Schuldner, Kanonenboote und Banditen für die Wall Street

In Haiti buhlten von 1900-1915 Frankreich, Deutschland und die USA um Einfluss – ein Beispiel für Neokolonialismus par excellence

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Haiti in der Karibik 1900-1915 (Karte: David Noack)
Haiti in der Karibik 1900-1915 (Karte: David Noack)

Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Haiti die Bedingungen für eine lang anhaltende Abhängigkeit zu den Vereinigten Staaten von Amerika geschaffen. Neben den USA versuchte auch das deutsche Kaiserreich eine dominante Stellung in Politik und Wirtschaft des Landes einzunehmen. Den größten Einfluss auf Haiti hatte bis dato die ehemalige Kolonialmacht Frankreich.

Im Jahr 1800 errang zum ersten Mal eine revolutionäre Regierung die Macht auf Haiti. Die USA wahrten zunächst Neutralität gegenüber der Administration von Toussaint L‘Ouverture. Vier Jahre später wurde der unabhängige Staat Haiti erklärt, blieb jedoch vorerst ohne internationale Anerkennung.1 Erst 1806 verhängte die US-Regierung ein Embargo gegen den neuen Staat2, seine Unabhängigkeit erkannten die Vereinigten Staaten erst 1862 an.3 Bis dahin wurde die Selbstständigkeit des Landes in Washington als „illegal“ angesehen. Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich ließ sich die Demütigung der eigenen Kolonialtruppen teuer bezahlen: Haiti musste für seine Anerkennung durch Frankreich 150 Millionen Gold-Francs zahlen. Die Zahlung dieser Schulden war eine enorme Belastung für die haitianische Wirtschaft, vollständig getilgt wurden sie erst 1938.4

Die Präsenz der Großmächte

Ab 1869 hatte der Norddeutsche Bund, speziell das Königreich Preußen, Kriegsschiffe in Haiti bzw. der Karibik stationiert – erster Anlaufpunkt der deutschen Marine war Port-au-Prince.5 Zur Durchsetzung von Geschäftsinteressen deutscher Kaufleute wurden die zuerst königlichen und dann kaiserlichen deutschen Kriegsschiffe auch in Haiti eingesetzt. Während der so genannten „Batsch-Affäre“ (1872) nahm ein deutscher Kommodore zwei haitianische Schiffe in Besitz und erzwang die Erfüllung der Ansprüche zweier deutscher Geschäftsmänner.6 Die berüchtigte deutsche Kanonenbootpolitik wurde fortan auch auf den Antillen angewandt.

Im Jahr 1897 wurde ein deutscher Kaufmann in Haiti gefangen genommen. Die deutsche Regierung erhob Protest und stellte Entschädigungsforderungen, was Haiti zunächst veranlasste, sich an die Vereinigten Staaten zu wenden. Zwar wurde der Mann durch Intervention des amerikanischen Konsuls befreit, doch da auch weiterhin eine Entschädigung verweigert wurde, gelang erst eine Lösung als zwei deutsche Kriegsschiffe vor Port-au-Prince erschienen, um die Republik zum Nachgeben zu bringen.7 Das deutsche Kaiserreich, von weiten Teilen Afrikas und Asiens durch deren französischen und britischen Kolonialstatus abgeschnitten, war besonders engagiert bei der Förderung des eigenen Handels in Lateinamerika und der Karibik.8

Um die Jahrhundertwende kontrollierten die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und Deutschland den Handel von Haiti. Jede Seite hatte ihre regionalen Präferenzen und unterstütze in immer wiederkehrenden Staatsstreichen und Rebellionen unterschiedliche Akteure. Nominell war Haiti ein souveräner Staat, jedoch existierte diese Unabhängigkeit nur auf dem Papier. Die Wirtschaft des Landes stagnierte auf einer vorkapitalistischen Stufe, wirtschaftlich bestimmend waren Agraroligarchen und eine kleine städtische Oberschicht in den Küstenregionen. Zu sozialen Gegensätzen gesellten sich auch noch ethnische: Das haitianische Kleinbürgertum bestand fast ausschließlich aus Mulatten, während das Gros der Bevölkerung schwarz war. Bis 1900 jedoch war die Schicht haitianischer Händler und Unternehmer aufgrund der ausländischen Konkurrenten nahezu verschwunden.9

