Vom ersten Tag an war Guillermo Tenorio Vitonas Teil des Consejo Regional Indígena del Cauca (Cric, Regionaler Indigener Rat des Cauca). Bereits mit 18 Jahren begann er, sich mit anderen Bewohner:innen aus dem Cauca, einer Provinz südlich von Cali, zu organisieren, als die Gewalt des bewaffneten Konfliktes sich auf einem Höhepunkt befand. Doch auch heute, nach zahlreichen Friedensprozessen, bleibt die Situation in der Region weiterhin bedrohlich.
Bei seinem Besuch in Berlin sprach Guillermo Tenorio Vitonas mit LN über die brisante Lage im Cauca, die Geschichte und aktuelle Bedeutung des Cric, erfolgreiche Selbstorganisierung und seine Perspektiven auf Frieden.
Wie lief Ihr Besuch in Berlin? Was waren Ihre Ziele oder Erwartungen?
Dieser Aufenthalt war mein zweiter, das erste Mal kam ich 2020. Ich hatte Kolumbien fast nie verlassen. Aber nach dem Tag, an dem die Paramilitärs das letzte Attentat auf mich verübten — der 27. Dezember 2019 — bin ich 2020 hergekommen. In der Organisation, im Cric sagte ich meinen Ratskollegen: "Ich muss weggehen, so viele Drohungen wie ich bekomme."
Nachdem 2016 das Friedensabkommen mit den Guerillas der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia - Ejército del Pueblo (Farc-EP, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee) getroffen wurde, hat der damalige Präsident Juan Manuel Santos einige der Versprechen gegenüber der Guerilla nicht eingehalten. Viele zogen sich daher aus dem Friedensprozess, den sie unterzeichnet hatten, zurück. Eine neue Guerillabewegung entstand, die Dissidenten der Farc. Sie begannen zu töten und viele Minderjährige zu rekrutieren. Es wurden große Versammlungen dagegen organisiert. Das war auch die Ursache dafür, dass ich nun wieder zum militärischen Ziel erklärt wurde. "Guillermo Tenorio", sagten sie, "er ist Konterrevolutionär, er muss getötet werden." So musste ich wieder fliehen.
Mein ganzes Leben habe ich so gelebt, mit der Drohung, dass sie mich töten werden. Eine Genossin meinte zu mir: "Die Rolle des Anführers bedeutet nicht, dass man sich töten lässt, weil man sich als Macho fühlt. Der Anführer lebt, um die Rechte seines Volkes zu verteidigen, nicht um sich töten zu lassen." Es ist besser zu leben.
Jetzt habe ich Kontakt zu Sonja und auch zu anderen Kollegen hier in Deutschland. Ich musste mein Leben inmitten des Kriegs zurücklassen, inmitten der Gewalt, in Verteidigung der Menschenrechte, der Kinder, die rekrutiert wurden, der Frauen, die in Bedrohung leben. Darüber zu informieren, ist eine Aufgabe, der ich mich angenommen habe. Ich mache mir Sorgen, weil die Zeit so rennt.
Wie ist die Situation im Cauca derzeit?
Es ist sehr schmerzhaft. Als ich ging, haben sie angefangen, meine Familie zu ermorden. Ein Cousin von mir, Enrique Tenorio, wurde getötet. Seine Kinder auch, sie wurden alle Opfer des Konflikts. Das war Rache, weil sie mich nicht töten konnten. Von hier aus bekomme ich Informationen und ich habe permanent Kontakt zu einigen Mitgliedern der Guardia Indígena1. Jeden Tag berichten sie mir von den Gewalttaten.
Sie sind schon lange Teil des Cric. Welche Geschichte steckt hinter der Organisation? Mit welcher Idee wurde der Rat gegründet?
Noch 1968/69 gab es im Cauca überhaupt keine Organisation, wir waren Opfer von so viel Misshandlung und Ausbeutung. In dieser Zeit haben wir zwei Personen hier aufgenommen, die nicht indigen waren, einer war paisa (Person, die aus der Region Antioquía, Caldas, Risaralda oder Quindío kommt, Anm. d. Red.) und einer war ein katholischer Pfarrer namens Pedro León Rodríguez. Fünf Jahre zuvor war auch schon der sehr bekannte, indigene Anführer Manuel Quintín Lame in den Cauca gekommen, aber niemand schenkte ihm Beachtung, nichts passierte. Erst als diese beiden Persönlichkeiten hier auftauchten, wurden die Leute aufmerksam. Alles, was ein Pfarrer von seiner Kanzel aus auf dem Land sagt, findet Gehör.
In diesem Kontext haben wir angefangen Land zu besetzen, denn die meisten Territorien befanden sich in den Händen von Landbesitzern und Siedlern, die hier eingedrungen waren. Dieses Land, das kollektives Eigentum ist, wurde misshandelt. Im Laufe von 53 Jahren haben wir all diese Arbeit gemacht, und jetzt, wo der Tisch gedeckt ist, kommen viele Leute und setzen sich zum Essen. Aber weil sie schon am Esstisch saßen, haben sie sich keine Gedanken darüber gemacht, wie die Gewalt unter Kontrolle gebracht werden könnte. Sie kauften Land und Häuser auf. Aber sie hätten nie gedacht, dass es ein so ernstes Problem mit der Gewalt geben würde, dass fast 70 Prozent des indigenen Volkes, der Landarbeiter und der Afro-Bevölkerung davon betroffen sein würden.
