Frauenmorde in Mexiko: "Kein Willen zur Aufklärung"

Ein Gespräch über Feminizide, Staatsversagen, Korruption und ein persönliches Versprechen von Präsident Andrés Manuel López Obrador

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Wandbild zu Ehren von María del Sol Cruz Jarquín in Oaxaca de Juárez: "Gerechtigkeit für Sol bedeutet Gerechtigkeit für alle"
Wandbild zu Ehren von María del Sol Cruz Jarquín in Oaxaca de Juárez: "Gerechtigkeit für Sol bedeutet Gerechtigkeit für alle"

Am 2. Juni 2018 wurde im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca die Fotojournalistin María del Sol Cruz Jarquín getötet. Vier Jahre später war ihre Mutter Soledad Jarquín Edgar auf einer Rundreise durch Europa, damit es endlich einen Fortschritt bei den Ermittlungen gibt. Sie sprach mit Abgeordneten des Europaparlaments, vor den Vereinten Nationen in Genf sowie mit verschiedenen Menschenrechts- und sozialen Organisationen. amerika21 konnte sie in Berlin zu einem Interview treffen.

Vier Jahre liegt der Mord an Ihrer Tochter María del Sol nun bereits zurück, amerika21 hatte mehrmals darüber berichtet. Können Sie noch einmal kurz beschreiben, was damals geschehen ist?

Meine Tochter ist im Kontext der Wahlen 2018 in Oaxaca ermordet worden. Es ist gut möglich, dass der Angriff der Kandidatin Pamela Terán gelten sollte. Meine Tochter hatte sie als Fotojournalistin wohl zu einem Wahlkampftermin begleitet. Terán, ihr Fahrer wie auch meine Tochter wurden aus einem Hinterhalt heraus erschossen.

Sind Sie deswegen derzeit in Europa unterwegs?

Ja, das ist der Grund unserer Reise. Noch immer wurde niemand für die Morde von der Justiz verurteilt, es wurden keine Verdächtigen ermittelt. Auf unserer Reise treffen wir verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich dem Kampf gegen Feminizide und der Gerechtigkeit in Mexiko verbunden fühlen. Wir kommen gerade aus Genf von den Vereinten Nationen, um eine internationale Klage gegen den mexikanischen Staat einzureichen. Nach vier Jahren ist praktisch nichts passiert, um Aufklärung zu leisten, auch wenn es mir unter anderem von Präsident Andrés Manuel López Obrador persönlich versprochen wurde.

Wo sehen Sie die Hauptverantwortung, dass es bisher keine Ermittlungsergebnisse gibt? Beim mexikanischen Staat und damit in der Hauptstadt Mexiko oder mehr auf der Ebene des Bundesstaats Oaxaca?

Beide stehen gleichermaßen in der Verantwortung. Im Fall meiner Tochter kommen mehrere Vergehen zusammen: ein Vergehen im Wahlprozess, da meine Tochter niemals an diesem Ort unter dem Vorwand der Wahl hätte sein dürfen1. Dann ein Femizid. Und schließlich auch ein Raub. Denn der Großteil der persönlichen Gegenstände, die meine Tochter an diesem Abend bei sich trug, waren anschließend verschwunden. Darunter ihr Presseausweis und die Bestätigung, dass sie für eine Kandidatin arbeitet. Ist das nicht äußerst merkwürdig? Bei keinem dieser Vergehen gibt es irgendeinen merklichen Fortschritt der Ermittlungen. Noch bevor wir um Akteneinblick baten, war für uns klar, dass es eine Verschleierung und ein Zurückhalten von Beweisen seitens der Justiz gibt.

Der Fall wurde schließlich, zumindest offiziell, aus drei Gründen an die Generalstaatsanwaltschaft übergeben: erstens, da meine Tochter mit Waffen getötet wurde, die ausschließlich das mexikanische Militär verwendet. Zweitens, da die drei Morde an meiner Tochter als Journalistin, der Kandidatin Terán und ihres Fahrers während eines Wahlkampftermins stattfanden. Und drittens, weil der Staatsanwalt von Oaxaca zuvor komplett untätig blieb. Wir habend drei schriftliche Anträge eingereicht, die Ermittlungen voranzutreiben. Nie wurde reagiert.

