Transpersonen in Kolumbien führen derzeit einen bedeutenden politisch-juristischen Kampf. Ein bahnbrechendes Gesetz für die Transgemeinschaft scheint erstmals in greifbarer Nähe: Seit mehreren Wochen debattiert der Kongress über einen Gesetzentwurf, der die Lebensbedingungen von Trans- und nicht-binären Personen nachhaltig verbessern soll.
Sollte das Gesetz verabschiedet werden, würde Kolumbien das weltweit umfassendste und fortschrittlichste Transgesetz einführen. Dieses könnte nicht nur als Vorbild für andere Länder dienen, sondern auch den Weg für weitere Reformen ebnen.
Am 31. Juli reichte die Trans-Community den Entwurf des "Ley Integral Trans" im Kongress ein. Dies wurde von der Trans-Community und ihren Unterstützern mit Tanz, Gesang und Fahnen mit Porträts von Transpersonen begleitet.
Die Stimmen dieser Community waren entscheidend für die Entstehung des Gesetzentwurfs.
Nico Rueda, transmaskuliner Aktivist und Mitbegründer des Kollektivs "Transgarte" an der Karibikküste, unterstreicht im Gespräch mit amerika21, warum diese Initiative einen lang gehegten Traum der Transgemeinschaft verwirklichen könnte. Er betont, dass der Gesetzentwurf von der Gemeinschaft selbst stammt: "Der Impuls für das Ley Integral Trans kam direkt von Transpersonen und ihrem landesweiten Netzwerk." Besonders stolz sei die Community darauf, dass das Gesetz nicht von oben diktiert wurde, sondern von der Basis getragen werde.
Rueda, der maßgeblich am Prozess des "Ley Integral Trans" beteiligt war, erklärt die besondere Bedeutung dieses Moments: "Das Gesetz ist ein Kind des Kollektivs. Es ist ein Wunder!" Es sei ungewöhnlich, dass so viele Menschen aus über 70 Prozent der Regionen des Landes an einem Rechtsprojekt mitwirken und es bis in den Kongress schaffen.
Den Grund für diesen Erfolg sieht Rueda in der aktuellen politischen Lage: "Ohne den Willen und die Unterstützung der ersten linken Regierung Kolumbiens, die 2022 ein Ministerium für Gleichstellung geschaffen hat, wäre der Traum von einem umfassenden Gesetz für Transpersonen wahrscheinlich nicht realisierbar gewesen."
Das Projekt entstand aus einem über zwei Jahre dauernden Prozess, an dem mehr als 100 Organisationen, Aktivisten und deren Sympathisanten beteiligt waren. Über 1.300 Trans- und nicht-binäre Personen nahmen an einer Umfrage teil, die die Grundlage für den Gesetzestext bildete.
Hauptziel der Initiative ist die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit verschiedenen Geschlechtsidentitäten. Der Entwurf umfasst 53 Artikel und wurde von 35 Abgeordneten aus verschiedenen Parteien unterstützt. Der Kongress wird den Text in mehreren Debatten besprechen. Wie bei der Verabschiedung neuer Gesetze üblich, könnte sich dies über ein Jahr hinziehen.
Inhaltlich geht der Gesetzestext über grundlegende Rechte hinaus, da er neben der Anerkennung der Geschlechtsidentität, dem Schutz vor Diskriminierung und Gewalt, einen besseren Zugang zu körperlicher und geistiger Gesundheitsbehandlung, eine bessere Versorgung in ländlichen Gebieten, eine stärkere Eingliederung in die Bildung und mehr Beschäftigungsmöglichkeiten beinhaltet. Zusätzlich wird eine Befreiung vom Militärdienst für Trans-Männer gefordert. Der Entwurf schlägt außerdem vor, öffentliche Politiken so zu gestalten, dass diese künftig zur Aufklärung über Trans- und nicht-binäre Personen beitragen.
Laut Rueda würde dieses Gesetz die "rechtlichen Lücken stopfen”, die der Staat bisher vernachlässigt habe. Kolumbien sei kein großes Vorbild sei, was den Schutz der Menschenrechte betreffe.
