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Chile: "Unser Projekt reicht weit über vier Jahre hinaus"

Die Regierung von Gabriel Boric hat einen langen Weg mit vielen Hindernissen vor sich, sagt Giorgio Jackson, einer ihrer wichtigsten Mitarbeiter

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Vor zehn Jahren gemeinsam aktiv in der Studentenbewegung, heute an der Regierung: Camila Vallejo, neue Regierungssprecherin, Jackson (Mitte) und Boric
Vor zehn Jahren gemeinsam aktiv in der Studentenbewegung, heute an der Regierung: Camila Vallejo, neue Regierungssprecherin, Jackson (Mitte) und Boric

Der Chilene Giorgio Jackson ist 35 Jahre alt und leitet ab dem 11. März das Generalsekretariat der Präsidentschaft1 der Regierung Gabriel Boric. Er gehört zum "kleinen Tisch" des Kabinetts und wird unter anderem die Verhandlungen im Parlament in einem ungünstigen Szenario ohne Mehrheiten führen müssen.

In einem Interview, das wir 2017 führten, einige Tage vor dem zweiten Wahlgang zwischen Alejandro Guillier und Sebastian Piñera, sagtest du, du seiest ein wenig "überwältigt", weil ihr mit acht Abgeordneten und einem Senator so ein gutes Resultat erzielt hattet. Bei dieser Wahl habt ihr noch viel mehr erreicht. Was wäre jetzt das Wort?

Ich könnte dieses Wort wiederholen. Vielleicht wäre es nicht genau "überwältigt", aber wir spüren das Gewicht der Verantwortung. Es gibt sehr hohe Erwartungen an das, was mit dem Antritt der Regierung alles geschehen könnte.

Die Erwartungen können rasch in Besorgnis umschlagen. Wie werdet ihr damit umgehen?

Es ist offensichtlich, dass es in Chile große Erwartungen gibt, die sicherlich größer als die sind, die auf anderen Regierungen lasten. Und sie sind nach der Wahl nur noch gestiegen. Aber die Personen, die in die "Moneda chica" kommen2 (einen Ort in der Universidad de Chile, an dem Gabriel Boric und sein Team die Übernahme vorbereiten), denken auch nicht, dass die Veränderungen von einem Tag auf den anderen passieren werden. Das heißt, es gibt zwar Erwartungen, aber gleichzeitig ein Verständnis dafür, dass das alles nicht leicht wird.

Wir haben versucht, und ich würde sagen mit einem gewissen Erfolg, die Vorstellung zu verbreiten, dass die Strecke, die uns bevor steht, nicht 50 oder 100 Meter lang ist, sondern eine, für die man gut vorbereitet sein muss, es ist eine lange Strecke mit vielen Hindernissen. Wir stellen uns das vor wie diese Bahnen, auf denen nach der Hürde noch ein Wasserbecken kommt und danach dann die nächste Hürde.

Im Bereich der Wirtschaft sind die ersten Projekte der Regierung Boric mit der Ernennung Mario Marcels als Kopf des Wirtschafts-Teams als graduell zu charakterisieren. Könnte das zu Spannungen mit den linken Sektoren von Apruebo Dignidad oder mit den Gewerkschaften führen?

In der ersten Etappe der Regierung werden wir eine progressive Steuerreform einführen, mit der wir einen Steuerpakt erreichen wollen, damit die Sektoren mit den größten Einkommen, zum Beispiel die Bergbauunternehmen und die umweltverschmutzenden Unternehmen, mehr zahlen. Wir streben eine Einnahmepolitik an, die mit der im Programm vorgesehenen Politik der Ausgabenerhöhung konform geht. Gleichzeitig möchten wir aber fiskalische Verantwortung übernehmen, damit die Schuldentilgung am Ende nicht die Einnahmen auffrisst.

