"Wir haben keine Angst mehr": Stimmen von der Basis

Auszüge aus dem neuen Buch von Helge Buttkereit mit Interviews, Reportagen und Analysen zum bolivarischen Venezuela. Es erscheint in diesen Tagen

ii_sententa_casa.jpg

Casa Comunal im Barrio Setenta
Casa Comunal im Barrio Setenta (Caracas, El Valle)

„Heute, egal wo unser Präsident ist, lehrt er uns wie aus einem Buch. Er lehrt uns, uns zu verteidigen und auch das kulturelle Rückgrat zu suchen, das einen befähigt, sich zu entwickeln und mit allen Menschen reden zu können. Wir haben jetzt schon keine Angst mehr vor denen, die Schlips und Aktenkoffer tragen. Wir haben gelernt, können auch jegliche Konversation angehen und sind mit ihnen gleichgestellt. In Wirklichkeit sind wir alle gleich“, sagt Rommel Acosta, Aktivist eines Consejo Comunal [kommunaler Rat, Basis der institutionalisierten Selbstorganisation] im Barrio Setenta in Caracas. Aus diesem Zitat, das im Interview mit den drei Sprechern der zwei Consejos Comunales aus dem Barrio nachzulesen ist, stammt der – etwas verdichtete – Titel dieses Buches. Wenn man es in den Zusammenhang stellt, aus dem es stammt, fasst es besonders gut den Kern dessen zusammen, wovon die folgenden Kapitel handeln. Es geht um die Menschen in Venezuela und ihren Kampf um eine neue Gesellschaft. Hier kommen sie selbst zu Wort. In ausführlichen Interviews erzählen sie ihre Geschichte und die Geschichte ihres Kampfes.

Bevor im Folgenden Auszüge aus drei der in dem Buch abgedruckten Interviews vorgestellt werden, folgt zunächst noch aus der Einleitung eine kurze kritische Bestandsaufnahme der Situation in Venezuela. Ich schlage vor, die Interviews im Buch unter diesem Blickwinkel zu lesen.

Ausgangspunkt ist die sozio-ökonomische Lage der Bewegung. Schließlich besteht die Basis des bolivarischen Prozesses in erster Linie aus den Menschen, die in der neoliberalen Gesellschaft der Zeit vor Hugo Chávez marginalisiert und ausgeschlossen waren. Aber ausgeschlossen wovon? Vor allem von dem, was die venezolanische Gesellschaft prägt: Von der Ölrente, den Einnahmen aus dem Verkauf den venezolanischen Erdöls, die sich vor allem eine reiche Oberschicht, die Oligarchie, in die Tasche steckte und nur die leitenden Angestellten und Beamten, in Teilen auch die Ölarbeiter an dem Reichtum beteiligte. Die Menschen in den Barrios, die oft aus ärmlichsten Verhältnissen auf dem Land in die Städte geflohen waren, um auch einen Anteil dieses Reichtums zu erhalten, bekamen nichts. Dagegen begehrten sie auf, zum Teil radikal und militant. Dies liegt in der Logik ihres Adressaten, des Staates, der durch radikal und militant vorgetragene Forderungen zur Reaktion gezwungen werden soll. Zum Teil reagierte er gewalttätig wie beim Caracazo des Jahres 1989, dem ungerichteten Hungeraufstand der Massen. Seit dem Amtsantritt von Chávez 1999 reagiert der Staat aber mit den Zugeständnissen der Sozialprogramme. Gegen die Umverteilung der Ölrente wandten sich wiederum die alten Eliten und Profiteure mit dem politisch-militärischen Putsch 2002 und dem Ölputsch 2003. Aber die Organisation der Basis, die sich im Abwehrkampf gegen Repression und für die Teilhabe an der staatlichen Macht, die in Venezuela eben mit der Teilhabe an den Öleinnahmen gleichzusetzen ist, gebildet hatte, konnte die Reaktion der alten Eliten abwehren. Seit 2003 und der Festigung der Sozialprogramme in den Misiones hat der Prozess der Umverteilung endgültig Fahrt aufgenommen. Die Lebensbedingungen der Menschen haben sich in der Folge ebenso verbessert wie die Korruption zunimmt und eine neue sogenannte „Bolibourgeoisie“ („bolivarische Bourgeoisie“) entstanden ist.

Dies ist ein Moment der bolivarischen Revolution und aus Sicht der meisten Protagonisten sicherlich – wenn auch meist unbewusst und mit Ideologie versetzt – die Haupttriebkraft der Basis. Es geht schlicht und einfach um das Interesse an mehr (oder überhaupt an) Konsum. Mir geht es an dieser Stelle natürlich nicht darum, dies zu verurteilen, aber eines muss klar sein: Mit einem wie auch immer bezeichneten Sozialismus, der mit Marx als „freie Assoziation der Produzenten“ beschrieben werden kann, hat das schon deswegen nichts zu tun, weil hier niemand produziert. Für eine neue Gesellschaft, die die kapitalistische überwindet, ist eine neue Produktion für die Bedürfnisse der Menschen durch die Menschen als selbsttätig Assoziierte jedoch unerlässlich. Dass es auf diesem Feld einige Fortschritte in Venezuela gibt und die Selbstorganisation, selbst wenn sie vor allem durch das Ziel „mehr Konsum“ getragen wird, einen „utopischen Überschuss“ (Ernst Bloch) enthält, kann zwar niemand bestreiten. Gleichwohl gibt es hier noch viel zu tun – gerade auch hinsichtlich des Bewusstseins über diesen Aspekt als tragende Säule der Bewegung.