Die Verabschiedung des Gesetzes wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung, da sie nicht nur rechtliche Sicherheiten bieten, sondern auch die Trans-Community in das öffentliche Bewusstsein rücken würde. Rueda sieht darin einen entscheidenden Beitrag zum sozialen Wandel. "Es geht nicht nur um die Gewährleistung unserer Rechte, wir wollen, dass die Gesellschaft versteht, dass wir auch nur Menschen sind, die in Ruhe leben wollen". Dafür seien Bildungsinitiativen in den Schulen und andernorts unabdingbar.
Andrés Cancimance, der Vertreter des "Historischen Paktes" für Putumayo im Abgeordnetenhaus, der das Projekt leitet, äußerte am Tag der Vorlage des Entwurfs, er glaube, dass "dies eine historische Gelegenheit ist, die Rechte einer Bevölkerung zu verteidigen, die es wie alle anderen verdient, in Würde zu leben".
Die Abgeordnete Carmen Felisa Ramírez ging auf die im Exil lebenden Transpersonen ein und erklärte, warum das Gesetzesprojekt auch in dieser Hinsicht wichtig sei: "Es gibt Tausende von Menschen, die das Land verlassen mussten, weil sie wegen ihrer sexuellen Orientierung misshandelt wurden, so dass sich eine große unsichtbare Migrationswelle gebildet hat." Dies müsse verhindert werden, deshalb sei diese Initiative von grundlegender Bedeutung, sagte sie.
Das Gesetz berücksichtigt nicht nur aktuelle Missstände, sondern geht auch auf die historische Ungerechtigkeit ein, die Transmenschen während des bewaffneten internen Konflikts widerfahren ist. Es sieht Maßnahmen zur Wiedergutmachung vor, die darauf abzielen, das vom Staat verursachte oder durch dessen Untätigkeit beförderte Leid anzuerkennen.
Gefährlicher Ort für Trans-Community
Dass Kolumbien kein sicherer Ort für Transpersonen ist, zeigen die Statistiken. In den letzten Jahren war Kolumbien das lateinamerikanische Land mit der höchsten Zahl von Morden. Aus dem Jahresbericht 2023 der Organisation "Colombia Diversa”, die sich der Aufgabe verschrieben hat, Diskriminierung und Gewalt gegen die LGBTI+-Gemeinschaft ans Licht zu bringen, ging hervor, dass Morde an homosexuellen Männer mit 60 Tötungen an der Spitze standen, gefolgt von Trans-Frauen mit 45 und sechs Morden von Transmännern. Insgesamt fielen 159 LGBTIQ+-Personen tödlicher Gewalt zum Opfer. Die Mehrheit war zwischen 29 und 52 Jahre jung und gehörten der Arbeiterklasse an. Sechs der getöteten Personen waren Sexarbeiter: innen. Ein bedeutender Anteil hatte afro-kolumbianische Wurzeln oder waren Menschenrechtsverteidiger: innen.
Laut der Nationalen Aufsichtsbehörde für Gesundheit liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von Transpersonen im Land bei nur 35 Jahren – im Vergleich zu 70 Jahren in der übrigen Bevölkerung.
Auch die Organisation "Caribe Afirmativo" setzt sich für die LGBTIQ+-Gemeinschaft ein und bestätigt dies. Die Organisation betonte die Notwendigkeit des Gesetzes und erklärt, sie habe festgestellt, dass nicht-binäre und Transpersonen die größten Opfer von Gewalt seien, die durch Vorurteile gefördert werde: "Ihre Körper werden angegriffen und unterdrückt, ihre Forderungen ignoriert und ihre Anwesenheit in einer Gesellschaft vermieden, die sich weigert, die Auferlegung von Geschlecht zu diskutieren", so das Kollektiv am Tag der Einreichung des Rechtsprojekts.
Nicht nur die Zahlen spiegeln die extreme Verwundbarkeit der Trans-Community wider.
Der Aktivist Rueda merkt an, dass viele Fälle nicht in den Statistiken auftauchen. Sein Kollektiv habe festgestellt, dass besonders die Suizidraten bei Transmännern steigen. Diese hätten sich zuletzt sogar verdoppelt. Er führt dies auf die soziale Ausgrenzung zurück. Trotz des Endes des bewaffneten Konflikts sei die Todesrate innerhalb der Trans-Community angestiegen: "Für viele meiner Brüder und Schwestern hat die Gewalt nie aufgehört", sagt er.
