Rassismus und kapitalistische Unterdrückung in Kolumbien ‒ und der Welt

Francia Márquez könnte bald Vizepräsidentin von Kolumbien sein. Im Wahlkampf wird sie als Frau aus einfachen Verhältnissen und als Schwarze beleidigt und beschimpft

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Francia Márquez, Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, auf einem Wandbild von Jugendlichen in Quibdó
Francia Márquez, Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, auf einem Wandbild von Jugendlichen in Quibdó

Zwei Vorfälle, scheinbar weit voneinander entfernt und ohne jegliche Verbindung an zwei verschiedenen Orten der Erde, sind bezeichnend für den Rassismus, der in den aktuellen Gesellschaften herrscht und der charakteristisch für den "neuen-alten Geist der Kapitalismus" ist. Diese Vorfälle ereigneten sich in der Ukraine und in Kolumbien.

Im erstgenannten Land konnte die rassistische und diskriminierende Behandlung der Geflüchteten aufgrund ihrer Hautfarbe nicht verborgen bleiben: In Polen werden die weißen, blonden und blauäugigen Geflüchteten aufgenommen, während diejenigen, die nicht dieses Erscheinungsbild aufweisen und besonders jene mit schwarzer Haut, mit Fußtritten zurückgeschickt werden.

Währenddessen verbreitete in Kolumbien Paola Ochoa, eine Journalistin, die kurzzeitig Vorkandidatin für die Vizepräsidentschaft eines Sprechers der Ultrarechten war, in einer Radiosendung Schwachsinn und Dummheiten über Francia Márquez, die als Vizepräsidenten für den Pacto Histórico aufgestellt wurde. Márquez wird aufgrund ihres Status als Frau aus einfachen Verhältnissen und Schwarze beleidigt und beschimpft. In die gleiche Kerbe schlagen auch die Äußerungen der Sängerin Marbelle, mit extremen Rassismus und Verachtung gegenüber Francia Márquez.

Diese beiden Vorfälle verdeutlichen den vorherrschenden Rassismus in der heutigen Welt. Was hier geschieht, ist, dass dieser alltägliche, strukturelle, in der Gesellschaft verwurzelte Rassismus, der auch zum Banner der Ultrarechten der Welt geworden ist, in solch zugespitzten Situationen wie einem Krieg oder einer Wahlkampagne sein wahres Gesicht zeigt. In Kolumbien wurde zum ersten Mal eine Kandidatin aufgestellt, die nicht die Eigenschaften des Weißseins trägt.

"Weißsein" ist das Konzept, das herangezogen werden muss, wenn man vom real existierenden Rassismus sprechen will. Es bedeutet nicht, eine weiße Hautfarbe zu haben, es ist etwas Tieferes und Inneres: Es bedeutet, dass eine Person oder eine Gesellschaft sich aufgrund von Kriterien einer selbst zugeschriebenen Überlegenheit mit eurozentrischen und vermeintlich universalen Wurzeln verhält, nicht nur wegen ihrer weißen Haut, sondern weil dieses "Weiß" gleichzeitig den Individualismus der Erfolgreichen und der Sieger der neuen kapitalistischen Weltordnung verkörpert, die vor drei Jahrzehnten etabliert wurde und heute wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt.

Das Weißsein proklamiert das Modell des "American Way of Life", der siegreich aus dem Kalten Krieg hervorging und dessen entscheidende Merkmale Erfolg, Profit, individueller Ruhm, der Kult des Marktes und des Konsumgottes, Egoismus, die Verherrlichung des Wettbewerbs als natürliches Merkmal der Menschen und die Gewalt gegen die Verlierer und "Minderwertigen" sind. In dieser Logik wird Reichtum mit Weißsein, Fortschritt, Modernität, Kultiviertheit und Überlegenheit assoziiert, während Armut mit Schwarzsein, Rückschritt, einer exotischen, barbarischen und unterlegenen Welt verbunden wird. Im Sinne des Weißseins sind die Armen und Besitzlosen widerlich und ein Störfaktor und erst recht, wenn sie von "dunklen Rassen" sind; auch wenn sich heute im Fall der Russen – die von weißer Hautfarbe sind – zeigt, dass auch sie Rassismus erleben, obwohl sie in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, wie das heutige Russland eine ist. Dieses Land wird als ein unwillkommener Gast in der neuen, von den USA dominierten Weltunordnung betrachtet.

Daher ist auch die Russophobie von heute nur ein Ausdruck des alten Rassismus in neuem Gewand, bei dem die Eliminierung der Russen aufgrund ihrer Herkunft gefordert wird und in der Londoner U-Bahn Aufkleber angebracht werden, die überhaupt nicht witzig sind: "Nur ein toter Russe ist ein guter Russe". Eine Maxime, die nicht neu ist, da sie bereits von Theodore Roosevelt verkündet wurde, um den Ethnozid in den USA Ende des 19. Jahrhunderts zu rechtfertigen, als er erklärte, dass "der einzige gute Indianer der tote Indianer ist"1. In diesem bestimmten Fall werden die Russen sozusagen im Namen eines reinen Weißseins diskriminiert.

