was wir haben, mussten wir uns erkämpfen. Geschenkt haben sie uns überhaupt nichts. Und um weiter zu kämpfen, müssen wir uns organisieren. Wir kämpfen nicht nur für die Entkriminalisierung der Abtreibung, sondern für eine bessere und gerechtere Welt für alle. Wir wollen eine Welt ohne Kapitalismus, ohne kolonialistisches, heterosexistisches Patriarchat.

Paolina, was heißt das für unsere Organisationen, die indigenen, bäuerlichen und afro-ecuadorianischen Strukturen?

Paolina: Du meinst wahrscheinlich, was das nun für Warmi Pacha bedeutet, die Zeit der Frauen. Ich denke, wir müssen aufmerksam bleiben, mit unseren feministischen Genossinnen, in unseren politischen Zusammenhängen, und die Diskussion über diese Themen einfordern. Jetzt geht es vor allem darum zu sehen, wie die neue Abtreibungsregelung in einem Staat mit so vielen strukturellen Barrieren umgesetzt wird. Ecuador ist immer noch kolonial geprägt, es ist ein rassistischer Staat. Dieser Staat muss sich öffnen, damit auch indigene und afro-ecuadorianische Frauen in den Genuss ihrer Rechte kommen.

Ich denke, der richtige Moment, um uns einzumischen, politisch aktiv zu werden, ist gekommen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Und wir müssen wachsam bleiben, damit wir unsere Forderungen durchsetzen können. Die Frage der Geschlechtergleichberechtigung entscheidet sich nicht zuletzt beim Verfassungsgericht. Wenn wir eine gerechtere Gesellschaft, eine respektvolleren Umgang miteinander und auch mit der Natur wollen, müssen wir jetzt dranbleiben.

Vielen Dank, liebe Genossinnen. Zum Abschied eine herzliche Umarmung und alles Liebe für euch. Wir treffen uns im Kampf auf der Straße und in den virtuellen Räumen, wo wir auch einiges bewirken werden. Vielen Dank für eure Zeit und für eure liebevolle Mitarbeit.

Ana Cris: Vielen Dank auch von uns. Wir sehen uns auf der Straße.