Es sei wichtig zu verstehen, dass sich die Diskriminierung von Transmännern und Transfrauen unterscheide: Frauen befänden sich oft in einem gewalttätigen Umfeld der Sexarbeit und männlich dominierter Kontexte, während Transmänner von der Gesellschaft und auf der Straße wegen ihres Aussehens ausgegrenzt würden. Er betont jedoch, dass es sich dabei um Tendenzen handle, da die Erfahrungen von Individuen je nach Kontext sehr unterschiedlich seien.
Das Nationale Planungseinheit bestätigt dies in einem 2021 veröffentlichten Bericht und schreibt, dass "Transgender-Personen in praktisch allen Situationen des täglichen Lebens ständig angegriffen werden. In Alltagssituationen, wobei sie hauptsächlich Spott, Raub oder Überfall, körperlicher Aggression und sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind". Den erschwerten Zugang zu Bildungseinrichtungen und die Probleme in Schulen und Universitäten, die neben den Schüler: innen auch vom Lehrpersonal aufgrund der Geschlechtsidentität gemacht würden, sieht die Behörde ebenso als problematisch an.
44 Prozent der Befragten Transpersonen einer Umfrage der Nationalen Planungseinheit waren zum Zeitpunkt der Interviews ohne Arbeit, ein Großteil der Interviewteilnehmer: innen gehört den untersten sozialen Schichten an.
Ebenso verweist die nationale Ombudsstelle regelmäßig auf die besondere Verletzbarkeit von Transpersonen und fordert den Staat auf, etwas gegen die Gefahren, denen sie ausgesetzt sind, zu unternehmen. Die Behörde wies mehrfach darauf hin, dass Transmenschen "Ausgrenzung und Gewalt in extremen Ausmaß erleiden" und bewertet die aktuelle Situation als "besorgniserregend".
Oft ist der Staat aber selbst der Täter, oder zumindest der Verursacher von Ungerechtigkeit: In den Covid-Pandemiejahren 2020 und 2021 waren laut der Interamerikanischen Menschenrechtskommission besonders Transpersonen Diskriminierung und Gewalt seitens staatlicher Sicherheitskräfte ausgesetzt, da Kolumbien (wie auch andere Länder) zeitweise Ausgangstage, an denen jeweils nur Frauen oder Männer ihre Wohnung verlassen durften, als Pandemie-Schutzmaßnahme angeordnet hatte.
Wie konservativ das Land im Hinblick auf andere Geschlechteridentitäten und deren Anerkennung ist, zeigt, dass Therapien, die auf die Änderung von sexueller Orientierung oder auf die Umwandlung des Geschlechts beispielsweise mittels Elektroschocks immer noch nicht verboten sind, obwohl die Vereinten Nationen dieses Vorgehen als Folter einstufen. Eine entsprechende Gesetzesvorlage wird seit vergangenem Jahr im Kongress diskutiert, erlangte bisher jedoch nicht den notwendigen Unterstützerkreis, um verabschiedet zu werden.
Trotz Fortschritten gibt es starke Widerstände gegen das Gesetz. Der Kongress ist konservativ geprägt und es gibt Gruppen, die Desinformationen verbreiten und explizit gegen die Trans-Community arbeiten. Sie befürchten, dass das Gesetz "traditionelle Werte untergraben könnte".
Eine der schärfsten Gegnerinnen des Gesetzes, die Senatorin María Fernanda Cabal von der rechten Partei Centro Democratico, informierte auf der Plattform X, einen negativen Bericht gegen den Gesetzentwurf vorgelegt zu haben, da dieser ihrer Meinung nach die "Autonomie der Familie" untergrabe, die "elterliche Autorität außer Kraft setzt" und zusätzlich die "rechtliche Stabilität untergräbt".
Rueda spricht von Desinformationskampagnen und Gesetzesinitiativen der politischen Gegner: innen der Trans-Community. Diese würden gezielt Vorurteile schüren, falsche Informationen über Menschen mit anderen Geschlechteridentitäten verbreiten und sogar Gesetze verabschieden wollen, welche Transpersonen schaden und weiter ausgrenzen würden.
