Kolumbien / Politik

a21 Spezial Kolumbien: Die vielen Dissidenzen der Farc-EP

Drei Aktivisten aus dem Cauca analysieren die aktuelle Konfliktkonstellation in der Region

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Am 29. August 2019 verlas Iván Marquez das Manifest zur Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes
Am 29. August 2019 verlas Iván Marquez das Manifest zur Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes

Ein Sprecher der Partei Comunes, ein Indigenen-Anführer und ein internationealer Beobachter berichten exklusiv für amerika21

Fünf Jahre Friedensabkommen in Kolumbien: Armut, Gewalt und Drogenhandel

Eine allgemeine Analyse des Konflikts in Kolumbien – fünf Jahre nach Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens - Volksarmee (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia - Ejército del Pueblo, Farc-EP) und der damaligen Regierung von Juan Manuel Santos – ist kaum möglich. Der Bürgerkrieg hat zu viele Facetten und Akteure, ist regional sehr unterschiedlich und zudem befindet sich Kolumbien im November 2021 an einem Scheidepunkt, an dem sich viele der Beteiligten erst positionieren bzw. ihre Position zu erkennen geben.

Ein halbes Jahr vor der Parlamentswahl im März 2022 und der Präsidentschaftswahl im Mai 2022 wird deutlich, welche Akteure mit welchen Interessen mit wem zusammen agieren. Notwendig sind daher konkrete Analysen der vielen einzelnen Konstellationen. Dies ist weitaus erkenntnisbringender als von einem einzigen gesamten Konflikt auszugehen.

Verallgemeinern lassen sich lediglich drei Beobachtungen, die landesweit parallel verlaufen:

Erstens, wie im ganzen Land geht es auch hier im Südwesten Kolumbiens um die Kontrolle des Drogenhandels und die Einnahmen aus dem illegalen Geschäft, vor allem mit Kokain. Laut Statistiken der Vereinten Nationen kommen mittlerweile über 70 Prozent des Kokains weltweit aus Kolumbien.

Dazu kommt, zweitens, dass auch die allgemeine Gewalt überall im Land dramatisch zunimmt. Unabhängig von dem bewaffnet-politischen Konflikt, werden in allen Regionen immer mehr gewalttätige Raubüberfälle und Morde gemeldet, massive Eskalationen von Gewalt sind Alltag. Beobachter behaupten, dass Kolumbien wieder wesentlich gefährlicher ist als in den letzten über zehn Jahren. Eine unserer Hypothesen ist, dass dies vermutlich von staatlicher Seite gewollt ist oder zumindest nicht verhindert wird. Denn mit Hinblick auf die anstehenden Wahlen lässt sich mit der ausufernden Gewaltwelle eine Politik der harten Hand rechtfertigen und die Gewinnchancen der ultrarechten Politiker steigen. Offensichtlich ist, dass kriminelle Banden ganze Viertel in den Städten übernehmen, während die Polizei dabei zusieht, ebenso wie Paramilitärs oder Dissidenten der Farc in ländlichen Räumen die Bevölkerung terrorisieren, ohne dabei von staatlichen Kräften behelligt zu werden.

Die Vermutung liegt also nahe, dass der Staat diese Dynamiken billigend in Kauf nimmt, zulässt oder sogar direkt fördert. Sicher ist, dass den rechten und konservativen Kräften das Chaos, die enthemmte Gewalt und die Verschiebung der Akteure in die Hände spielt.

Und drittens rollt eine Welle der Armut über Kolumbien, die Statistiken ähneln sich landesweit. Heute leben 42 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Weitere 30 Prozent gelten als wirtschaftlich vulnerabel. Das oberste eine Prozent der Bevölkerung verfügt über etwa 40 Prozent des Vermögens. Das staatliche Statistikamt (DANE) bestätigte, dass die Armut in Kolumbien von 35,7 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2019 auf 42,5 im Jahr 2020 gestiegen ist. Dafür ist nicht nur die wirtschaftliche und soziale Krise aufgrund der Corona-Pandemie verantwortlich.