Es kann passieren, dass es Sektoren gibt, die wegen der ökonomischen Pläne die Stirn runzeln, aber ich meine, die ersten Projekte müssen an den Ergebnissen gemessen werden und nicht an der bloßen Vorahnung, wer das Wirtschaftsteam leiten könnte, das außerdem sehr vielfältig ist. Da wäre zum Beispiel die Steuerreform, die Gesetze zur Arbeitsgerechtigkeit (wir möchten den Arbeitstag reduzieren und so mehr arbeitsfreie Zeit schaffen), eine erhebliche Steigerung des Mindestlohnes (was ein Meilenstein sein wird, da es keine Branchenverhandlungen geben wird) und der Entwurf eines nationalen Pflegesystems (eine Forderung, die aus feministischen Bewegungen kommt, aber heute weit darüber hinaus geht).

Einerseits gibt es den Finanzminister (Marcel), der stellvertretender Direktor für Public Governance und territoriale Entwicklung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung war und Präsident der Zentralbank ist. Ein Mann mit einer Laufbahn, die immer der Concertación und der Sozialistischen Partei Chiles nah war. Und im Subsekretariat gibt es eine Ökonomin der Frente Amplio (Claudia Sanhueza), die von Anfang an Finanzierungmöglichkeiten für kostenlose Bildung und Rentenreformen vorschlägt. Für die Wirtschaft zuständig ist Nicolás Grau, der seit der Studentenbewegung und später von der akademischen Welt aus immer den progressiveren Projekten nahestand. Das Subsekretariat im Wirtschaftsministerium übernimmt Javiera Petersen, die zusammen mit Mariana Mazzucato sehr intensiv an Wirtschafts- und Entwicklungsthemen gearbeitet hat. Das heißt, das Wirtschaftsteam beinhaltet verschiedene Ausprägungen dessen, was wir machen möchten und ich vertraue darauf, dass wir eine progressive und zugleich verantwortliche ökonomische Agenda haben können.

Setzt man darauf, sich hinter die Führung des Finanzministeriums zu stellen oder eine Übereinstimmung im Kabinett zu suchen und dann danach zu handeln?

Ich glaube, dass es immer einer Synthese bedarf. Es gibt niemanden in der Exekutive, außer natürlich dem gewählten Präsidenten, der eine Richtlinie setzen kann, ohne eine Übereinstimmung erreicht zu haben. Meinem Eindruck nach besteht die Arbeit, die wir in den nächsten Monaten, bevor wir die Steuerreform präsentieren, vor uns haben, genau aus der Anstrengung, Übereinstimmung zu generieren. Ausgehend davon, dass es ein gemeinsames Ziel gibt, nämlich die Ausweitung der Rechte auf der Grundlage einer vernünftigen Finanz- und Steuerpolitik. Wir haben die Leitlinie, dass die Steuerreform progressiv sein muss, dass die Sektoren mit den größten Einnahmen am meisten beitragen müssen. Wir glauben, eine progressive oder linke Agenda des 21. Jahrhunderts mit diesen sozialen Fortschritten ist möglich, ohne dass Chile aufhört, ein attraktives Land für Investitionen und Entwicklung sein.

Wie stellt ihr euch die parlamentarische Verhandlung zur Steuerreform vor? Die Democracia Cristiana (DC) ist nicht im Kabinett, aber rechnet ihr bei manchen Themen mit der Unterstützung im Parlament?

Bei egal welchem Projekt wird das erste sein, mit unserer Basis zu reden, mit den Parteien, die unsere Regierung bilden. Aber das reicht nicht, in keiner der beiden Kammern. Damit unsere legislative Agenda nachhaltig ist, müssen wir als erstes einen kleinen vor-legislativen Dialog führen. Was das angeht, sind wir vorangekommen, tatsächlich sind viele der steuerlichen Themen mit Yasna Provoste (DC) abgestimmt. Deswegen sollte es keine Probleme mit den Inhalten geben. Aber wir müssen noch weiter gehen, denn auch mit diesen Stimmen reicht es nicht.