Zum Glück ist das Landproblem teilweise gelöst. Es wurden autonome Gesundheitsvereinigungen, wie die AIC (Asociación Indígena del Cauca), gegründet. Die Bildung gab die Regierung ebenfalls an die cabildos2, ab, damit sie sie verwalten.
Welche Bedeutung hat der Cric mittlerweile?
Der Cric unterstützt kollektive Widerstandsarbeit (Mingas), die versucht, mit dem Präsidenten Gustavo Petro in Kontakt zu kommen, um diese ganze Gewalt wirklich zu beenden. Sie organisieren viele Mobilisierungen. Vor 15 Tagen zog der Cric mit tausenden Personen nach Bogotá. Währenddessen wurde im Osten des Cauca der Koordinator der Guardia Indígena Guillermo Alberto Camayo ermordet. Ein großer Anführer – getötet von der Guerilla.
Angesichts all dieser Morde wurde die Schaffung eines Friedensgebiets vorgeschlagen und der Abzug aller bewaffneter Gruppen gefordert. Diese Territorien haben keinen Platz für sie. Ich stehe hinter diesen Vorschlägen, sie sollen gehen und ihre Waffen niederlegen. Wenn sie nicht gehen, müssen sie ins Gefängnis, aber dafür müssten wir die Regierung bitten, sie zu fassen. Dafür gäbe es nicht genug Gefängnisse.
Wie genau sieht die Umsetzung solcher Friedensgebiete denn aus?
In Kolumbien existieren sie schon. Es geht dabei um 50.000 Hektar, die in San José de Apartado abgegrenzt wurden, als die Paramilitärs viele Verbrechen begingen. Sie haben alle aus der Zone abgezogen, die Armee, die Polizei. Es gibt keine bewaffneten Gruppen mehr dort, so wird es keine weiteren Tote mehr geben, keine Entführungen, nichts. In diesem Gebiet widmen sich die Leute ausschließlich der Bewirtschaftung des Landes. Und bis jetzt läuft alles gut.
Natürlich kann so etwas nicht von einem Tag auf den anderen umgesetzt werden, es dauert. Auf einem Kongress, der im November im Cauca stattfinden wird, werden Debatten geführt und Bestimmungen darüber verfasst, wie es funktionieren kann. Frauen, die junge Generation, Studenten müssen miteinbezogen werden. Jeder muss wissen, was auf dem Kongress beschlossen wird.
Was gibt Ihnen Hoffnung? Wie kämpfen Sie weiterhin für eine friedliche Zukunft in Kolumbien?
Ich denke, dass die Realisierung dieser Friedensgebiete das ganze Land beeinflussen wird. Viele Leute werden denken, "auch wir wollen in Frieden leben, auch wir wollen ohne Guerilla existieren." Die Regierung von Petro redet über den totalen Frieden, das war sein Vorhaben, aber er hat sich mit niemandem abgesprochen. Deswegen haben wir eigenständig überlegt, diskutiert, vorgeschlagen und die Leute durch die Guardia Indígena geschult.
Vor allem werden die sozialen Anführer bedroht. Man muss etwas unternehmen, um zu verhindern, dass diese Gewalt weitergeht. Niemand kümmert sich darum. Als wir begannen, uns zu versammeln, war ich 18 Jahre alt, ich konnte weder lesen noch schreiben. Mit mir kamen immer mehr junge Leute zusammen, alle Analphabeten. Wir begannen die Grundstücke zu besetzen, bei den Siedlern unser Recht auf unser kollektives Eigentum zu beanspruchen. Sie wollten das Land nicht abgeben, so sind wir zur Regierung gegangen und haben gefordert, dass sie uns die Grundstücke zurückkaufen sollen. Es ist kollektives Land, aber nur einige wenige profitieren davon.
Wir erzielten gute Ergebnisse. Deswegen bin ich auch jetzt mit den Vorschlägen zu den Friedensgebieten nicht pessimistisch. Ich denke, wir können das in naher Zukunft erreichen.
Was ist im Moment für Sie die wichtigste Arbeit?
Das Bewusstsein der Menschen zu schärfen. Es wird notwendig sein, viele Bildungsaktivitäten anzubieten.
Sonja (Begleiterin von Guillermo beim Interview): Eine Ratskollegin des Cric hat uns gegenüber in einer Versammlung betont, den Kampf der indigenen Frau nicht zu vergessen. Denn am Anfang waren es quasi nur Männer und jetzt sind auch viele Frauen beteiligt, das ist sehr wichtig. Sie haben eine andere Perspektive und dieser neue Prozess sollte das Leben der Frau mit einbeziehen. Die tatsächliche Grundlage des indigenen Lebens ist die Mutter Erde. Von ihr kommen noch andere Antworten und es geht nicht nur darum, über sie zu reden, sondern in Verbindung mit ihr zu stehen. Im Rat des Cric gibt es zwei Frauen. Von zehn Ratsmitgliedern sind zwei Frauen, das ist sehr wenig.
In den Gemeinden gibt es viele Frauen, die ihre Meinung sagen und nicht schüchtern sind. Deshalb hat die Organisation nun Frauen die Möglichkeit gegeben, sich für die Vorstände auszubilden. Aus diesem Grund sind zwei der Vorsitzenden Frauen. Das Wort der Frau ist sehr wertvoll, aber es sind viele Jahre vergangen, in denen die Organisation sie nicht berücksichtigt hat. Die Anführer gingen mit einer sehr sexistischen Ansicht vor. Das ändert sich nach und nach, indem man anfängt, die Rolle der Frau zu analysieren.
Das Interview ist erschienen in den Lateinamerika Nachrichten Nummer 605