Hoffnung auf eine Wende
Für die Trans-Community, die seit Jahrzehnten unter systematischer Diskriminierung, Gewalt und sozialer Benachteiligung leidet, könnte dieses Gesetz aus vielerlei Hinsicht einen historischen Wendepunkt bedeuten. Zwar hat das als progressiv geltende Verfassungsgericht mehrere Urteile zur Verbesserung der Situation gefällt, darunter die Abschaffung der Wehrpflicht für Transfrauen, die Übernahme der Kosten der staatlichen Krankenkassen bei medizinischen Eingriffen, die die Geschlechtsidentität betreffen, sowie die Pflicht der Schulen, auf die Bedürfnisse von Jugendlichen, die sich als Transpersonen begreifen, besonders einzugehen.
Die Rechtsprechung besteht häufig jedoch nur auf dem Papier: Im Alltag sind Transpersonen einer erhöhten Gefahr von Benachteiligung ausgesetzt. Dem würde mit dem Gesetz Abhilfe geschaffen.
Besonders groß sind die Unterschiede zwischen der Hauptstadt Bogotá und den ländlichen Gebieten. Rueda betont, dass "je weiter man sich von Bogotá entfernt, desto weniger Wissen und Akzeptanz gibt es für die Trans-Community".
Eine große Hürde stelle der eingeschränkte Zugang zum Gesundheitssystem dar. Rueda berichtet: "Es ist sogar vorgekommen, dass Transpersonen der Zugang zum Krankenhaus verwehrt wurde."
Das Gesetz zielt darauf ab, Transpersonen bei solchen Diskriminierungen rechtlichen Rückenwind zu geben. Laut Rueda umfasst der Text "selbstverständliche Dinge wie das Recht auf einen Mietvertrag. Das mag verrückt klingen, ist aber für meine Schwestern und Brüder nicht immer gewährleistet".
Der Akivist ist optimistisch: "Es gibt viel Rückenwind für dieses Gesetz. Die erste progressive Regierung, die nun seit über zwei Jahren im Amt ist, hat den Moment genutzt, um dieses wunderbare, allumfassende Gesetz auf den Weg zu bringen."
Während Kolumbien mit der "Ley Integral Trans" einen Meilenstein setzen könnte, haben auch andere Länder Lateinamerikas bereits Fortschritte gemacht. Argentinien war 2012 das erste Land der Region, das ein Gesetz verabschiedete, welches die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität ohne medizinische Eingriffe oder psychologische Gutachten ermöglicht. Uruguay folgte 2018 mit einem Gesetz, das Transpersonen umfangreiche Rechte auf Gesundheitsversorgung, Beschäftigung und Bildung garantiert.
Ebenso hatte 2021 ein symbolträchtiges Urteil für Aufmerksamkeit gesorgt, da der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den honduranischen Staat für den Tod der Transgender-Aktivistin Vicky Hernández zur Verantwortung zog (amerika21 berichtete). Das Urteil gilt als Präzedenzfall, da zum ersten Mal ein Staat für den Mord an einer Transperson vor Gericht stand und als verantwortlich befunden wurde.
Diese Entscheidung ist nicht nur ein individuelles Urteil, sondern signalisiert einen tiefgreifenden Wandel: Der Gerichtshof fordert Honduras auf, die Verfahren zur Überwachung und Behandlung von Gewalt gegen LGBTIQ+-Personen erheblich zu verbessern und neu zu gestalten. Zudem soll die Art und Weise, wie Daten über Gewalt gegen diese Bevölkerungsgruppe verarbeitet werden, grundlegend überdacht werden.
Mit dem Ley Integral Trans könnte Kolumbien künftig durch seine umfassende und differenzierte Herangehensweise herausstechen: Das Gesetz bezieht sich nicht nur auf rechtliche und soziale Aspekte, sondern auch auf historische Ungerechtigkeiten und die Bedürfnisse verschiedener Gruppen innerhalb der Trans-Community, wie etwa Transfrauen, die in der Sexarbeit tätig sind, Jugendliche und Kinder, sowie die Absicht, den Zugang zum Arbeitsmarkt für Transpersonen zu erleichtern.