Der Schlüssel wird sein, dass die Reformen, die wir vorschlagen, von der Bevölkerung unterstützt werden. Das heißt, dass es auch außerhalb des Kongresses eine bürgerschaftliche Unterstützung gibt. Ein Beispiel: was die Steuern angeht, denken wir daran, eine territoriale Verteilung der Einnahmen zu machen. Wir sind ein Land mit großer Diversität nach Region und es gibt eine große Schuld hinsichtlich der regionalen Einkommen und wir wollen, dass bestimmte Steuern in der autonomen Verwaltung der Territorien bleiben.

Öffnet das einen Verhandlungsspielraum mit den Parlamentariern auf regionaler Ebene?

Hier gibt es einen interessanten Raum, um die Steuerreform umsetzbar zu machen. Die Repräsentanten des Kongresses vertreten auch ihre Regionen, deswegen rede ich davon, eine Verbindung mit den lokalen Interessen herzustellen, die dann davon profitieren können. Und dies sollte unter politischen Gesichtspunkten nicht starr gesehen werden, denn für jeden der Reformvorschläge werden wir Dialoge mit der Opposition führen müssen, die sehr andere Agenden und Ansätze hat.

Mit welchen Sektoren der Rechten gibt es den größten Verhandlungsspielraum?

In dieser Legislaturperiode ist die ultrarechte Partido Republicano sehr stark. Mit ihnen wird es schwierig werden, zu Übereinstimmungen zu kommen. Und innerhalb der Koalition der derzeitigen Regierung (Chile Vamos) gibt es Flügel, die historisch immer gegen unsere Vorschläge gewesen sind, daher wissen wir, dass es nicht einfach wird. Aber es gibt auch einige, die immer im Dialog mit uns gewesen sind, zum Beispiel in der Verfassungsdebatte oder bei einigen Sozialreformen, die während der Proteste 2019 und 2020 angestoßen wurden. Hier gibt es Raum für Verhandlungen.

Welche Führung oder Partei repräsentiert diese Möglichkeit?

Ich weiß nicht, ob es eine spezielle Partei gibt, aber was die Steuern angeht, hatte der Präsidentschaftskandidat Sebastián Sichel vor, die Besteuerungsgrundlage um drei Punkte des BIPs zu erweitern (wir hatten zwischen sieben und acht Punkten in acht Jahren vorgeschlagen, fünf Punkte in der ersten Regierungszeit). Wir gehen also von einer Drei-Punkte-Grundlage aus und dann schauen wir, wie wir die weiteren zwei Punkte in der ersten Regierungsperiode erreichen. Ich glaube, dass auf diese nicht so organische Weise, ohne eine Partei, die die Richtlinie vorgibt, sondern mit bestimmten Personen, die die Empfänglichkeit haben, eine Tür geöffnet werden kann, um diese Mehrheit zu erreichen.

Mehrere Analysten sind sich darüber einig, dass Boric im zweiten Wahlgang viele Stimmen der Partido de la Gente von Franco Parisi bekommen hat, der im ersten Wahlgang 12,8 Prozent erreichte. Ist es für die Regierung möglich, sich mit dieser sozialen Basis zu verbinden?

Ohne Zweifel haben uns viele seiner Wähler gewählt. Mit der Partido de la Gente passiert etwas sehr Besonderes, denn sie ist Ausdruck einer Unzufriedenheit mit der Politik, die noch keine feste organisatorische Form hat. Das ist etwas sehr Neues und, was auch bezeichnend ist, in seiner Fraktion denken nicht unbedingt alle in allen Fragen gleich. Sie haben sich zusammengefunden, weil sie gegen eine bestimmte Art waren, Politik zu machen, aber nicht, weil sie gemeinsam für etwas sind.

Wir sind dabei herauszufinden, welche Agenda sie interessiert, und was sie als Fraktion gemeinsam haben. Das ist nicht sehr klar, aber ich denke, dass wir mit ihnen in der Antikorruptionsagenda und der Ausweitung sozialer Rechte gut vorankommen. Was die Steuern angeht, werden wir schauen müssen, was das Thermometer sagt.

Für viele linke Regierungen in Lateinamerika wurde die Sicherheit immer zu einem der Lieblingsthemen der Opposition. Habt ihr das Gefühl, dass man euch vorwerfen könnte, in dieser Frage zu naiv zu sein?