Schlussendlich sind sowohl Justiz und Regierung in der Hauptstadt wie auch in Oaxaca verantwortlich, dass nichts vorangeht. Ich habe persönlich mit dem Gouverneur von Oaxaca wie auch mit Präsident López Obrador gesprochen. Beiden habe ich mindestens 20 Staatsangestellte namentlich genannt, die trotz unseres Drängens bei den Ermittlungen untätig geblieben sind.

Was haben die beiden Ihnen geantwortet?

Der Gouverneur hat mich bereits kurz nach dem Mord persönlich angerufen und mir gesagt, dass er alles tun wird, um herauszufinden, was mit meiner Tochter passiert ist und dass die Täter gefunden und bestraft werden. Ein Jahr später hat er mir genau das Gleiche nochmal erzählt. Als ich ihm entgegnete, dass der Staatsanwalt nach wie vor untätig ist, sagte er wieder: "Keine Sorge, ich kümmere mich".

Und dieses "keine Sorge, ich kümmere mich" hören Sie jetzt seit vier Jahren, inklusive vom Präsidenten selbst?

Exakt! Im Dezember 2020 habe ich mit dem Präsidenten gesprochen und er sagte mir: "Wir werden den Fall lösen". Das glaube ich ihm bis heute nicht. Denn wenn er sich wirklich dafür einsetzen würde, als Präsident, müsste doch irgendein Fortschritt erkennbar sein. Aber nichts. Sollte er sich jemals dafür entschuldigen wollen, ich würde die Entschuldigung nicht annehmen. Niemals!

Nun waren sie vor ein paar Tagen sogar bei den Vereinten Nationen (UNO) in Genf. Glauben Sie daran, dass die UNO überhaupt die Möglichkeit dazu hat, in Mexiko darauf einzuwirken, dass die Ermittlungen vorangehen?

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Die Journalistin und Mutter Soledad Jarquín Edgar (mitte) bei einem Fachgespräch in Berlin
Die Journalistin und Mutter Soledad Jarquín Edgar (mitte) bei einem Fachgespräch in Berlin

Der mexikanische Staat hat verschiedene internationale Abkommen wie die Frauenrechtskonvention Cedaw [Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau] unterzeichnet. Das ist das wichtigste internationale Instrument zum Schutz von Frauen. Man kann dem Cedaw-Komitee Klagen übergeben, im Rahmen des sogenannten Fakultativ-Protokolls. Das haben wir getan und hoffen darauf, dass sie die Klage akzeptieren und gegenüber dem mexikanischen Staat aktiv werden. Das ist der Ansatzpunkt, denn an diese Konvention muss sich Mexiko halten. Aber selbst wenn es dazu kommt, das wird noch ein langer und steiniger Weg, bis der Mord an meiner Tochter hoffentlich aufgeklärt wird. Denn in Mexiko wird man alles hinauszögern und nur tun und zugeben, was wirklich sein muss.

Befindet sich Mexiko Ihrer Meinung in einem Krieg? Einem Bürgerkrieg?

Ich bin nun seit 40 Jahren Journalistin. Der frühere Präsident Calderón2 erklärte bei seinem Amtsantritt 2006 den Krieg gegen die Drogen. Das war ein sehr ungleicher Krieg. Für diejenigen, die weder zur einen noch zur anderen Seite gehörten, begann eine sehr schwierige Zeit. Es gab viele Massaker, Schießereien mit unbeteiligten Toten. Und bis heute gibt es keine Regierung, die eine Politik gemacht hätte, diesen Krieg zu beenden. Wir wissen heute, dass Vertreter der Regierungen Calderon und Peña Nieto3 gemeinsame Sache mit dem Drogenhandel gemacht haben, über die Regierung von Amlo können wir es heute noch nicht sagen.

Die Auswirkungen des Krieges muss jede Mexikanerin und jeder Mexikaner auf einer persönlichen Ebene ertragen. Offiziell sind über 100.000 Personen verschwunden. Wir befinden uns in einem "nicht-deklarierten" Bürgerkrieg. Wir leben in einem Status der Angst.

Laut offiziellen Zahlen wurden in Mexiko im Jahr 2021 über 1.000 Frauen ermordet. Kann man in Mexiko auch von einem Krieg gegen Frauen sprechen?

Die Dunkelziffer der Femizide dürfte weitaus höher liegen. Wir gehen von etwa elf Frauenmorden am Tag aus. Da könnte man schon den Begriff "Krieg" verwenden.