Bis November 2021 hat das Friedensabkommen keinerlei relevanten Einfluss auf die Lösung der grundlegenden Probleme ausgeübt: Vor allem die massive Armut und der Drogenhandel sowie die daraus entstehenden unterschiedlichsten Formen der systematischen Gewalt nehmen drastisch zu. Auf allen Seiten fehlt es an politischem Willen, diese Probleme grundlegend zu lösen. Statt also an deren Minderung zu arbeiten, mischen staatliche Kräfte in den lokalen Konflikten mit sowie vor allem die unterschiedlichen abtrünnigen Dissidenz-Gruppen. Von diesen sollen im Folgenden einige Beispiele genauer analysiert und eingeordnet werden.

Rückblick: Friedensabkommen und Demobilisierung

Nach mehreren Jahren der Verhandlungen zwischen Farc-Guerilla und Regierung wurde im September 2016 der Friedensvertrag unterzeichnet. Dieser wurde daraufhin in einer Volksabstimmung abgelehnt, die Gegner:innen des Abkommens hatten eine kleine Mehrheit von 50,21 Prozent mobilisiert, gegenüber 49,79 Prozent der Stimmen für das Abkommen. Daraufhin wurde es unter Einbeziehen vor allem der Gegner:innen, also der rechten Parteien, modifiziert und schließlich im November 2016 ohne neue Abstimmung von Parlament und Senat für wirksam erklärt.

Ab Januar 2017 begaben sich 6.804 Farc-Mitglieder in die Demobilisierungszonen. Auch meldeten sich 2.256 bis dahin klandestin als Farc-Sympathisanten fungierende Personen zur Teilnahme am Prozess an und rund 1.000 Farc-Mitglieder wurden aus den Gefängnissen in die Demobilisierungszonen entlassen.

Bis Januar 2020 wurden insgesamt 13.185 ehemalige Farc-Mitglieder als demobilisiert anerkannt.

Alle hatten Anspruch auf eine monatliche finanzielle Hilfe in Höhe von 90 Prozent des kolumbianischen Mindestlohns für zwei Jahre, diese Zahlungen wurden mehrfach verlängert. 98 Prozent der Demobilisierten wurden in das staatliche – stark defizitäre – Gesundheitssystem aufgenommen. Bis März 2020 nahmen 5.224 ehemalige Kämpfer, davon 25 Prozent Frauen, an Bildungsprogrammen teil. 900 Demobilisierte wurden als Leibwächter ausgebildet, um bedrohte oder hochrangige ehemalige Guerillakämpfer zu schützen.

Anfang 2020 lebten noch 2.757 ehemalige Kämpfer in den 24 ehemaligen Demobilisierungszonen, dazu weitere 1.200 Personen, die keine Kämpfer:innen waren, davon rund 900 Kinder. Die meisten der ehemaligen Guerilleros arbeiten heute in der Landwirtschaft, im Handel und Tourismus, einige sind Teil von humanitären Minenräumungsprogrammen oder wurden als Naturparkwächter ausgebildet. Im März 2020 arbeiteten zudem 767 ehemalige Kämpfer, darunter 146 Frauen, als Leibwächter innerhalb der Nationalen Schutzeinheit des Innenministeriums (UNP).

Um die politische Teilnahme der Demobilisierten in demokratischen Strukturen zu garantieren, gründeten die ehemaligen Guerilleros im August 2017 die Partei "Alternative revolutionäre Kraft des Volkes" (Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común, Farc). Am 24. Januar 2021 änderten sie offiziell ihren Namen in "Comunes", um naheliegende Assoziationen mit der Guerilla zu vermeiden. Laut Vereinbarung im Friedensabkommen bekam die Farc-Partei für zwei Legislaturperioden je fünf Sitze im kolumbianischen Repräsentantenhaus und fünf Sitze im Senat garantiert.

Demobilisierte im Norte del Cauca

Zunächst ist wichtig zu erwähnen, dass nicht alle Personen, die die Waffen abgegeben haben, dann auch an den Wiedereingliederungsprogrammen teilgenommen haben. Waffenabgabe und Reintegration in das Zivilleben sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe.

Im Norte del Cauca haben sich viele der Demobilisierten nach der Abgabe der Waffen und damit der Erlangung von legalen Ausweispapieren vor allem um ihre individuelle Lage in zwei Aspekten gekümmert: sowohl ökonomisch als auch die Sicherheit betreffend. Bereits vorhandene Kontakte, teils zur Familie, teils aber auch zu Strukturen des Drogenhandels, wurden genutzt, um sich einen Alltag in der prekären wirtschaftlichen Lage aufzubauen. Viele sind von Armut betroffen, versuchen sich über Wasser zu halten und sind teils auch für den Unterhalt ihrer Familien verantwortlich.