Ja, sehr wahrscheinlich wird das passieren. Aber in Chile ist die Ausgangssituation, dass Sebastian Piñera im Jahr 2009 mit dem Slogan "Verbrecher, die Party ist vorbei" Wahlkampf gemacht hat. Piñera hatte jahrelang Zeit, um die Party der Kriminellen zu beenden, aber die Party geht immer noch weiter. Es gibt niemanden in Chile, der sagen könnte, dass das Rezept, das beide Regierungen unter Piñera vorgeschlagen haben, funktioniert hat und dass wir heute mehr Sicherheit oder mehr Kontrolle über die Migration an den Grenzen hätten.

Wir fangen bei diesem Ausgangspunkt an und wir müssen uns dem Problem annähern, um es zu lösen. Es stimmt, dass die Linken keine wirksamen Mittel und Wege gefunden haben, um bei der Verfolgung von Straftaten entschlossen vorzugehen, und gleichzeitig aber auch die Auswirkungen der sozialen Bedingungen nicht zu leugnen. Ich denke man darf nicht bei der Ansicht stehenbleiben, dass das ein Thema ist, dass sich langfristig lösen wird. Man muss auch den Bürgern Antworten geben, die jetzt gewählt haben und sich sicherer fühlen wollen. Wir müssen im Stande sein, beide Aspekte zu berücksichtigen.

Ist der Konflikt im Süden, was die Sicherheit betrifft, die größte Herausforderung?

Er bekommtt wahrscheinlich am meisten Aufmerksamkeit. Denn hier mischen sich die Probleme mit der organisierten Kriminalität und die historischen Forderungen des Mapuche-Volkes. Das wird generell bei Diskussionen in einen Topf geworfen, und wir müssen im Stande sein, die beiden Themen zu trennen.

Was die organisierte Kriminalität angeht, müssen wir uns nach dem Gesetz richten, Straftaten verfolgen, Beweise finden und sie gerichtlich verwerten.

Aber den politischen Konflikt zwischen dem chilenischen Staat und der Nation des Mapuche-Volkes kann man nicht mit einer polizeilichen Logik angehen. Es ist ein politischer Konflikt und man braucht Räume für Dialog, um den dauerhaften Frieden zu erreichen. Vor fast 200 Jahren, 1825 und 1826, wurden zwei Friedensabkommen zwischen dem Staat Chile und der Nation der Mapuche geschlossen, und der chilenische Staat hielt sie natürlich beide nicht ein bei dem, was die Befriedung der Araucanía genannt wurde.

Wir glauben, dass wir 200 Jahre danach zu einer Vereinbarung und einer politischen Verständigung hinsichtlich der Autonomie, des Territoriums und der Kultur der ursprünglichen Völker kommen können. Wenn wir den politischen Dialog auf den Weg bringen ‒ und das kann mehr als eine Regierungsperiode erfordern ‒ hat die organisierte Kriminalität weniger Raum, diese Sache für ihre Aktivitäten zu nutzen.

Wird Innenministerin Izkia Siches diesen politischen Dialog leiten? Spielt Elisa Loncón, die Ex-Präsidentin der verfassungsgebenden Versammlung, eine Rolle dabei?

Diese Agenda wird beim Innenministerium behandelt, aber wir werden sehr viel mehr Leute brauchen als die Beauftragten aus der Regierung. Natürlich kann der Verfassungskonvent, in dem indigene Völker und ihre Führungspersonen, wie Elisa und andere, stark vertreten sind, helfen. Aber das reicht nicht aus, um den Konflikt zu lösen. Die neue Verfassung, die festlegt dass Chile effektiv ein plurinationaler Staat ist, erlaubt eine andere Art des Gesprächs, auf einer anderen Ebene, aber auch das löst den Konflikt nicht, der oft durch die Landfrage und die Autonomie bestimmt wird. An den Gesprächen müssen die Gemeinden, Sektoren der Zivilgesellschaft sowie die ökonomischen und politischen Akteure teilhaben. Wir brauchen keinen Verhandlungstisch für einen Fototermin, wir brauchen politische Verständigung.