Wir beobachten da verschiedene Faktoren. Einer ist der Anstieg der Zahl der Waffen auf den Straßen, was auch zu einer größeren Gefahr für Frauen führt. Dann gibt es neben dem Drogenhandel und den damit einhergehenden Gefahren auch einen weitverbreiteten Menschenhandel. Auch davon sind zu großen Teilen Frauen betroffen, Stichwort sexuelle Ausbeutung. Und dann kommt noch dazu, dass sich Frauen endlich bestimmter Räume ermächtigen, in Räume der Gesellschaft vorstoßen, die bisher Männern vorbehalten waren. Zum Beispiel in der Politik, aber auch im Journalismus. Das bedeutet aber gleichzeitig auch ein erhöhtes Risiko. Und zuhause sind Frauen der meisten Gewalt ausgesetzt, schlussendlich nur weil sie existieren. Es gibt viele Gesichter der Gewalt gegen Frauen.

Seit 2007 gibt es in Mexiko das Gesetz "Ley General de Acceso de las Mujeres a una Vida Libre de Violencia" (Allgemeines Gesetz über den Zugang von Frauen zu einem Leben frei von Gewalt). Das klingt im Vergleich zu anderen Ländern sehr fortschrittlich. Hilft das den Frauen nicht?

Das ist sogar nur eines von vielen Gesetzen, die es in Mexiko zum Schutz von Frauen gibt. Leider herrscht in diesem Land eine sehr weitverbreitete Nichteinhaltung von Gesetzen. Seit 2016 gilt das Gesetz der Gleichstellung der Geschlechter. Seitdem müssen beispielsweise der Kongress und der Senat zu mindestens 50 Prozent mit Frauen besetzt sein. Viele dieser Frauen arbeiteten seit 2016 an Gesetzen "für die Frauen". Es wird beinahe schon in einem extremen Ausmaß an neuen Gesetzen gearbeitet, auch an der Überarbeitung bereits bestehender Gesetze. Allein im vergangenen Jahr wurden 99 Änderungen an sieben Gesetzen vorgenommen, die die Gleichstellung von Frauen behandeln. Das Problem sind also nicht fehlende Gesetze, sondern deren Umsetzung. Die Theorie mag stimmen, die Praxis tut es offensichtlich nicht, wie die hohe Zahl an Feminiziden und die grassierende Straflosigkeit deutlich zeigen.

Muss man dann nicht von einem Versagen des mexikanischen Staates sprechen, wenn es um den Schutz von Frauen geht?

Genau das ist es. Ein totales Versagen der Regierungen auf Bundesebene, in den Bundesstaaten wie auch auf kommunaler Ebene. Niemand dort versteht, welche Bedeutung Frauen für das tägliche Leben haben. Das Leben von Frauen zählt hier weniger als das der Männer.

Dieses Versagen ist auch ein Resultat der immensen Korruption in unserem Land. Praktisch niemand in Mexiko wird besser bezahlt als Politiker. Politiker, die nicht tun, was sie eigentlich tun sollten und wofür sie gewählt wurden.

Aber auch die Justiz scheint Teil dieses staatlichen Versagens zu sein. Warum sorgt sich die Justiz nicht darum, dass geltende Gesetze eingehalten werden?

Auch da fehlt schlicht der Wille, gerade in Bezug auf den Schutz von Frauen. Und es würde nicht ausreichen, einzelne Personen auszuwechseln. Man muss das gesamte Justizsystem überarbeiten. Das Amt des Staatsanwaltes ist ein politisches. Er wird von der Politik ausgewählt. Dann gibt es auch in den Staatsanwaltschaften ein hohes Maß an Korruption, insbesondere in der Zusammenarbeit mit der Polizei. Natürlich arbeiten nicht alle Polizisten schlecht, aber ein sehr großer Teil.

Frau Jarquín Edgar, wir danken Ihnen sehr für dieses Gespräch!

  • 1. Die Stadträtin Pamela Terán von der Partei PRI (Partei der Institutionellen Revolution) wurde offenbar unter dem Vorwand, es handle sich um eine Wahlkampfveranstaltung, in die Gemeinde Juchitán Zaragozaort geschickt, wo die Mörder sie erwarteten. Da sie als Fotojournalistin für die Kampagne engagiert war, begleitete María del Sol Cruz Jarquín sie
  • 2. Felipe Calderón war von 2006 bis 2012 Präsident von Mexiko
  • 3. Enrique Peña Nieto war von 2012 bis 2018 Präsident von Mexiko