Dazu kommt die extreme Gefahrenlage für viele der Ex-Kämpfer:innen: Im Norte del Cauca kontrollierte die Farc-EP vor ihrer Demobilisierung den Handel mit Marihuana und die Transportrouten von Drogen über den Fluss Micay zur Pazifikküste – sie hatte sich Feinde nicht nur in kriminellen Strukturen eingehandelt. Dieser Bedrohung ohne Waffen zu begegnen, war und ist sicher eine der dringenden Herausforderungen in dieser neuen Lebenslage.

Landesweit sind alleine 2021 bereits 43 Demobilisierte ermordet worden, seit Abschluss des Friedensvertrages sind mehr als 200 ehemalige Guerilleros verschwunden oder getötet worden, davon ein großer Teil im Cauca und Valle del Cauca. In der Mehrzahl der Fälle waren also diese Interessen vorwiegend und dann wurde zweitrangig über die politische Partizipation oder den sozialen Zusammenhalt als revolutionäre Subjekte nachgedacht.

Resultat dieser Notlage ist unter anderem, dass heute die ehemaligen Kämpfer:innen im Norte del Cauca in keiner sozialen oder politischen Bewegung nennenswert aktiv sind oder politische Relevanz für das soziale Geschehen haben. Die Partei Comunes (so wie ihr Vorgänger, die Farc-Partei) spielt hier im ländlichen und urbanen Raum keine wichtige Rolle.

Gleichzeitig versuchen sowohl die Demobilisierten als auch die Dissidierten und die Segunda Marquetalia, für ihre Reihen zu mobilisieren und zu rekrutieren. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass die unterschiedlichen Dissidenzen keine kohärente Gruppe bilden. Nach einem offiziellen Bericht des Instituts für Friedensstudien (Indepaz) vom Oktober 2021 sind die dissidentischen Gruppen landesweit in mehr als 34 unterschiedlichen Strukturen organisiert und verfügen insgesamt über mehr als 5.200 Kämpfer:innen. Andere Berichte jedoch sprechen von weit mehr als 7.000 aktiven Mitgliedern. Wir schätzen auf mindestens das Doppelte. Wie viele es landesweit tatsächlich sind, ist schwer zu bestimmen. Auch vor dem Hintergrund, dass es während des über 50-jährigen Bestehen der Farc-EP immer wieder Dissidenten und Abspaltungen gab und bis heute gibt – einige davon beanspruchen, die Farc zu repräsentieren. Im Folgenden betrachten wir die im Norte del Cauca aktiven dissidentischen Gruppen genauer.

Dissidenz: Abtrünnige und Revolutionäre

Der Norte del Cauca war vor dem Friedensabkommen 2016 stets eines der wichtigen Einflussgebiete der Farc-EP – neben vielen guten Beziehungen zu Sympathisant:innen und unterstützenden Strukturen befanden sie sich hier aber auch fortwährend im Konflikt mit Indigenen und Afrokolumbianer:innen. Dies gründet vor allem darin, dass die Indigenen und Afros ihre Selbstverwaltung gegen den Staat durchsetzen und ihre Autonomieregionen regieren, also territoriale Kontrolle über ihre indigenen "resguardos" beziehungsweise die afrokolumbianischen "territorios ancestrales" ausüben. Genau das strebte aber auch die Farc-EP in der Region an, um sowohl den Anbau von Marihuana zu kontrollieren als auch Revolutionssteuern zu erheben. Dieses lukrative Geschäft hatten einige Strukturen der Farc-EP nie aufgegeben und haben sich nur scheinbar demobilisiert. Das von vielen Beobachter:innen beschriebene "Machtvakuum" gab es hier nie.

