Der merkwürdige Aufstand

Eine Palastrevolte, Großbritannien und die internationale Intervention in Libyen

artikelspiegel.jpg

Titel zur Verhaftung des SAS-Kommandos bebildert Spiegel-Online mit moderner Boden-Luft-Rakete in der Hand von Aufständischen
Titel zur Verhaftung des SAS-Kommandos bebildert Spiegel-Online mit moderner Boden-Luft-Rakete in der Hand von Aufständischen

Am Freitag den 18. März, genau einen Monat nachdem die politische Krise in Libyen ihren Anfang nahm, begann eine internationale Koalition mit Angriffen auf reguläre libysche Truppen. Wie immer bei den Kriegen der vergangenen 20 Jahre setzen die westlichen Streitkräfte auf ihre technische Überlegenheit aus der Luft: Marschflugkörper sowie eine Armada aus Jagdflugzeugen und Bombern zerstören Panzer, Flugzeuge, Luftabwehrstellungen und offizielle Gebäude. Die Bilanz allein der ersten Nacht beträgt etwa 50 Tote.

Die Besonderheiten dieses Einsatzes, der praktisch über Nacht vom UNO-Sicherheitsrat durch die überraschende Enthaltung von Deutschland, Russland, China, Brasilien und Indien beschlossen wurde, liegen in der aktuellen Situation in den arabisch sprachigen Ländern und am uneinheitlichen Bild dieser neuen "Koalition der Willigen". Innerhalb der EU ist der Einsatz offensichtlich umstritten und auch Vertreter der US-Regierung zeigen sich bei ihren öffentlichen Statements merkwürdig zurückhaltend.

Viele Länder des Südens verurteilen die Angriffe. Fidel Castro, Senior-Chef der lateinamerikanischen Linken, meldete sich bereits am 22. Februar zu Wort: "Für mich steht es aber außer Zweifel, dass (...) sie nicht zögern werden, der NATO den Befehl zum Einmarsch in dieses reiche Land zu geben." Am selben Tag  erklärte der venezolanische Außenminister Nicolas Maduro, er bete, dass das libysche Volk eine friedliche Lösung seiner Probleme erreicht (...) ohne imperialistische Einmischung zuzulassen.

Tatsächlich bietet die Berichterstattung über die Ereignisse in Libyen zahlreiche Details, die nicht recht in das Schema der erfolgreichen Aufstände in den Nachbarländern passen wollen.

Da ist zunächst die Rolle von Gaddafis Innenminister Abdulfattah Junis. Am 17. Februar verschwand Junis aus Tripolis und wurde zunächst von Gaddafi für tot erklärt. Dieser Umstand brachte dem alternden Revolutionsführer später in der westlichen Presse reichlich Spott und Häme ein. Denn Junis tauchte sechs Tage später in der Rebellenhochburg Bengasi wieder auf und erklärte nun seine Unterstützung für die zwischenzeitlich auf den Namen "Bewegung des 17. Februar" getaufte Opposition. Die ernannte ihn zunächst zum Militärchef, inzwischen ist er als Generalstabschef zuständig für die Kontakte mit den alliierten Armeeführungen.

Am 20. und 21. Februar folgten der libysche Justizminister Mustafa Abdul Jalil und der Generalstaatsanwalt Abdul-Rahman al-Abbar dem Beispiel von Junis und erklärten, dass sie nunmehr die Opposition unterstützen. Bemerkenswert daran ist nicht nur, dass die drei wichtigsten Funktionäre der staatlichen Repression im Polizeistaat Libyen, und damit drei Personen, die auch beruflich aufs Engste miteinander verbunden sind, scheinbar umstandslos zur bewaffneten Opposition überliefen.

Zumindest bei Junis bietet die Berichterstattung aus Libyen einige Hinweise darauf, dass er in seiner Funktion als Innenminister den Ausbruch der Unruhen in einer letzten Amtshandlung mit befördert haben könnte. Bereits am 17. Februar sei der Befehl vom Hauptquartier in Tripolis gekommen, die Polizeistationen zu verlassen, erklärt ein hochrangiger Polizist aus Tobruk der Reporterin Amira El Ahl. "Wir wurden aufgefordert, unsere Uniformen auszuziehen und nach Hause zu gehen."

