Herausforderungen der feministischen Bewegungen in Lateinamerika

Der Feminismus nimmt heute Einfluss auf die Gesellschaft als Ganzes. Das bringt auch Widersprüche mit sich

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Der Marcha mundial das mulheres in Brasilien definiert sich als feministische, antikapitalistische und antirassistische Bewegung
Der Marcha mundial das mulheres in Brasilien definiert sich als feministische, antikapitalistische und antirassistische Bewegung

Es ist unbestreitbar, dass wir heutzutage in verschiedenen Sektoren ein Anwachsen des Feminismus erleben. Dies hat dazu geführt, dass eine ganze Reihe Themen es geschafft haben, in der Gesellschaft angenommen zu werden ‒ über die organisierten feministischen Bewegungen hinaus. Es gibt eine große Vielfalt, aber auch gemeinsame und übereinstimmende Inhalte.

Darunter sind: die Erkenntnis der patriarchalen und rassistischen Dimension des Kapitalismus; die Notwendigkeit, sich den androzentrischen Strukturen des aktuellen Modells entgegenzustellen; die Wichtigkeit, die sexuelle Vielfältigkeit und Dissidenz zu verteidigen; die Notwendigkeit, andere Werte und demokratischere und horizontalere Formen der Machtausübung aufzubauen; der Kampf gegen die Gewalt; der Kampf für das Recht auf Abtreibung; die Anerkennung der Agenda für Care-Arbeit; und die Notwendigkeit der Selbstorganisation der Frauen.

Wir glauben, dass diese Inhalte Teil der Erfolge der feministischen Bewegung und ihrer Fähigkeit sind, Einfluss auf die Gesellschaft als Ganzes und auf die Bildungsbereiche wie etwa die Universitäten zu nehmen. Andererseits bringt dies auch Herausforderungen und Widersprüche mit sich.

Dazu tragen auch die verschiedene Ausdrucksformen der feministischen Bewegung bei, das heißt die Vielfalt der Positionen, die unterschiedliche Formen ausdrücken, die politische Agenda anzugehen und dem Feminismus Inhalt zu geben.

Allgemein können wir sagen, es gibt eine erste Spaltung zwischen den Sektoren, die sich der Notwendigkeit einer generellen Transformation der Gesellschaft verschreiben, und auf der anderen Seite einem liberalen Feminismus, der sich nicht mit diesen strukturellen Transformationen beschäftigt und seine Perspektiven auf die individuellen Rechte konzentriert.

Über diese Herausforderungen hinaus haben wir die Offensive der rechten Sektoren, die auf zwei Linien verläuft: Die der Kooptation und der Pseudo-Einbeziehung des Feminismus, was wir "lila Schminke" nennen (Moreno, 2020); und auf der anderen Seite die neokonservativen Attacken der Ultrarechten.

Es ist notwendig, dass die Debatte unter uns und die Bestimmung eines politischen Projektes auf einem systemkritischen Feminismus basieren. Dieser beruht auf dem Verständnis, dass das aktuelle Modell kapitalistisch, hetero-patriarchalisch, rassistisch und kolonialistisch ist. Es also eine Sichtweise der Überschneidung verschiedener Formen von Unterdrückung.

Wir begreifen, dass es nur dann möglich sein wird, dieses Modell zu beseitigen, wenn es uns gleichzeitig gelingt, diese gesamte Beziehungsgeflecht zu überwinden.

Außerdem ist es wichtig, die Logik der Akkumulation hervorzuheben, die das aktuelle Modell organisiert und die auf diesen verschiedenen Unterdrückungsformen beruht. Es ist wichtig, die materiellen Grundlagen der Dynamik zu sehen, die es auferlegt.

In unserem Prozess haben wir bestimmt, dass wir einen popularen Feminismus aufbauen. Es muss aber gesagt werden, dass wir in uns einer Zeit befinden, in der mehrere Sektoren, die sich so definieren, auch das Bedürfnis verspüren, ihre Einzigartigkeit zu betonen. So haben wir den bäuerlich-popularen Feminismus, den kommunitären Feminismus und den Schwarzen Feminismus und andere, die in Einheit verbunden sind und auch ihre eigenen Agenden und Perspektiven ausarbeiten.

Die Herausbildung politischer Subjekte als Protagonistinnen der sozialen Veränderungen stellt sicher, dass diese Veränderungen tatsächlich geschehen. Das lässt uns die Selbstorganisation als roten Faden der Kämpfe verstehen und praktizieren, die entscheidend für die Emanzipation aller unterdrückten Völker ist.