Vielleicht die einflussreichste – weil größte – Gruppe im Cauca ist die Dissidenz um den Kommandanten Gentil Duarte, die sich bereits vor der Unterzeichnung des Friedensabkommens der Demobilisierung verweigerte. In der Folge schlossen sich verschiedene unabhängige Dissidentengruppen an. Im Juni 2016 erklärten sie in einem Kommuniqué: "Wir haben beschlossen, uns nicht zu demobilisieren, wir werden den Kampf für die Machtergreifung durch das Volk und für das Volk fortsetzen." Am 4. Mai 2017 entführten sie einen Beamten des Programms zur Substitution illegaler Kulturen, um ihre Kontrolle des Anbaus von Kokablättern und der Herstellung von Kokain in klandestinen Labors zu manifestieren. Dieser Gruppe steht vermutlich die Guerrilla Unida del Pacifico nahe, hinter der sich Überreste verschiedener Farc-EP-Fronten vereinen. Sie streiten vor allem um die Macht in Miranda, Corinto und Toribío an der Grenze zum Departamento Valle del Cauca, dem "Triángulo del Cannabis". Sie kontrollieren auch den Drogentransport über den Fluss Micay zur Pazifikküste.

Die heute agierende Farc-Dissidenz ist im Norte del Cauca eine immer größer werdende militärisch strukturierte Gruppe, die sich also einerseits aus den nie demobilisierten Strukturen sowie andererseits aus den ehemaligen und vom Friedensprozess enttäuschten Ex-Kämpfer:innen speist, der sich aber nun außerdem zunehmend Kriminelle anschließen.

Dazu kommen – und das ist besonders und merkwürdig – unter den Neurekrutierten eine große Mehrheit junge Indigene. Das führt zu unterschiedlichen Spannungen, wie weiter unten genauer analysiert wird. Die Dissidenzen haben das illegale Geschäft wiederaufgenommen, streiten wieder um die Kontrolle unterschiedlicher Regionen, haben sich wiederbewaffnet. Dies alles geschah und geschieht unter den Augen der staatlichen Kräfte wie Polizei, Militär und lokalen Regierungen. Laut internen Quellen versuchen diverse Gruppen, sich zu politisieren und ihren neuen Mitgliedern politische Schulungen zu geben, allerdings ist dies wegen des akuten Konflikts kaum möglich. Zudem braucht die Dissidenz aufgrund der massiven Auseinandersetzungen schnell neue Leute und tendiert daher zu übereilten Rekrutierungen von jungen Männern ohne Ausbildung und ohne diese ordentlich vorbereiten zu können.

Und nun, nach dem gescheiterten Friedensprozess, kommen Stück für Stück auch die zwar Demobilisierten, aber aus den Übergangslagern weggegangenen Ex-Kämper:innen zurück. Diese Gruppen stoßen unumgänglich wieder mit den Indigenen und Afros zusammen, denn sie versuchen wieder die regionale Macht zu übernehmen – die sie allerdings hier nicht dem Staat streitig machen, sondern eben den Selbstverwaltungsgebieten, in denen die traditionellen Autoritäten regieren. Die verschiedenen Gruppen von Dissident:innen sind untereinander zwar vernetzt, folgen aber keinem gemeinsamen Kommando, was sie nur sehr schwer ansprechbar macht. Versuche mit ihnen zu verhandeln sind häufig gescheitert. Zudem sind sie kein verlässlicher Partner, sie brechen Abkommen und haben keine nach außen zuverlässigen Prinzipien. Auch kollaborieren sie mit den unterschiedlichsten kriminellen Strukturen, nicht zuletzt auch mit paramilitärischen Banden und internationalen Drogenkartellen.

Konkret bedeutet dies für den Norte del Cauca:

- Die Dissident:innen wollen die Autorität in der Region sein, kommen damit unweigerlich mit den traditionellen Autoritäten der Region in Konflikt.

- Sie versuchen, sich sowohl wirtschaftlich als auch militärisch in der Region zu etablieren, um die Kontrolle zu übernehmen.

- Sie verteidigen sowohl illegale als auch legale Wirtschaftszweige, die ihnen nahestehen, sind also nicht nur im Drogenhandel aktiv, sondern auch Handlanger für Großgrundbesitzer. Jedoch sind nicht alle Dissident:innen in den Drogenhandel verstrickt.