Auf der Grundlage der oben genannten Anti-Werte, die in einem Großteil der Welt und von einem Großteil der Welt ‒ unter ihnen selbstverständlich auch viele Arme und Nicht-Weiße ‒ verinnerlicht wurden, hat sich das Weißsein als Norm etabliert, als Praxis und Verhalten, deren Symbol par excellence, so entwürdigend es auch sein mag, Michael Jackson ist: ein klares Beispiel der kolonisierten Mentalität, die Frantz Fanon als "Schwarze Haut, weiße Masken" bezeichnete. Diejenigen, die, obwohl sie nicht von weißer Hautfarbe sind, in den Schoß des Weißseins aufgenommen werden, akzeptieren die Anti-Werte des Erfolges und der Vermarktung, so wie die Stars mit dunkler Hautfarbe im Spektakel des Showbiz und des Fußballs, die aber von Kopf bis Fuße ins Weißsein eingehüllt sind. Sie sind der klare Ausdruck von Konsum, Hedonismus, Egoismus, Wohlstandskult, Prahlerei, Individualismus, und politisch sind sie natürlich bedingungslose Verteidiger des Kapitalismus.

Innerhalb des Weißseins sind dies jedoch Ausnahmefälle, die akzeptiert werden, weil sie die Logiken der Ungleichheit teilen, die dem real existierenden Kapitalismus überall, wo er etabliert worden ist, zu eigen sind. Für die gesellschaftlichen Mehrheiten, verkörpert durch die Schwarzen Migranten, die nach Europa kommen oder durch Francia Márquez in Kolumbien, ist das Weißsein nicht ein Kennzeichen des gesellschaftlichen Aufstieges, sondern eine brutale Form der Unterdrückung, der Verfolgung, die den herrschenden Rassismus offenbart, der ‒ auch wenn versucht wird, das zu verschleiern ‒ eine zentrale Komponente jener neuen kapitalistischen Weltunordnung darstellt, die nach dem Berliner Mauerfall eingeführt wurde, denn das Weißsein ist eine andere Art, das Ende der Geschichte zu proklamieren.

Das heißt, in dieser zweifelhaften Gleichung besiegelt die Summe aus Kapitalismus (der Markt), parlamentarischer Demokratie und Weißsein das Ende der Geschichte. Dies ist der ekstatische Triumph des Kapitalismus im US-amerikanischen Stil, allen voran der Gott Markt und die angelsächsischen Weißen sowie eine Demokratie von niedriger Intensität, in der nur die Gewinner und Erfolgreichen einen Platz finden, die per unumstößlicher Definition die erhabenen Repräsentanten des Weißseins sind.

Das Weißsein beinhaltet, dass in einer abhängigen und kolonialen Welt wie in Kolumbien, einige ihre Größe aufgrund vermeintlicher rassischer Merkmale der Überlegenheit ausrufen und das bringt sie dazu, die Armen, die Schwarzen, die Indigenen und die Bewohner der Armenviertel, die Migranten aus Venezuela oder die Kolumbianer, die aus Venezuela zurückgekommen sind, verachten. Und sie sagen das mit aller Unverfrorenheit und ungestraft, so wie die Journalistin Paola Ochoa, die sich überlegen wähnt.

Aber viele von denen, die die armen Kolumbianer und die einfachen Venezolaner diskreditieren, sind dieselben, die ausgewiesen und diskriminiert werden, wenn sie in die USA kommen. Das zeigt, dass Weißsein nicht die reale Ungleichheit verschleiern kann, die den Kapitalismus und Imperialismus kennzeichnet, wo es eine Abstufung gibt, in der einige auf lange Sicht ein bisschen weißer sind als der Rest, und das sind zweifelsohne die Mächtigen, die Herrschenden, die Gewinner auf dem kapitalistischen Markt.

Ein Beispiel dafür ist in Kolumbien die Sängerin Maureen Belky Ramírez Cardona, bekannt als Marbelle. Diese Frau ist das eindeutige Beispiel des vorherrschenden Weißseins. Sie ist nicht gerade ein Modell weißer Schönheit, ihre physiognomischen Merkmale sind eher das Gegenteil, denn sie ist von kleiner Statur und robustem Körperbau, die für gewöhnlich verachtet werden. Deswegen ist sie, neben der "Königin der Carrilera" (nach der Art ihrer Musik), auch die "Königin des Skalpells", da ihr Körper dutzende Operationen plastischer Chirurgie ertragen musste, mit der vergeblichen Absicht, sich in eine reine Weiße zu verwandeln. Sogar ihre eigene Mutter starb während einer "Schönheitsoperation". So sehr sich Marbelle auch "weiß" machen lassen wollte, sie hat es nicht erreicht, denn es gibt Dinge der Natur, die sich auch mit viel plastischer Chirurgie nicht verändern lassen.