Die Stellung der Frauen in der sozialen, sexuellen und rassistischen Arbeitsteilung erklärt, warum sie als politische Subjekte Protagonistinnen sein müssen. Eine feministische Perspektive in der Analyse dieses Protagonismus der Frauen kommt aus der Erkenntnis, dass Frauen die hauptsächlichen Subjekte der reproduktiven Arbeit sind, die das gemeinsame Leben erhält. Frauen brauchen den Zugang zu öffentlichen Gütern mehr als Männer und deshalb engagieren sie sich mehr, sie zu verteidigen, sowohl auf dem Land als auch in der Stadt (Federici, 2014).

Die Vorschläge, die vom popularen Feminismus entwickelt wurden, sind eine Synthese aus verschiedenen Beiträgen, sowohl der Debatte und der Konsolidierung politischer Agenden als auch des Prozesses der Organisation und Artikulation in der Gesamtheit der Kämpfe. Diese Synthesen und Vorschläge basieren auf konkreten Aktionen, die die Gesellschaft und das Leben der Frauen verändern, was zeigt, dass es unmöglich ist, die Debatten der Agenda und die Konstitutierung des politischen Subjekts voneinander zu trennen.

Die Tatsache, dass der populare Feminismus die arbeitende Klasse in ihrer Diversität integriert, trägt zur Definition des politischen Projektes mit einer Position bei, die von einem libertären, emanzipatorischen, der Autonomie und Gleichheit verpflichteten Paradigma auf einen umfassenden Wandel abzielt. In diesem Sinne ist es wichtig, die Analyse Beth Lobos wiederaufzunehmen, die sich mit der Reformulierung der popularen und von Schwarzen Frauen entwickelten Praktiken der Strategien des Überlebens und des Widerstandes gegen Herrschaft und Unterordnung (Souza-Lobo, 2011) befasst.

Bezüglich der Tatsache, dass der Feminismus sich zu einem Projekt wandelt, das in der gesamten Gesellschaft präsent ist, gilt es zu bedenken, dass sich in diesem Bereich liberale Visionen des Feminismus ausbreiten.

Das materialisiert sich in verschiedenen Initiativen, wie etwa in der Gründung von sektoralen Organisationen von Fachleuten aus dem Mittelstand und der Wirtschaft und in diversen Initiativen für Beratung, Ausbildung und Marketing, in Blogs und sozialen Kanälen von liberalen Influencern.

In den akademischen Initiativen sehen wir Züge, die weniger kritisch sind. Es gibt in dieser Zusammensetzung verschiedene Arten von Initiativen. Heutzutage ist es üblich, die Beteiligung von Frauen in den Bereichen des Kapitalmanagement als Teil der "feministischen Agenda" zu verorten.

Die Agenda, die diese Sektoren als "feministisch" bezeichnen, ist sehr weit weg von dem, was der größte Teil der feministischen Bewegung historisch als das systemkritische Lager des Feminismus definiert hat. Dieser systemkritische Teil geht weit über die liberale Vision von individuellen Rechten, der Ermächtigung oder der "Gleichberechtigung" (equidad) mit den Männern der Mittelklasse oder Elite hinaus.

Die liberalen und reformistischen Vorstellungen beanspruchen den Feminismus für sich und sind dabei präsenter, als wir uns zunächst vorgestellt haben.

Ein Beispiel ist die Zentralität des Themas "Frauen und Macht", ohne das Machtmodell in Frage zu stellen und die Repräsentation in den Räumen der Macht als Lösung für Missstände zu betrachten. Die Medieninitiativen dieser Sektoren finden oft auch innerhalb der sozialen Bewegungen Anklang.

Aber das schlimmste ist, dass dies zu einer Verwässerung der Rolle der Frauenbewegungen beiträgt. Letztlich sind die individuellen und medialen Protagonistinnen gestärkt worden. Noch problematischer ist, dass damit die Aktion der popularen Sektoren der Frauenbewegung und ihr Beitrag zum tagtäglichen Widerstand unsichtbar gemacht werden.

Wie wir bereits festgestellt haben, ist Teil dieses Prozesses der Auseinandersetzung um Positionen innerhalb des Feminismus der Fähigkeit des herrschenden Sektors geschuldet, seine Offensive zur Kooptierung des Feminismus durch die Aufnahme von einzelnen Aspekten des feministischen Diskurses in die Unterhaltungsindustrie zu organisieren, mit der Unterstützung weiblicher Vertreterinnen der Eliten. Die Zweideutigkeiten dieses Prozesses können nicht verhindern, dass wir die Strategien der Banalisierung des kritischen Inhaltes des Feminismus erkennen.