Ist die Tatsache, dass es so viel Autonomie unter den Gesprächspartnern der Mapuche gibt, ein Problem für den politischen Dialog?

Das macht es komplexer, aber es geht ja nicht anders. Wir haben gesagt, dass wir den Dialog auf jeden Fall weiterführen. Was die öffentliche Meinung angeht, wäre es am einfachsten zu sagen, dass sich das alles mit mehr Waffen und Knüppeln, Entsendung von Truppen und Militarisierung löst. Das ist das simpelste, aber dies kann nicht einfach gelöst werden. Man muss auf der Komplexität des Konfliktes bestehen.

Die erste Zeit der verfassungsgebenden Versammlung war nicht einfach. Ein Mitglied täuschte vor, Krebs zu haben, ein anderes fälschte Unterschriften, um einen Antrag einzureichen. Welches Gewicht haben diese Versuche, die Versammlung zu verunglimpfen und welches Gewicht haben die wirklichen Probleme?

Die verfassungsgebende Versammlung ist wahrscheinlich das repräsentativste Organ, das Chile in seiner Geschichte gewählt hat, denkt man an seine Diversität und Zusammensetzung. Aber dass sie repräsentativ ist, bedeutet nicht, dass es keine unguten und kritikwürdigen Situationen gegeben hat, wie das überall passiert, wo man mit der Lupe hinschaut. Das kann in Unternehmen, Staaten, Sportvereinen, Familien passieren. Und hier ist es auch passiert. Man sollte das nicht unter den Teppich kehren, es sind tatsächlich Dinge vorgefallen, die dem Renommee der Versammlung schaden. Aber wegen ein paar spezifischer und untypischer Tatsachen einen Prozess zerstören zu wollen, wie das diverse Gruppen versucht haben, ist politisch motiviert.

Es gibt einen Zeitraum, in dem jede Person oder Organisation mit 15.000 Unterstützern eine Verfassungsnorm vorschlagen darf3. Sicherlich ist von allem etwas dabei. Es werden Sachen vorgeschlagen, von der einen oder anderen Seiten, die mir äußerst verrückt und skurril und solche, die mir sehr vernünftig erscheinen. Einige Medien legen ihren Fokus nur auf die extravaganten und polemischen Dinge, das bedeutet aber nicht, dass es diejenigen sind, die am Ende zwei Drittel im Plenum erreichen, denn bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Gibt es einen Teil dieser Inflation der Erwartungen, der selbst geschaffen wurde? Ich meine, wenn du sagst, durch dich würden sich alle Möglichkeiten öffnen, dann wird natürlich mit der Lupe hingeschaut. Kann die neue Regierung daraus etwas lernen?

Eine Schwierigkeit, vor allen Dingen in der Welt der Unabhängigen, ist, dass sie sich hinter bestimmten Zielen vereinigen können, es jedoch an einer Kultur der politischen Organisation fehlte. Diese Zeit, in der Differenzen zu Brüchen geführt haben, lässt dich wahrscheinlich eher den Aufbau der politischen Organisation wertschätzen. Dieser Aufbau ist für bestimmte interne Prozesse relevant, damit die Menschen Stufen durchlaufen und um Führungspositionen mit einer gewissen Erfahrung (im gewerkschaftlichen, feministischen und studentischen Kampf) zu erreichen. Das trägt dazu bei, dass es hinterher keine Überraschungen gibt. Diese Episoden bestätigen die politische Organisation als Weg, um Räume der Repräsentation zu erreichen und nicht nur durch individuelle Aussagen.

Deshalb nehme wir das in der Regierung so ernst, die Basis der Repräsentation oder Unterstützung der politischen und sozialen Strukturen zu verbreitern.

Aber, um zurück zu der Frage zu kommen und ihr nicht auszuweichen, bei uns ist die Messlatte immer besonders hoch gelegt worden, auch weil wir kritischer waren, und wir müssen lernen, damit zu leben. Anders gesagt, was uns ab jetzt passieren kann, passiert uns schon seit 2014, ab unserem Erscheinen auf der politischen Bühne.

