Ecuador steht an einem Wendepunkt. Kaum eine Woche vergeht ohne besorgniserregende Nachrichten. Nach nur 100 Tagen im Amt hat Präsident Daniel Noboa bereits eine Reihe von Gesetzen durch das Parlament gebracht, die seine Macht konzentrieren, die Demokratie angreifen und die Zivilgesellschaft schwächen. Aktuell regen sich erste Proteste – ein chronologischer Überblick.
Ecuador befindet sich in multiplen Krisen. Einerseits leidet das Land unter einer langanhaltenden Wirtschaftskrise, gleichzeitig wächst die Macht krimineller Organisationen. Mittlerweile führt Ecuador die Liste der höchsten Mordrate pro Kopf in Lateinamerika; 2025 könnte das blutigste Jahr in der Geschichte des Landes werden. Auch der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung, Alberto Acosta, sieht die Lage düster:
"Derzeit ist die ecuadorianische Gesellschaft von Angst und Gewalt durchzogen. Das organisierte Verbrechen, der Rohstoffabbau, die Armut, die Politik, die weiterhin die öffentlichen Investitionen reduziert, sind gewalttätig und erzeugen Gewalt, all das schafft Angst. In diesem Szenario wird von der Regierung alles unter dem Vorwand getan, die Bekämpfung der organisierten Kriminalität zu gewährleisten. Um Sicherheit zu erreichen, werden also Freiheiten, soziale Gerechtigkeit und ökologische Gerechtigkeit geopfert."
Noboa nutzt die Angst der Menschen angesichts dieser Situation für seine Zwecke. In seiner Rede zur zweiten Amtseinführung am 24. Mai stellte er klar: Es gehe ihm nicht mehr darum, "anzukommen", sondern darum, "zu verändern". Die erste Regierungszeit nutzte der Präsident, um einen Plan für die zweite zu machen. Nach seiner Wiederwahl hat Noboa das Parlament unter seiner Kontrolle. Im Zentrum seiner Politik steht die Verzahnung von Neoliberalisierung und Militarisierung. Dadurch verwandelt sich der Politiker laut Acosta in einen "Mi-kele" – aus wirtschaftlicher Hinsicht ein ultrakapitalistischer Javier Milei, in politischer Hinsicht repressiv wie Nayib Bukele: "Dieser Mikele treibt bereits eine Reihe von Maßnahmen voran, um das Verfassungsgericht und die Verfassung selbst so weit wie möglich zu schwächen."
Noboas Plan begann in seiner zweiten Regierungswoche mit dem Gesetz der Nationalen Solidarität. Es gibt dem Präsidenten die Befugnis, per Exekutivdekret den seit Januar 2024 geltenden "internen bewaffneten Konflikt" ohne Enddatum fortbestehen zu lassen, obwohl das Verfassungsgericht diesen eigentlich seit April diesen Jahres rechtlich nicht mehr anerkennt. Das Gesetz erlaubt Sicherheitskräften außerdem, tödliche Gewalt in Situationen anzuwenden, in denen dies nach internationalem Menschenrecht und ecuadorianischen Recht ansonsten verboten wäre.
Nur drei Tage später, am 10. Juni, folgte das Geheimdienstgesetz. Dies etabliert ein Nationales Geheimdienstsystem, das sich aus Militär-, Polizei-, Finanz-, Steuer-, Zoll-, Strafvollzugs- und Präsidialschutzbehörden zusammensetzt. Es enthält riskante Bestimmungen, die das Recht auf personenbezogene Daten und das Recht auf Privatsphäre verletzen. So sind beispielsweise staatliche Stellen, öffentliche und private Einrichtungen, Unternehmen und Einzelpersonen ausnahmslos verpflichtet, Informationen zur Verfügung zu stellen, ohne dass ein Gerichtsbeschluss erforderlich ist.
Darüber hinaus erlaubt das Gesetz dem Nationalen Nachrichtendienst, unter dem vagen Vorwand der "nationalen Sicherheit" Kommunikation abzuhören. Der Aktivist Esteban Barriga ist besorgt: "Obwohl viel über Sicherheit geredet wird, ist das nicht der Fall. Es handelt sich bei dem Fokus auf Sicherheit um einen Kontroll- und Spionagemechanismus. Man hat also nicht nur Angst vor organisierter Gewalt, sondern auch davor, was einem selbst passieren könnte, davor, dass die Polizei und das Militär einen ausspioniert."