Im Fokus von USA und Deutschland

Bereits 1898 kam es im Verlauf des Spanisch-Amerikanischen Krieges, der in der Karibik mit dem Untergang der USS Maine in Havanna begann, zu feindlich interpretierten Handlungen von deutschen Schiffen in der Bucht der philippinischen Hauptstadt Manila10, die die Planung eines zukünftigen nordamerikanisch-deutschen Krieges in den USA initiierten.11 Die Marine der Vereinigten Staaten ging davon aus, dass das Kaiserreich im Kriegsfall eine Basis in der Karibik in Besitz nehmen würde, um von dort aus die US-Küste anzugreifen. Als am realistischsten sah man in Washington eine deutsche Inbesitznahme der venezolanischen Insel Margarita oder der Samaná-Bucht in der Dominikanischen Republik an – kritisch wurden aber auch die deutschen Aktivitäten in Haiti gesehen. Tatsächlich sah der „Operationsplan 3“ der deutschen Marine eine Besetzung der zu Puerto Rico (einer US-Kolonie) gehörenden Insel Culebra vor.12

Ab 1900 erlangten Berlins Händler immer mehr Kontrolle über den Binnenhandel von Haiti. Deutsche Händler siedelten nach Port-au-Prince und andere haitianische Städte über, heirateten einheimische Frauen und umgingen so die Regel, dass sie als Ausländer keine Grundstücke im Land kaufen durften.13 Das US-Außenministerium schätze 1914, dass die Deutschen 80 Prozent des haitianischen Binnenhandels kontrollierten.14 Zusätzlich zum Ausbau des Einflusses im haitianischen Binnenmarkt kam die Kontrolle der Exporte und Importe: Die Hamburg-Amerika-Linie (heute Hapag-Lloyd AG) kontrollierte im Jahr 1909 bereits 75 Prozent des haitianischen Außenhandels.15 Zwei Drittel des haitianischen Kaffeehandels wurden über die Hamburg-Amerika-Linie abgewickelt.16 Obwohl der Handel durch eine deutsche Gesellschaft kontrolliert wurde, ging die Hälfte der Güter in das Land der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich.17 Die größten Konkurrenten der Norddeutschen waren der niederländische Koninklijke West-Indische Maildienst (KWIM) und die französische Compagnie Generale Transatlantique.18 Der britische Handel mit der karibischen Insel wurde zum Beispiel komplett über deutsche Schiffe abgewickelt.

Doch nicht nur wirtschaftlich verstärkte Berlin seine Präsenz: 1911 wurde ein 50-köpfiges deutsches Expeditionskorps in Port-au-Prince abgesetzt.19 Die deutschen Soldaten bewachten die deutsche Residentur und die wichtigsten deutschen Privat- und Geschäftshäuser. Bei dem kurzen Einsatz gab es auch Schusswechsel mit Einheimischen. Das Kaiserreich, welches sich bei der Aufteilung der Welt in Kolonialreiche zu kurz gekommen glaubte, verstärkte als Kompensation die Einflussnahme in Lateinamerika und der Karibik.

Der Große Krieg

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges in Europa schätzten die USA Haiti als das leichteste Ziel einer möglichen deutschen Besatzung ein.20 Zusätzlich nahmen die Putsche auf der Karibikinsel immer weiter zu – nach 1911 konnte sich keine Regierung über die Dauer von einem Jahr halten. Von 1913 bis 1915 waren sogar vier verschiedene Regierungen im Amt. Die USA intervenierten und besetzten das Land ab 1915. Die Wirtschaft des Landes wurde umgekrempelt und auf die Vereinigten Staaten ausgerichtet. In den 1920er Jahren deportierten die USA systematisch alle deutschen Händler von Haiti.21 Nach der Ausschaltung von Konkurrenten blieb Washington als einzige Hegemonialmacht übrig, die Besatzung dauerte noch bis 1934. Parallel dazu wurde auch die Dominikanische Republik von 1916 bis 1924 von US-Marineinfanteristen kontrolliert.