Besteht die Gefahr, dass das Plebiszit über die verfassungsgebende Versammlung zu einer Volksabstimmung über die Regierungsführung wird, wie eine Art Zwischenwahl?

Es kann sein, dass es Menschen gibt, die daran interessiert sind das zu verbinden, aber an sich hat das nichts damit zu tun.

Das Plebiszit ist fundamentaler Bestandteil und oft die nötige Bedingung, um bestimmte Reformprozesse zu ermöglichen. In keinem Fall hat die Regierungsführung etwas mit dem zu tun, was wir uns für die nächsten 20 oder 30 Jahre als institutionellen Wandel geben könnten.

Eventuell gibt es Menschen, die versuchen, beide Prozesse gleichzusetzen und auch das Gegenteil kann der Fall sein: wenn es mit der Regierung gut läuft, könnten manche versuchen, sie so weit wie möglich voneinander zu trennen, um die Versammlung treffen zu können. Aber man muss sie als unabhängige Prozesse beobachten, die miteinander in Beziehung stehen, denn sicher wird es schwierig sein, Teile unseres Regierungsprogramms ohne Verfassungsänderung umzusetzen.

Bei welchen Themen?

Ohne eine Änderung der Verfassung laufen etwa die Gesundheitsreform und die Reform der sexuellen und reproduktiven Rechte Gefahr, als verfassungswidrig unter der aktuellen Magna Carta erklärt zu werden. Das gleiche könnte mit einigen Arbeitsnormen passieren. Für all diese Themen ist die Änderung der Verfassung sehr wichtig.

Was wird passieren, wenn es studentische Mobilisierungen gibt? Wie gedenkt Ihr, damit umzugehen?

Zuhören und auf die Gründe hören, die uns vorgebracht werden, das forderten wir damals auch von der Regierung, als wir uns mobilisierten. Aber wir fanden eine geschlossene Tür vor, es gab keine Möglichkeit, ein ernsthaftes Gespräch zu führen. Wenn es ein organisiertes Unbehagen gibt, wird es unsere Aufgabe als Regierung sein, die Gründe dafür zu identifizieren und wirkliche Kanäle der Kommunikation zu schaffen, um eine Lösung auf den Weg zu bringen.

Das haben wir bei unseren Mobilisierungen nie erlebt. Auch wenn wir in der Hitze der Proteste zwar wussten, dass sich die Dinge nicht auf einfache Weise lösen würden, glauben wir, dass es Instrumente gibt, die von früheren Regierungen nicht genutzt wurden und ich glaube, dass es politische Mittel gibt, um derartige Forderungen hin zu Veränderungen zu kanalisieren.

Wir garantieren nicht, dass wir die Antwort haben werden, die in allen Forderungen und Mobilisierungen erwartet wird, aber aufgrund unseres Werdegangs verstehen wir mehr oder weniger die Codes, nach denen studentischer Protest und andere Arten von Mobilisierungen organisiert sind. Daher vertraue ich auf die Übereinstimmung in der Kommunikation und der Schaffung gemeinsamer Agenden. Ich denke nicht, dass das die Hauptprobleme sein werden, mit denen wir uns konfrontieren müssen.

Und welche wären das?

Das, was wir am Anfang besprochen haben: die Erwartungen zu erfüllen. Auf einem Weg navigieren, bei dem wir vorankommen und konkrete Erfolge vorweisen können. Dass die Leute spüren, es gibt eine Regierung die liefert und die, wenn ein Hindernis auftritt, dies kommuniziert und wir es gemeinsam mit ihnen überwinden.

Bei diesem Umgang mit Erwartungen gibt es ein Problem, dem wir uns stellen werden müssen. Es gibt auch andere große Probleme, bedingt durch exogene Faktoren, geerbt von der aktuellen Regierung, wie die Konflikte durch die Migration, was ein schwieriges Problem zu lösen sein wird. Eine andere Herausforderung ist die Stabilisierung der Wirtschaft, denn wir kommen aus Zeiten mit großen Schwankungen. Wir hatten im Jahr 2020 einen Rückgang des BIP um sechs Prozent und einen Anstieg um 12 Prozent 2021.