- Sie mischen sich in interne Angelegenheiten der Autonomiegebiete ein, mengen bei sozialen Konflikten mit, schöpfen junge, frustrierte Indigene ab, diffamieren traditionelle Autoritäten, säen Unmut gegenüber den Cabildos und Consejos Comunitarios. Sie setzen Gerüchte über Korruption und Misswirtschaft in Umlauf. Dann stellen sie sich aber auch teilweise auf die Seite der traditionellen Autoritäten, um ihnen Macht abzutrotzen.

- Sie kassieren Schutzgeld und erpressen, was es für viele Menschen ökonomisch unmöglich macht, in der Region zu bleiben. Nicht zuletzt dies führt zu massiven, aber langsamen Vertreibungen.

- Die Dissidenz hat keine klare politische Linie, einige nennen sich selbst weiterhin "Farc-EP" oder "Guerilla", aber sie haben keine politischen Prinzipien. Teilweise nutzen sie den Diskurs der Farc, um sich öffentlich "auf die Seite des Volkes" zu schlagen und sich gegenüber der Regierung als deren Feind zu stilisieren. Dann wieder agieren sie allerdings vollkommen willkürlich eben gegen dieses Volk. Daraus folgt für die sozialen und politischen Akteure der Region allerdings ein Vorteil: Wenn Dissident:innen sich selbst als politischen Akteur darstellen, macht sie dies ansprechbar und anfällig für politischen oder moralischen Druck. Auf dieser Ebene versuchen soziale Bewegungen nun, diesen Gruppen klare Bedingungen zu stellen. Sie fordern von ihnen, sich verantwortlich zu zeigen für ihr Handeln, sich an Absprachen zu halten und Menschenrechte zu achten, bzw. Zivilpersonen nicht anzugreifen. Zudem werden die Dissident:innen aufgefordert, ihre politische Agenda öffentlich kenntlich machen. Denn wenn sie politische Akteure sind – oder sein wollen – sollten sie klare Positionen beziehen. Wenn sie sich also weiterhin auf der Seite des Volkes stellen, sollten sie die Regierung und nicht das Volk bekämpfen.

Politisch klar positioniert ist allerdings seit ihrer Gründung eine andere große Gruppe von Dissident:innen: die Segunda Marquetalia.

Segunda Marquetalia

Seit Beginn der Parteigründung ist die Partei Comunes (ehemals Farc-Partei) durch diverse Krisen und Spaltungen gegangen. Nicht zuletzt als der ehemalige Farc-EP-Kommandant und Parlamentsabgeordneter der neugegründeten Partei, Iván Márquez, zusammen mit rund zwanzig weiteren Parteikadern im August 2019 ankündigte, die Waffen wiederaufzunehmen. So hat sich die Segunda Marquetalia abgespalten und erneut bewaffnet.

Die Gruppe um Iván Márquez, El Paisa, Romaña und (dem verstorbenen) Jesús Santrich beansprucht für sich, die wahren Ziele der Guerilla zu vertreten. Die Reaktionen auf diese Gruppe reichten von Unterschätzung – unter Verwendung der Bezeichnung "Narcotalia" und der Behauptung, es gehe ihr lediglich um kriminelle und persönliche Interessen, – bis hin zur Verschwörungstheorie – die Gruppe sei zur Machtergreifung von langer Hand geplant im Bündnis mit der venezolanischen Regierung. Sicher ist, die Segunda Marquetalia definiert sich selbst bis heute als revolutionäre kommunistische politisch-militärische Organisation, geführt von einer Gruppe von Kommandeuren, die die verschiedenen Blöcke und mobilen Kolonnen der entwaffneten Farc repräsentieren. Die Beziehungen zu Venezuela sowie in jüngster Zeit der angebliche Einfluss dieser Organisation auf den landesweiten Protest haben Fragen über ihre wahre Dimension und Kapazität aufgeworfen. Laut Selbstdarstellung tritt die Segunda Marquetalia aufs Feld, um die anderen Dissidenten wieder zu vereinen und das politische Projekt der ehemaligen Guerillagruppe wiederzubeleben. Aber trotz der wichtigen Führungspersönlichkeiten der ehemaligen Guerilla an der Spitze weigert sich auf Seiten der Dissidenz ein Großteil, und auf Seiten der Demobilisierten bleibt die überwiegende Mehrheit in das zivile Leben integriert.

