Lateinamerika / Politik

Kräfteverschiebungen in Lateinamerika

Weniger Einfluss Deutschlands und der EU. USA geschwächt, Experten sprechen vom "post-amerikanischen Lateinamerika"

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Lateinamerika auf dem Weg der Befreiung vom Kolonialismus: Gemälde des argentinischen Künstlers Xul Solar
Lateinamerika auf dem Weg der Befreiung vom Kolonialismus: Gemälde des argentinischen Künstlers Xul Solar

Deutschland und die Europäische Union drohen in Lateinamerika noch weiter an Einfluss zu verlieren. Dies geht aus Wirtschaftsdaten sowie aus einer aktuellen Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hervor. Demnach verzeichnet die EU "trotz langjähriger Präsenz in der Region“ dort schon heute "Positionsverluste bei Handel und Investitionen". In Lateinamerika selbst haben sich die Gewichte erheblich verschoben.

Während die Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten dort aufgrund ihrer "Gleichgültigkeit" gegenüber weiten Teilen der Region schwächer geworden seien, sei Chinas Einfluss in die Höhe geschnellt, erklären US-Experten. Dies ermöglicht es diversen lateinamerikanischen Staaten nun, eine spürbar eigenständigere Außenpolitik zu entwickeln. Jüngstes Beispiel ist Argentinien, das erst vor kurzem bekräftigt hat, dem Brics-Bündnis beitreten zu wollen, das seinerseits darauf zielt, Schwellenländern den weiteren Aufstieg zu ermöglichen – auch gegen den Widerstand der westlichen Mächte. Deutlich wurden die Kräfteverschiebungen erst vor kurzem, beim Streit um den jüngsten Amerikagipfel.

Instrument der US-Außenpolitik

Ausgangspunkt der Analyse, die die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik kürzlich vorgelegt hat, ist der 9. Amerikagipfel (Summit of the Americas/Cumbre de las Americas), der vom 6. bis zum 10. Juni in Los Angeles abgehalten wurde (amerika21 berichtete). Zu den Amerikagipfeln kommen alle drei bis vier Jahre die Staats- und Regierungschefs aller Mitglieder der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zusammen. Ursprüngliches Ziel der Veranstaltungen, deren erste schon im Jahr 1994 stattfand, war es, die kontinentale Kooperation zu intensivieren. Dabei stand zunächst vor allem ein gesamtamerikanisches Freihandelsabkommen auf der Tagesordnung, das jedoch nicht zustande kam und 2005 zu den Akten gelegt wurde.

Experten weisen darauf hin, dass die Amerikagipfel von Anfang an von "tiefgreifenden ökonomischen und geografischen Ungleichheiten" geprägt gewesen seien, die es zu einer "Herausforderung" gemacht hätten, "gemeinsame Interessen zu identifizieren oder einen Konsens zu bilden".1 Die SWP bestätigt, es habe immer eine "große Asymmetrie zwischen Washington und den übrigen Teilnehmern" gegeben; im Kern seien die Gipfeltreffen als "ein Instrument der US-Außenpolitik entwickelt" worden.2

Ausschluss und Boykott

Der 9. Amerikagipfel wird allgemein als weitgehend ergebnislos eingestuft. Absprachen wurden vor allem zur Abwehr von Flüchtlingen getroffen, die aus bzw. über Zentralamerika in die Vereinigten Staaten zu gelangen versuchen, um ausufernder Gewalt und krassem Elend in ihren Herkunftsländern zu entkommen. Darüber hinaus warben die USA für die Americas Partnership for Economic Prosperity, eine Art Wirtschaftskoordination, die allerdings bislang nicht mehr als ein Diskussionsvorschlag ist und vor allem als Lockmittel fungieren soll. Ihre Wirkung ist dementsprechend minimal.

Wellen geschlagen hat, dass US-Präsident Biden sich weigerte, die Staatschefs Kubas, Venezuelas und Nicaraguas einzuladen, woraufhin mehrere andere Staatschefs ihre Teilnahme unter Protest absagten, darunter Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador; Mexiko ist einer der größten und einflussreichsten Staaten ganz Lateinamerikas. Letzten Endes musste das Weiße Haus mitteilen, von den alles in allem 35 Staaten Amerikas und der Karibik seien lediglich 23 mit ihren Staats- und Regierungschefs in Los Angeles vertreten. Auch von Teilnehmern des Amerikagipfels wurde das Vorgehen der Biden-Administration scharf kritisiert.