Die Wirtschaft ist überhitzt, deswegen müssen wir sie jetzt stabilisieren, damit die Inflation nicht in die Höhe schießt.

Ich glaube, es wird eine Herausforderung sein, ein Gleichgewicht mit einem Steuerpakt, neuen Verfassungs- und Arbeitsnormen zu erreichen und auf ein produktives Modell zu setzen, bei dem die ökologische, soziale und politische Nachhaltigkeit an erster Stelle steht.

Boric und die zukünftige Außenministerin (Antonia Urrejola) waren in ihrer Kritik besonders gegenüber Nicaragua und Venezuela sehr klar. Was ist deine Position?

Ich stimme mit dieser Haltung völlig überein. Mir scheint, weil wir eine andere Generation als die sind, die die vorherigen progressiven Prozesse angeführt hat und außerdem wegen der Bedeutung, die die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur in unsere Geschichte haben, sowie aufgrund der Repression bei den Mobilisierungen und Protesten, die es in jüngster Zeit in Chile gab, fällt es uns sehr schwer, in Situationen wie der in Venezuela und Nicaragua wegzusehen.

Wenn man von der Achse Links-Rechts redet, wird das oft in den Begriffen wie Arbeit gegen Kapital oder Staat gegen Markt ausgedrückt, es gibt aber senkrecht dazu Achsen, die die Linke bis jetzt nicht für relevant erachtet hat, und die heute aufgrund von Generationenfaktoren, aber auch aufgrund der historischen Akkumulation relevanter sind.

Beispielsweise die Achse Feminismus versus Patriarchat. Die Linken im Allgemeinen waren sehr machistisch und patriarchalisch und das ist etwas, das wir ändern müssen, wir müssen uns aus einem anderen Blickwinkel positionieren, symbolisch, aber auch materiell und politisch.

Eine andere Achse ist Extraktivismus versus Umweltschutz. Die Linken an der Regierung waren nicht unbedingt Umweltschützer, sondern waren eher extraktivistisch orientiert. Jetzt gibt es die Herausforderung, wie man es schafft, ein Gleichgewicht zwischen Entwicklung und Umweltthemen herzustellen.

Und eine weitere Achse ist die Demokratie und der uneingeschränkte Schutz von Menschenrechten versus Autoritarismus.

Wir positionieren uns eindeutig bei ersterem. Historisch hatten wir autoritäre Regierungen, die Einschränkungen von Freiheitsrechten oder Menschenrechtsverletzungen mit den Zielen der Linken rechtfertigten, aber das teilen wir nicht. Deshalb werden wir das sowohl im Inland als auch international sagen.

Was sind die Pläne in Bezug auf Drogenpolitik und die Legalisierung von Marihuana?

Wir sind noch sehr am Anfang. Aber es steht in unserem Regierungsprogramm, bei der Legalisierung von Marihuana auf die Art und Weise voranzukommen, die am besten zu uns passt. Uns fehlt noch das genaue Konzept bei diesem Thema.

Ich weiß nicht, ob wir es über den Eigenanbau machen, oder ob wir uns für die uruguayische Formel entscheiden, aber die Idee ist, dass der Besitz und der Eigenanbau von Cannabis komplett straffrei sein sollen.

Wir wollen in diese Richtung gehen, wir haben nur noch nicht klar, wie. Die Erfahrung Uruguays ist als Referenz zu untersuchen, aber man muss sich auch andere Modelle anschauen, wie Portugal oder Kalifornien.

Anderseits wollen wir nicht die Risiken beiseite lassen, die bei verschiedenen Drogen vor allem für Jugendliche und Heranwachsende bestehen, ob beim Alkohol, Tabak, Marihuana oder anderen Drogen. Aber uns ist klar, dass die abstrafende Position, die das Innenministerium derzeit einnimmt, keinen Sinn hat.