Auf der anderen Seite wird der Feminismus durch die reaktionäre Offensive der Ultrarechten in die Zange genommen, so wie alle emanzipatorischen Kämpfe.

Das sind zwei die Seiten der gleichen neoliberalen Medaille. Diese Situation in ihrer Totalität zu betrachten, macht es schwerer die notwendigen Antworten zu finden, die der populare, antikapitalistische und antirassistische Feminismus geben muss.

Über das Erarbeiten und Erweitern einer kritischen Sichtweise sowie die Formulierung und Umsetzung feministischer Antworten hinaus bedeutet das Organisierung, das heißt, die Fähigkeit, eine Agenda aufzustellen, die Kämpfe materialisiert und den Weg zu einer anderen Ökonomie weisen kann.

Ein neues "Werden"

Eine große Herausforderung für den popularen Feminismus besteht darin, die globale Infragestellung des derzeitigen Modells und die Vision einer neuen Gesellschaft stärker zu thematisieren: Mit neuen Beziehungen, anderen Formen der Arbeitsorganisation, Sicherung der Nachhaltigkeit des Lebens, und Herausbildung neuer Subjektivitäten, die auf Autonomie, Gegenseitigkeit und Gleichheit (igualdad) basieren. Die Erfahrungen aus der tagtäglichen Praxis der Frauen tragen verschiedene Elemente zu der neuen Zukunft in sich: die Anerkennung und Wertschätzung der affektiven Beziehungen, Wohlergehen, Fürsorge und Transzendenz.

Dafür ist es zentral, die popularen Erfahrungen, die auf der Grundlage des täglichen Kampfes um die Erhaltung des Lebens organisiert werden, anzuerkennen und zu stärken. Diese Aktionen sind Erfahrungen, die auf das Kollektive ausgerichtet sind, in einer Perspektive der Gemeinschaftlichkeit. Sie spielen eine zentrale Rolle beim Aufbau von Verbindungen, der Besetzung von Territorien und der Neubestimmung der Grenzen zwischen den privaten und öffentlichen Räumen, da die Befriedigung von Bedürfnissen und das Wohlergehen kollektive Anliegen sind.

Schwarze, indigene, bäuerliche Frauen und Frauen der Peripherien sind in diesen Kämpfen und den Prozessen der Schaffung kollektiver Antworten die Protagonistinnen. Die Tatsache, dass sich die Eingliederung der Frauen in die Erwerbsarbeit auf die Pflegetätigkeiten konzentriert, wirkt sich auf ihre Rolle in den Kämpfen zur Verteidigung des Gemeinwesens und der Nachhaltigkeit des Lebens in der gesamten Gesellschaft aus.

Es ist notwendig, die Widerstandsprozesse mit Aktionen deutlich zu machen, die die Logik des Marktes durchbrechen. Diese Aktionen sind generell verbunden mit Forderungen an den Staat, aber auch mit der Wiedergewinnung anderer Formen des Zusammenlebens und der Kultur. Das steht dem aktuellen Modell entgegen, das die Menschen zu Konkurrenz, zum Individualismus, zur Abschottung vor Fernseh- und Handybildschirmen drängt, zu isolierten, von der Unterhaltungsindustrie definierten Formen der Freizeitgestaltung.

Der Aufbau dieser Prozesse und Räume bezieht die Gemeinschaft ein und fördert Erfahrungen kollektiver, selbstverwalteter, solidarischer und auf Gegenseitigkeit basierender Arbeit. Es sind Erfahrungen, die die Gegenwart verändern, und gleichzeitig auf die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Reorganisation ohne Ausbeutung und Hierarchien verweisen.

Von den Widerständen, Widerstandskräften und Vorschlägen der Frauen aus konkretisiert diese Vorstellung des Feminismus als Teil eines systemkritischen Projekts eine Aktion, die das Leben ins Zentrum stellt ‒ durch das Verständnis unserer gegenseitigen Abhängigkeit als menschliche Wesen und unsere Abhängigkeit von der Natur.

Die feministische Aktivistin Nalú Faria aus Brasilien ist u.a. Koordinatorin des dortigen Zweigs vom "Weltmarsch der Frauen" (Marcha Mundial das Mulheres)