In Bengasi gründete dieses Triumvirat Ende Februar einen "Nationalrat", der inzwischen als wichtigster Ansprechpartner der westlichen Alliierten fungiert. Nach kurzen Konflikten übernahm Justizminister Abdul Jalil die Leitung dieser Gegenregierung. Zunächst hatte Innenminister Junis Anspruch auf die formale Führungsrolle erhoben. Allerdings schien die Führung der Opposition durch den ehemaligen Innenminister politisch noch schwerer zu vermitteln als die durch den Justizminister. 

Beide Politiker verfügen seit langem über gute Beziehungen in den Westen. Jalil hatte sich "ausländischen Diplomaten zufolge schon früher dem Westen gegenüber als `aufgeschlossen und kooperationsbereit` gezeigt". Auch Innenminister Junis verfügt über qualifizierte eigene Kontakte, namentlich nach Großbritannien. Mit der britischen Regierung verhandelte er ab 1992 den gemeinsamen Umgang mit verschiedenen Gewalt- und Terrorismusdelikten.

Ausgerechnet die britische Regierung engagierte sich sich frühzeitig und äußerst undiplomatisch für einen Regime-Change in Libyen. Bereits Ende Februar hatte Premier David Cameron den Einsatz britischer Bodentruppen in Libyen und die Bewaffnung libyscher Aufständischer nicht ausgeschlossen. Außenmister William Hague kolportierte am 2. März Gaddafi sei nach Venezuela geflohen. Während am 21. März noch alle Koalitionäre Wert darauf legten, dass die UNO-Resolution weder Bodentruppen noch Aktionen gegen Gaddafi erlaube, erklärte der britische Verteidigungsminister Liam Fox gegenüber der BBC, ein Angriff auf Gaddafi sei "eventuell eine Möglichkeit".

Zu diesem Zeitpunkt waren seit langem britische Bodentruppen in Libyen im Einsatz. Schon am 4. März flog ein Einsatz der Special Air Service (SAS) in der Nähe von Bengasi auf, weil die Gruppe "schwer bewaffneter Soldaten" ausgerechnet durch Truppen der Aufständischen verhaftet wurde. Aus "Berliner Sicherheitskreisen" wurde dem Magazin Focus am 19. März gesteckt, dass getarnte Teams des SAS und des Special Boat Service (SBS)  "bereits vor Wochen" eingesickert seien. Das britische Blatt Daily Mail berichtet am 25. März, dass es sich dabei um 250 Soldaten handelt, die bereits seit einem Monat in Libyen im Einsatz seien.

Großbritannien ist zudem seit Jahrzehnten das Zentrum der libyschen Exilorganisationen. Im Jahr 2006 gründete sich in London die National Conference for the Libyan Opposition, welche die größten Oppositionsgruppen abzüglich der Islamisten organisiert. Mit deren Hilfe hatte der britische Auslandsgeheimdienst angeblich noch im Februar 1996 einen Anschlagversuch auf Gaddafi ausgeführt.

Dieses unheilige Bündnis mit der Libyan Islamic Fighting Group fand sein offizielles Ende erst nach den Angriffen des 11. September auf die USA. Dass Gaddafi nun öffentlich Al-Qaida für die aktuellen Vorgänge verantwortlich macht, ist zumindest nicht völlig aus der Luft gegriffen. Auch der Präsident des Nachbarlandes Tschad bestätigt, dass Al-Qaida eine aktive Rolle bei den Unruhen spielt und geht außerdem davon aus, dass sich Militante der Organisation Al-Qaida des Islamischen Maghreb durch die Vorgänge mit modernen Boden-Luft-Raketen ausrüsten konnten.