Konfliktlinien

Die Fronten verlaufen also zwischen einerseits der Regierung von Iván Duque und den staatlichen Sicherheitskräften, Polizei und Militär gegenüber der Farc-Dissidenz. Allerdings werden unterschiedliche Absprachen beobachtet, so konnte die Dissidenz unter den Augen des Militärs ungehindert in Regionen vordringen, in denen die staatliche Macht seit langem versucht, die Kontrolle zu erlangen. Ob dabei auch Allianzen mit den vorherrschenden Paramilitärs und Kartellen eine Rolle spielen, kann nur vermutet werden.

Dazu komm die Segunda Marquetalia, die sich zumindest in ihrem Diskurs auf die Seite der Indigenen und Afros bzw. der Zivilbevölkerung schlägt. Aufgrund der teils unterschiedlichen Interessen und Bündnisse zwischen den Gruppen kommt es zu massiven militärischen Auseinandersetzungen, zu Territorialkämpfen und Opfern unter der Zivilbevölkerung. Die Strategie der Dissidenz ähnelt teilweise den paramilitärischen Interventionen, Angst und Terror zu verbreiten, um die eigene Macht zu manifestieren. Daher herrscht vor allem ein massiver Interessenkonflikt zwischen Demobilisierten und Dissidenz, denn die legalen Strukturen der Farc und Comunes versuchen ja eben Kontakt und Austausch mit der Bevölkerung herzustellen.

Außerdem flammt immer wieder der Kampf zwischen den Fronten um Gentil Duarte und der Segunda Marquetalia auf. Die im Norte del Cauca teils strategische und lediglich funktionale Beziehungen zwischen beiden Strukturen endete abrupt, als die Dissidenten von Gentil Duarte sich weigerten, sich dem Projekt von Iván Márquez anzuschließen, und im Gegenteil der Segunda Marquetalia ab 2020 den Krieg erklärten.

Dazu kommt der Konflikt mit der Guerilla Nationale Befreiungsarmee (Ejército de Liberación Nacional, ELN), die zwar keine Koka-Blätter kauft, also wirtschaftlich keine Konkurrenz darstellt, aber ebenfalls versucht, politisch die Kontrolle zu übernehmen. Die ELN-Mitglieder lassen sich in den letzten Monaten sogar in einigen Orten mit Waffen und Emblemen in der Öffentlichkeit sehen und markieren so Territorium. Allianzen zwischen Farc-Strukturen und der ELN sind in der Region kaum bekannt und wenig wahrscheinlich.

Zivilbevölkerung und Kollateralschäden: Was hat das Abkommen der Bevölkerung gebracht?

Dramatisch sind die Auswirkungen für die Bevölkerung in der Region. Denn sowohl die Farc-Dissidenzen als auch die Repression der Regierung zerstören soziale Prozesse und verhindern den Aufbau politischer Alternativen. Was seitens der Regierung strategisch verfolgt wird, ist vermutlich seitens der Dissidenz nicht als primäres Ziel vorgesehen, jedoch auch diese profitiert von der Schwächung der sozialen und politischen Akteure in ihrem Einflussgebiet, denn so können sie ungehindert walten.

Allgemein herrscht Enttäuschung bei der Zivilbevölkerung und den Farc-Demobilisierten, denn die großen Erwartungen und Hoffnungen des Friedensprozesses sind gescheitert.

Bis Januar 2021 sind nur 15 Prozent der Opfer des Konflikts entschädigt worden. Und nur 0,08 Prozent der drei Millionen Hektar aus dem Fonds der Umverteilung des Landes sind zugewiesen worden.

Lediglich 5,3 Prozent der vom Kokaanbau anhängigen Familien, die am Programm zur Substitution illegaler Landwirtschaften (PNIS) teilnehmen, haben eine Alternative zum illegalen Anbau erhalten.

Dazu veröffentlichte auch das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung, dass die Drogenproduktion stetig zunimmt und zwischen 2018 und 2021 in Kolumbien zwischen 1.200 und 2.000 Tonnen erreichte. 70 Prozent des Kokains weltweit kommen aus Kolumbien.

Und das Besorgniserregendste: Nach Angaben des kolumbianischen Opferregisters wurden zwischen 2016 und 2021 864.815 neue Opfer des Konflikts gezählt. Allein im ersten Halbjahr 2021 wurden fast 45.000 neue Vertriebene gemeldet – viele davon im Norte del Cauca.