Man muss die Sache ausgehend von der öffentlichen Gesundheit angehen, von der Bildung mit einem präventiven Ansatz, man muss Maßnahmen anbieten, die bei der Rehabilitation helfen und die Polizei bei der Verfolgung der großen Drogenbanden einsetzen. Das ist nicht für die ersten Schritte der Regierung geplant, sondern für eine Etappe nach dem Referendum zur neuen Verfassung.

Eine Sache, die den Prozess nach den Protesten charakterisierte, ist, dass es viele "Soundtracks" gab. Es wurden Videos viral mit dem Lied der Los Prisioneros, "El Baile de los que sobran" (Der Tanz der Übriggebliebenen), oder Mobilisierungen, bei denen Leute "El derecho de vivir en paz" (Das Recht, in Frieden zu leben) sangen.4 Jetzt in der Regierung ist es schon schwieriger, einen Soundtrack zu haben.

Die Wahlkampagne hat das auch geschafft, es gab mehrere Soundtracks. Es gab eine sehr starke kulturelle Unterstützung, es konnte eine emotionale und kulturelle Beziehung hergestellt werden. Und ich glaube, dass der Prozess der Einrichtung der Regierung das schon in sich hat. Sicherlich, dieses epische Element fehlt den Regierungen normalerweise oder es wird ihnen erst später im geschichtlichen Prozess zugeschrieben. Aber ich denke, dass der Kontrast zur Piñera-Regierung und die Bedrohung durch das, was mit Kast beinahe passiert wäre, unserer Regierung ein Narrativ geben könnte und so etwas wie das, was Sie über den Soundtrack sagen, könnte auch passieren. Ich denke, ja, wir werden ihn weiterhin haben.

Es ist eine Frage der Generation und der Einbindung in die populare und städtische Kultur unserer Generation, die es uns ermöglicht, die Maßnahmen der Regierung über die Grenzen der politischen Debatte hinaus zu tragen. Tatsächlich verstehen wir unser Projekt immer als etwas, das über vier Jahre hinausreicht, im Wahlkampf haben wir gesagt, dass viele der Reformen in acht Jahren durchgeführt werden. Wir denken immer über einen längeren Zeitraum nach.

Am Tag der Wahl hatte Boric mehrere Verweise auf Salvador Allende in seiner Rede. Welche Dinge werden von dieser alten Linken übernommen, welche nicht?

Allende schlug in der Zeit des kalten Krieges und der kubanischen Revolution eine demokratische Revolution vor, er sprach davon, den chilenischen Weg zum Sozialismus zu gehen. Dies entspricht sehr der demokratischen Tradition der chilenischen Linken. Wir fühlen uns als Erben dieser Tradition, dieses Weges. Was nicht passieren darf, ist die fehlende Unterstützung und Synthese der Parteien, was unter anderem die Allende-Regierung kaputt gemacht hat. Dass nicht alle Parteien hinter dieser These standen, die die Regierung der Unidad Popular aufgestellt hatte. Deswegen reden wir so viel davon, die Basis der Unterstützung breiter zu machen. Das Schlimmste was passieren kann, ist, dass du dich am Ende mit deinen eigenen Niederlagen zufrieden gibst.

Das Interview ist am 9. Februar bei La diaria (Uruguay) erschienen

  • 1. "Das Generalsekretariat der Präsidentschaft ist das höchste Beratungsgremium der Regierung und hat die Aufgabe, die Entwicklung und Umsetzung der programmatischen und legislativen Agenda der Regierung durch verschiedene Maßnahmen zu erleichtern und zu koordinieren". https://www.gob.cl/ministerios/ministerio-secretaria-general-de-la-presidencia/
  • 2. La Moneda ist der Amtssitz des Präsidenten
  • 3. Die Frist zur Einreichung von Diskussionsvorschlägen für den Verfassungskonvent ist Anfang Februar abgelaufen.
  • 4. El derecho de vivir en paz ist eines der bekanntesten Lieder von Victor Jara. Der Text handelt vom Befreiungskrieg in Vietnam gegen die USA. Jara wurde von den Schergen des Militärputsches vom 11. September 1973 gegen die sozialistische Regierung Salavador Allendes ermordet