Eine merkwürdige Koalition

Für Ende März lädt die britische Regierung nun zu einer internationalen Libyen-Konferenz nach London ein, auf der die "Koalition der Willigen" eine langfristige Strategie abstimmen will. Dass diese Koalition überhaupt zustande kam, und die Briten mit ihrem libyschen Abenteuer, das offensichtlich Anfang März durch die Gegenoffensive des Regimes kurz vor dem Scheitern stand, nicht allein gelassen wurden, lag wesentlich an einem plötzlichen Sinneswandel der französischen Regierung, die zwischenzeitlich Großbritannien als Wortführer abgelöst hat und am 18. März mit den Luftangriffen auf Libyen begann.

Die Außenminister des Nationalrats, Mahmud Jibril und Ali al-Issawi, beide ebenfalls wichtige Figuren aus Gaddafis Regime, wurden am 10. März im Elysee-Palast von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy empfangen. Am selben Tag anerkannte Frankreich überraschend und ohne weitere Absprachen innerhalb der EU den Nationalrat als legitime Vertretung der libyschen Rebellen. Jetzt erst fanden sich in Europa die wichtigsten Handelspartner Libyens für die Koalition zusammen: Großbritannien, Frankreich, Spanien, Niederlande und Italien, oder polemisch ausgedrückt: British Petroleum, Total, Repsol YPF, Shell und Eni.

Das Spiel um libysches Erdöl und Erdgas bestimmt den Konflikt derart offensichtlich, dass der Nationalrat bereits am 18. März, eine Woche nach dem Besuch in Frankreich, eine eigene "Nationale Ölgesellschaft" gründete, berichtete der Nachrichtensender Bloomberg. Die Gesellschaft solle die staatliche Libyan National Oil Corp. ersetzen, die bis vor wenigen Jahren der Alleinbetreiber der libyschen Erdölproduktion war. Seit dem Jahr 2003 erlaubt die libysche Regierung den oben genannten Unternehmen zwar Beteiligungen, begrenzt diese aber auf maximal 49 Prozent.

Ein interessantes Phänomen bleibt die Zurückhaltung Deutschlands. Außenminister Westerwelle begründete seine Enthaltung bei der Abstimmung im UNO-Sicherheitsrat damit, dass weder die Ziele des Einsatzes noch der Charakter des Nationalrates ausreichend geklärt seien. Eine solch weitreichende Entscheidung treffen Außenminister nicht aufgrund fehlenden Wissens. Sein Amtsvorgänger Steinmeier, mit dem er sich vor der Entscheidung konsultiert hatte, unterstützte ihn in dieser Entscheidung und griff intern angeblich zu einer deutlicheren Formulierung: Die Rolle Frankreichs sei zweifelhaft und die Zusammensetzung des libyschen Revolutionsrats sei auch nicht so nobel, wie manche meinten.

Dirk Niebel konkretisierte die deutsche Position noch deutlicher: "Es ist schon bemerkenswert, dass gerade die Nationen munter in Libyen bomben, die noch Öl von Libyen beziehen. Deutschland dagegen will offenbar als einziges Land einen absoluten Öl-Boykott", erklärte der Minister in der Sendung Maybrit Illner. Doch die mangelnde moralische Qualifizierung von Koalitionspartnern dürfte kaum ausreichen, um eine Entscheidung herbeizuführen, die Deutschland innerhalb von NATO und EU isoliert.

Die größere Dimension versteckt sich möglicherweise hinter der Formulierung: Das Ziel des militärischen Engagements ist nicht klar definiert. Wenn Leute wie Merkel, Westerwelle und Steinmeier an diesem Punkt vor internationalen Verpflichtungen zurückschrecken, dann enthalten die Ziele dieses militärischen Engagements Dimensionen, die auf lange Zeit die Außenpolitik prägen werden - möglicherweise weit über Libyen hinaus.

Dass eine solche Ausrichtung zwischen London und Paris ausgemacht ist, darauf weisen die markigen Sprüche Sarkozys hin, nachdem die NATO das Kommando über den Einsatz im Mittelmeer von den USA übernahm: "Vor allem jeder arabische Herrscher muss verstehen, dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft und Europas von nun an jedes Mal die Gleiche sein wird."