Nur zehn Tage später wird im Parlament die Reformierung des Demokratiegesetzes mit den Stimmen der Partei Revolución Cuidadana (RC) des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa beschlossen. Dieses besagt, dass Parteien mit weniger als fünf Prozent Stimmanteil aufgelöst werden müssen. Zudem wird die Sitzverteilung der Abgeordneten zugunsten der größten Parteien, aktuell Noboas Partei Acción Democrática Nacional (ADN) und RC, geändert. Acosta sieht diese Änderung kritisch: "Wenn man die Anzahl der Parteien verringert und ihnen die staatliche Finanzierung entzieht, werden nur diese großen politischen Parteien im Parlament vertreten sein. In einem so vielfältigen Land wie Ecuador ist das ein schwerer Schlag gegen die Demokratie."
Mit dem Gesetz zur öffentlichen Integrität folgt Ende Juli Noboas bisher größte Maßnahme zum Staatsumbau: 5000 Beamt:innen sollen entlassen, acht Ministerien fusioniert werden. Unter anderem wird das Umweltministerium in das Ministerium für Energie und Bergbau eingegliedert und zum neuen Ministerium für Umwelt und Energie erklärt. Esteban Barriga vom Kollektiv Quito sin Minería (Quito ohne Bergbau) ist alarmiert: "Wir lehnen eine solche Fusion natürlich ab, denn dadurch würden dieselben Leute, die kontrollieren und regulieren, auch die Rohstoffe ausbeuten, was weder legitim noch sinnvoll ist. Es gäbe kein echtes Kontrollinstrument mehr. Wir haben dem neuen Ministerium deshalb ein offizielles Dokument vorgelegt, in dem wir fordern, dass die Autonomie des Umweltministeriums erhalten bleibt."
Künstler:innen, Menschenrechts- und Umweltaktivist:innen, Indigene Vereinigungen, Gewerkschaften, Feminist:innen und Jugendliche rufen zu Protesten auf. Denn auch das Ministerium für Menschenrechte und das Ministerium für Frauen werden vom Innenministerium absorbiert. Karol Jaramillo, Kommunikationswissenschaftlerin mit Schwerpunkt Menschenrechte und Klimagerechtigkeit, war bei den Protesten dabei. Sie warnt: "Durch die Fusion wird die Macht in einer Institution konzentriert, die historisch für Sicherheit und Kontrolle zuständig ist. Wenn Rechte aus einer Logik der öffentlichen Ordnung heraus verwaltet werden, laufen wir Gefahr, dass Repression Vorrang vor Schutz hat. In einem Land wie dem unseren, in dem soziale Proteste die legitimste Form der Verteidigung des Lebens und des Territoriums waren, ist dies ein enormes Warnsignal."
Tatsächlich folgte nur wenige Tage später der Gesetzesentwurf zur Kontrolle irregulärer Kapitalflüsse. Es sieht neue und komplexere Kontrollen für Stiftungen, Unternehmen, NGOs und gemeinnützige Einrichtungen vor – wieder vor dem Hintergrund, Geldwäsche, Korruption oder Steuerhinterziehung durch organisierte Kriminalität zu unterbinden. In der Praxis zwingt das Gesetz jedoch 71.000 NGOs und zivilgesellschaftliche Organisationen, sich neu zu registrieren und ihre Finanzierungsquellen dem Innenministerium offenzulegen. Das Gesetz fördert somit neue Formen der Überwachung, Kontrolle und Sanktionen gegenüber der ecuadorianischen Zivilgesellschaft.
Zwei Wochen nach der Erlassung des Gesetzes reagiert das Verfassungsgericht. Denn, wie Acosta erklärt, sind die Gesetze in Teilen verfassungswidrig: "Man greift auf den Mechanismus der Gesetze zur wirtschaftlichen Dringlichkeit zurück. Eine Regierung kann wirtschaftliche Notstandsgesetze vorschlagen, die innerhalb von 30 Tagen im Parlament behandelt werden müssen. Aber Noboa hat die Mehrheit im Parlament und sie verabschieden die Gesetze sehr schnell. Das führt zu schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Problemen, weil ein Gesetz nur einen Sachverhalt behandeln kann. Und wenn es sich um ein Gesetz zur wirtschaftlichen Dringlichkeit handelt, sollte es dringende wirtschaftliche Themen behandeln, oder? Aber kein Gesetz erfüllt diese Voraussetzung. Alle Gesetze behandeln eine Vielzahl von Themen."