Ihr Publikum kommt aus einfachen Verhältnissen, wegen des Stils ihrer Lieder, und entgegen ihrer musikalischen Basis von dörflichem Charakter und ihrer anatomischen Gestalt ist Marbelle Trägerin des Weißseins, der Erfolgreichen, derjenigen, die überzeugt davon sind, dass sie den restlichen gewöhnlichen Sterblichen überlegen sind, weil diese nicht Teil der schrumpfenden Welt der Gewinner des real existierenden Kapitalismus sind. Marbelle stellt ihre Ignoranz, ihre Derbheit, ihren Standesdünkel und Rassismus so zur Schau, als ob sie lobenswerte Charakteristiken wären, auf die sie stolz sein könnte. Und in den letzten Wochen hat sie eine vulgäre rassistische Kampagne gegen Francia Márquez in Gang gesetzt, die sie "King Kong" bezeichnete.

Dann wiederholte sie das fast täglich über ihre antisozialen Netzwerke und fügte hinzu, King Kong werde auf den Wolkenkratzer Colpatria steigen, und dass sie von ihrem Aussehen (eine Schwarze, einfache Frau) "angeekelt ist". Und wie eine gute Hausherrin forderte sie Márquez dazu auf, ihr Rührei zuzubereiten (bezugnehmend auf die Behandlung ihres "Dienstmädchens" durch eine "wohlhabende Kolumbianerin"). In einem anderen Tweet bezeichnete sie Petro und Francia Márquez als "Monsterpaar".

Marbelle ist auf der niedrigsten Stufe des Weißseins, weil sie die Antiwerte des siegreichen Kapitalismus zum Ausdruck bringt und mit ihnen will sie jene zertreten und verschwinden lassen, die sie für minderwertig hält. Darin verbinden sich Klassendünkel und Rassismus, die zum Maßstab geworden sind, um zu bestimmen, wer menschlich ist und wer nicht; und selbstverständlich ist der Weiße, Reiche, Mächtige, Berühmte... menschlich, während der, der diese Kriterien nicht erfüllt, der Untermensch ist.

Wir sollten uns in dieser Hinsicht nicht über die Sprache wundern, die heute gegen Schwarze, Arme, unerwünschte Migranten (= die Mehrheit von ihnen), Russen... verwendet wird, die allesamt als Tiere bezeichnet werden, als Pack, Monster und dergleichen, was sehr eindeutig auf den endemischen Rassismus des vorherrschenden Weißseins der kapitalistischen Weltunordnung hinweist.

Während diese kapitalistische Weltunordnung in jeder Beziehung den Bach runter geht, manifestiert sich die Angst der Mächtigen und Dominanten in einem Rassismus, in dem sich das Weißsein in all seinem Elend ausdrückt, so wie es seit Jahrzehnten in ganz Europa passiert, wie es aber der Krieg in der Ukraine auf besondere Weise aktuell und offensichtlich macht. Es ist also nicht überraschend, dass die Sprecher von Vox in Spanien es unverblümt aussprechen: Die weißen Ukrainer sind Flüchtlinge, die aufgenommen werden müssen, Afrikaner aber, die nach Europa kommen, sind Eindringlinge und müssen gewaltsam vom europäischen Boden vertrieben werden.

Diese Klassenangst zeigte sich in Kolumbien sehr deutlich während des landesweiten Streiks, als die Kolumbianer "aus gutem Hause" auf die Straße gingen, um mit ihren eigenen Händen und Waffen an der Seite der Polizei streikende Schwarze, Indigene und Arme zu töten. Und heute kommen dieser Hass und diese Angst, die typisch für das endemische Weißsein unserer herrschenden Klassen sind, wieder zum Vorschein, wenn eine einfache, würdevolle, kämpferische Frau, es geschafft hat – und das wurde ihr keineswegs geschenkt – Vizepräsidentschaftskandidatin zu werden, nachdem sie fast eine Million Stimmen erhalten hatte.

  • 1. Das Originalzitat von US-Präsident (1901 bis 1909) Roosevelt: "I don’t go so far as to think that the only good Indians are dead Indians, but I believe nine out of ten are, and I shouldn’t like to inquire too closely into the case of the tenth." Er bezog sich dabei auf den Oberbefehlshaber des US-Heeres, General Philip Sheridan, der in einer Rede 1855 sagte: "The only good Indians I ever saw were dead". Sheridan war verantwortlich für zahlreiche Massaker an Native Americans