Mit dem Einstieg amerikanischer Banken in die haitianische Nationalbank noch vor dem Ersten Weltkrieg waren die USA in die günstigste Lage aller Kolonialmächte gelangt. Hierbei gelang es Washington Berlin auszubooten, die Berliner Handels-Gesellschaft (Hausbank von AEG) erhielt lediglich 5 Prozent der Aktien der Banque Nationale de la République d‘Haiti.22 Indem der Handel des kleinen karibischen Landes unter US-Besatzung umorientiert wurde, gelang den Vereinigten Staaten der endgültige Sieg über seine Konkurrenten Frankreich und Deutschland im Einflusskampf. Smedley D. Butler, der 33 Jahre im Dienst der US-Armee diente und die US-Soldaten auf Hispaniola kommandierte, bezeichnete im Ruhestand seine Funktion als „hochqualifizierter Bandit für die Wall Street.“23 Baker half laut eigener Aussage dazu, „Haiti zu einem angenehmen Platz für die National City Bank zu machen.“24 Die National City Bank übernahm 1910 quasi die haitianische Nationalbank.

Die anderthalb Jahrzehnte zu Beginn des 20. Jahrhunderts markieren den Übergang Haitis von einer französischen zu einer nordamerikanischen Abhängigkeit. Durch die Präsenz mehrerer Quasi-Kolonialmächte im Land wurde die Grundlage für eine lang anhaltende Unterentwicklung gelegt. Die haitianische Wirtschaft hinkte weit hinter ihrer Zeit zurück und war ausschließlich auf den Export ausgelegt. Bis heute ist Haiti das ärmste Land der westlichen Hemisphäre.

  • 1. Tim Matthewson: Jefferson and the Nonrecognition of Haiti, in: Proceedings of the American Philosophical Society, Jg. 140, Nr. 1 (1996), S. 22-48.
  • 2. Mary A. Renda: Taking Haiti – Military Occupation and the Culture of U.S. Imperialism 1915-1940, Chapel Hill (NC) 2001, S. 29.
  • 3. D. H. Figueredo; Frank Argote-Freyre: A brief History of the Caribbean, New York 2008, S. 92/93.
  • 4. Steeve Coupeau: The History of Haiti, Westport (CT) 2008, S. 53.
  • 5. Gerhard Wiechmann: Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866-1914 - Eine Studie deutscher Kanonenbootpolitik, Bremen 2002, S. 54.
  • 6. Michael D. Largey: Vodou Nation – Haitian Art Music and cultural Nationalism, Chicago (IL) 2006, S. 80.
  • 7. Hermann Leusser: Ein Jahrzehnt deutsch-amerikanischer Politik (1897-1906), in: Historische Zeitschrift – Beihefte, Jg. 13 (1928), S. 52.
  • 8. Ebenda.
  • 9. Brenda G. Plummer: The Metropolitan Connection: Foreign and Semiforeign Elites in Haiti 1900-1915, in: Latin American Research Review, Jg. 19, Nr. 2 (1984), S. 120.
  • 10. Thomas A. Bailey: Dewey and the Germans at Manila Bay, in: The American Historical Review, Jg. 45, Nr. 1 (1939), S. 59-81.
  • 11. Donald A. Yerxa: The United States Navy in Caribbean Waters during World War I, in: Military Affairs, Jg. 51, Nr. 4 (1987), S. 182.
  • 12. Yerxa: The United States Navy in Caribbean Waters during World War I.
  • 13. Hans Schmidt: The United States Occupation of Haiti 1915-1934, Piscataway (NJ) 1995, S. 34.
  • 14. Schmidt: The United States Occupation of Haiti 1915-1934, S. 35.
  • 15. Plummer: Foreign and Semiforeign Elites in Haiti 1900-1915, S. 122.
  • 16. Schmidt: The United States Occupation of Haiti 1915-1934, S. 35.
  • 17. Ebenda, S. 33.
  • 18. Plummer: Foreign and Semiforeign Elites in Haiti 1900-1915, S. 122.
  • 19. Wiechmann: Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866-1914, S. 85.
  • 20. Schmidt: The United States Occupation of Haiti 1915-1934, S. 9.
  • 21. Ebenda, S. 6.
  • 22. Walter H. Posner: American Marines in Haiti 1915-1922, on: The Americas, Jg. 20, Nr. 3 (1964), S. 234.
  • 23. Suzy Castor: The American Occupation of Haiti (1915-34) and the Dominican Republic (1916-24), in: The Massachusetts Review, Jg. 15, Nr. 1/2 (1974), S. 267.
  • 24. Hans Schmidt: Maverick Marine – General Smedley D. Butler and the Contradictions of American Military History, Lexington (KY) 1998, S. 231. Die National City Bank heißt heute National City Corp. und ist im Besitz der PNC Financial Services.