Deshalb setzt das Verfassungsgericht 28 Artikel der oben genannten Gesetze zur Überprüfung vorerst aus. Die Reaktion von Noboa folgt prompt: Er brandmarkt das Verfassungsgericht als einen "Feind des Volkes" und organisiert einen Protestmarsch durch Quito. Auf einem großen Plakat sind die Gesichter der Richter:innen zu sehen, darunter steht: "Das sind sie, die Richter, die uns den Frieden rauben - sie haben gegen die Gesetze unterschrieben, die uns beschützten."
Der ehemalige Verfassungsrichter Ramiro Ávila erklärt in einem Interview: "Die Tatsache, dass der Gerichtshof Bestimmungen aus drei Gesetzen außer Kraft gesetzt hat, zeugt von seiner Unabhängigkeit. Aber die Angriffe gegen ihn, mit Plakaten, auf denen die Oberkörper der Richter zu sehen sind und die sie mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung bringen, machen Angst. Das ist keine Kleinigkeit."
Auf Videos des Protestmarsches, die später in den sozialen Medien kursieren, sind auch Menschen mit einem Hakenkreuz auf dem Arm und den Hitlergruß zeigend zu sehen. Die Aktivistin Pacari Pontón beschreibt die Versammlung folgendermaßen: "Es war eine ziemlich starke Mobilisierung mit vielen bezahlten Menschen und öffentlichen Angestellten, die bedroht worden waren, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren würden, wenn sie nicht an dem Marsch teilnehmen würden. Aber auch Menschen, die davon überzeugt waren, dass eine harte Hand nötig ist, die die gleiche Politik wie von Bukele, Milei, und Trump unterstützen."
Die direkten Konsequenzen dieser Politik, zeigen sich eine Woche später. Vier Polizisten sollen einen tödlichen Anschlag auf Leonidas Iza, ehemaliger Präsident der Conaie und Präsidentschaftskandidat der diesjährigen Wahlen (LN #612 berichtet), geplant haben, indem sie einen Taxifahrer angewiesen haben, Iza zu überfahren. Die Indigene Bewegung Cotopaxi verurteilt diesen versuchten Anschlag in einer Erklärung scharf: "Dieses Verbrechen ist kein Einzelfall, sondern die Fortsetzung einer systematischen Politik der Verfolgung, der Schikanen, der Morddrohungen und der Diskreditierung unserer Organisationsstrukturen und derjenigen von uns, die ihre Stimme gegen eine Regierung erheben, die den wirtschaftlichen Eliten hörig ist."
Einen Tag später, am 20. August, jähren sich die Volksentscheide zum Yasuni und Chocó Andino zum zweiten Mal. 2023 hatten die Ecuadorianer:innen in einem historischen Akt der direkten Demokratie das Ende der Erdölförderung im Nationalpark Yasuní gewählt. Gleichzeitig hatte die Bevölkerung Quitos gegen die Ausweitung von Bergbaukonzessionen im Chocó Andino, Quitos subtropischen Wäldern, gestimmt. Keine der beiden Volksentscheide wurde bis heute umgesetzt. Esteban Barriga hat die Proteste zum Jahrestag organisiert. "Wir fordern, dass der Wille des Volkes respektiert wird, dass die Verfassung eingehalten wird, dass dieses vor zwei Jahren beschlossene Verfassungsrecht nicht länger verletzt wird. Es ist sehr wichtig, dass die Verfassung eingehalten wird. Wenn die Verfassung nicht eingehalten wird, verliert der Staat als Staat seinen Sinn", so Barriga.
Ecuador steht somit nach 100 Tagen von Noboas zweiter Amtszeit an einem kritischen Punkt. Obwohl es erste Proteste gibt, sind diese kaum vergleichbar mit den Massendemonstrationen Jahr 2019 oder 2022. Alberto Acosta erklärt die aktuelle Unsicherheit so: "Es gibt ein soziales Gefüge, das zwar Kapazitäten hat, aber geschwächt ist, unorganisiert, voller Angst. Und Angst ist ein Werkzeug, das lähmt. Dieses soziale Gefüge kann sich wieder zusammensetzen. Denn entweder wir kommen zusammen oder wir gehen unter."
Auch Karol Jaramillo ist mit Blick auf die Zukunft von Ecuador beunruhigt: "Es geht nicht nur um Ministerien oder Dekrete: Es geht um ein politisches Projekt. Wir müssen ein Auge darauf haben, was hier geschieht. Denn hier geht es nicht um Formalitäten, hier geht es um Leben."
Der Beitrag ist erschienen in den Lateinamerika Nachrichten 615/616