Das post-amerikanische Lateinamerika

Mit Blick auf die Auseinandersetzungen und die Ergebnislosigkeit des Gipfels weisen Experten auf zweierlei hin. Zum einen hat, so hieß es kürzlich in der US-Zeitschrift Foreign Affairs, "der Ruf der Vereinigten Staaten" in ganz Lateinamerika in den vergangenen zwei Jahrzehnten spürbar gelitten – dies "besonders wegen der gewaltigen Lücke zwischen Washingtons Anspruch auf bedeutungsvolle Führung und seiner gleichzeitig zu beklagende Gleichgültigkeit gegenüber der Region".3

Es kommt hinzu, dass Chinas Einfluss deutlich zugenommen hat. Im Jahr 2021 erreichte der Handel zwischen der Volksrepublik und Lateinamerika ein Volumen von 450 Milliarden US-Dollar; er könnte laut Schätzungen bis 2035 weiter auf 700 Milliarden US-Dollar steigen.4 China ist mittlerweile der größte Handelspartner Südamerikas und der zweitgrößte ganz Lateinamerikas nach den USA. Washington werde "lernen müssen", urteilt ein Experte der Fundação Getulio Vargas in Rio de Janeiro, "mit einer Region zu arbeiten, die weniger von ihm abhängig ist als zu jedem Zeitpunkt in den vergangenen Jahrzehnten".5 In Foreign Affairs wurde dazu unlängst das Schlagwort "post-amerikanisches Lateinamerika" geprägt.

No alineamiento activo

Zwar hat Lateinamerika insgesamt, wie es kürzlich bei der SWP hieß, parallel zum Aufstieg Asiens einen gewissen "Bedeutungsverlust" hinnehmen müssen.6 Allerdings verfügt es nun über Chancen, "angesichts wachsender geopolitischer Konkurrenz" vor allem zwischen den USA, der EU, China und Russland "eine selektive Politik diversifizierter Außenbeziehungen" zu treiben. Insofern werde "die geopolitische Neustrukturierung der internationalen Politik ... von vielen Staaten Lateinamerikas als Chance wahrgenommen, eine neue strategische Relevanz zu gewinnen, mit der sich die strukturelle Schwäche der Region auf globaler Bühne überwinden lässt": Die einzelnen Staaten suchten mehr oder weniger "zwischen atlantischer Einbindung und Seidenstraßen-Konnektivität ... ihren jeweils eigenen Weg".

Von einem "no alineamiento activo" sei die Rede. Tatsächlich erklärt sich aus dem Streben nach größerer Eigenständigkeit beispielsweise das Ansinnen Argentiniens, dem Brics-Bündnis (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) beizutreten. Drei der vier größten Handelspartner des Landes gehörten den Brics an, hielt der argentinische Außenminister Santiago Cafiero vor knapp zwei Wochen fest.7

Europa fällt zurück

In der aktuellen Situation müsse sich auch die EU darum bemühen, in Lateinamerika nicht noch weiter an Einfluss zu verlieren, warnt die SWP. Schon jetzt hätten die Staaten Europas "trotz langjähriger Präsenz in der Region ... deutliche Positionsverluste bei Handel und Investitionen zu verzeichnen".8

Ein Beispiel bietet Brasilien, Deutschlands bedeutendster Wirtschaftspartner in Südamerika: War die Bundesrepublik im Jahr 2002 noch mit einem Anteil von 9,4 Prozent drittwichtigster Lieferant des Landes, ist ihr Anteil mittlerweile auf 5,8 Prozent zurückgefallen; von den hinteren Rängen an die Spitze geschnellt ist China, mit 22,1 Prozent Lieferanteil.

Die SWP warnt, leiteten Deutschland und die EU keine Schritte ein, die ihrem Lateinamerikageschäft aufhälfen, dann drohten sie weiter zurückzufallen. Nicht hilfreich sei es, dass die Staaten Europas sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs spürbar stärker um lateinamerikanische Rohstoffe bemühten: In Mittel- und Südamerika sei "kein konsistentes Erwartungsprofil der Europäer erkennbar", schreibt die SWP, "wenn diese ihre Nachfrage nach Kohleimporten aus der Region erhöhen, zugleich aber Fortschritte bei der dortigen Dekarbonisierung einfordern". Da sei größeres Geschick gefragt.

  • 1. Oliver Stuenkel: A Fragmented Western Hemisphere, Declining U.S. Influence. cfr.org 10.06.2022.
  • 2. Günther Maihold: Amerika-Gipfel mit hemisphärischen Divergenzen. Warum Lateinamerika auf Unabhängigkeit setzt und was das für Europa bedeutet. SWP-Aktuell 2022/A 42. Berlin, 07.07.2022.
  • 3. Michael Shifter, Bruno Binetti: A Policy for a Post-American Latin America. foreignaffairs.com 03.06.2022.
  • 4. Diana Roy: China’s Growing Influence in Latin America. cfr.org 12.04.2022.
  • 5. Oliver Stuenkel: A Fragmented Western Hemisphere, Declining U.S. Influence. cfr.org 10.06.2022.
  • 6. Günther Maihold: Amerika-Gipfel mit hemisphärischen Divergenzen. Warum Lateinamerika auf Unabhängigkeit setzt und was das für Europa bedeutet. SWP-Aktuell 2022/A 42. Berlin, 07.07.2022.
  • 7. China once again backs Argentina joining Brics. en.mercopress.com 07.07.2022.
  • 8. Günther Maihold: Amerika-Gipfel mit hemisphärischen Divergenzen. Warum Lateinamerika auf Unabhängigkeit setzt und was das für Europa bedeutet. SWP-Aktuell 2022/A 42. Berlin, 07.07.2022.