Das erste Interview des Buches habe ich mit Eduardo Piñate geführt. Er war im vergangenen Jahr nicht nur stellvertretender Kandidat der Regierungspartei PSUV für die Nationalversammlung sondern auch für den Aufbau der Comunas Socialistas, den sozialistischen Kommunen, verantwortlich. Im folgenden erklärt er zunächst, was es mit den Comunas auf sich hat und welche Rolle die Consejos Comunales als Basisorganisationen bilden.

Eduardo Piñate: Die Comuna Socialista, wie wir sie verstehen, ist die fundamentale Zelle des kommunalen Staates, den wir gerade aufbauen. Dieser kommunale Staat ist unser Staat im Übergang zum Sozialismus. In der Comuna fließen die Erfahrungen, die ökonomischen und kulturellen Elemente der Tradition zusammen und geben ihr einen dauerhaften Sinn. Sie stiften Identität und eröffnen einen politischen Raum. Wir entwickeln in Venezuela eine eigene Erfahrung im Aufbau des Sozialismus. Wir werden in Venezuela ein Land sehen, dass voll von Comunas sein wird. Diese sind Ausdruck einer Politik, eines Programms zum Aufbau des Sozialismus, einer nationalen Ökonomie und eines revolutionären Staates. [...]

Die Consejos Comunales sind ein Resultat des Prozesses und der Organisation des Volkes, die ursprünglich aus der Vierten Republik kommt. Sie entstand in Venezuela nach dem Zusammenbruch des bewaffneten Kampfes in den 1960er und 1970er Jahren durch diejenigen, die nicht kapituliert haben. Damals gingen revolutionäre Sektoren in die Barrios und in die Fabriken, um dort eine Volksorganisation aufzubauen. Hier entstanden Komitees, die die Ländereien verwalteten, die Kämpfe gegen die Vertreibungen in den Barrios, gegen die Ausgrenzung aus den Universitäten sowie Formen der syndikalistischen Organisation in den Fabriken. Diese sind später, als Chávez an die Macht kam, in strukturiertere Organisationen umgebaut worden. Als erstes kamen die CTUs [städtische Landkomitees, die die Siedlungen in den Armutsvierteln legalisierten], dann die Komitees für Gesundheit, als die Misión Barrio Adentro [so heißt das Gesundheitsprogramm der Regierung Chávez] eingeführt wurde, dann die lokalen Organisationen zur Verbesserung der Wasserversorgung (Mesas Technicas del Agua). Außerdem gibt es Organisationen für Energie oder Telekommunikation und es existiert schon eine bestimmte Tradition der kulturellen und sportlichen Organisation in den Barrios, die Ausgangspunkte des Widerstands waren. Dies alles fließt zusammen und begann, sich im Jahr 2005 in den Consejos Comunales zusammenzuschließen. Und ein Jahr später wurde das erste Gesetz für die Consejos Comunales entwickelt, im Dezember 2009 wurde es noch einmal reformiert.

In den Consejos Comunales kommen die gesamten Komitees zusammen. Sie sind eine einzige Volksorganisation. Das zentrale Element ist die Versammlung der Bürger des Consejo Comunal. Dieser wird geleitet von einer Gemeinschaft der Sprecher, die aus den verschiedenen Komitees kommen. Außerdem existiert eine Einheit für die Finanzierung und eine für die soziale Kontrolle. Die Conesjos Comunales sind, so würde ich sagen, die Basis, der Kern der Comuna Socialista. Sie sind das zusammen mit anderen sozialen Organisationen, aber das Fundamentale sind die Consejos.

Pinate äußert sich auch zum Verhältnis der Basisbewegung zur Bürokratie.

Eduardo Piñate: Große Teile der Institutionen, die noch in Venezuela existieren, sind immer noch Institutionen der alten Regierung. Sie sind von der Kultur und der Ideologie des alten Staates durchdrungen, des Staates der Bourgeoisie. Sie sind bürokratisch und ineffizient und zwar deshalb ineffizient, weil sie nicht aufgebaut wurden, um Probleme des Volkes zu lösen, sondern um die Interessen der Bourgeoisie zu vertreten. Große Teile unserer Institutionen sind insgesamt bürokratisch. Aber es gibt auch große Teile in den Institutionen, die durch Revolutionäre besetzt sind. So kommt es, dass wir uns in einem permanenten Kampf gegen die Bürokratie befinden und gegen Manifestationen der alten Republik, der Korruption und der Ineffizienz. Das baut einen Druck auf. Die Institutionen, die jetzt im Aufbau sind, verdrängen die anderen. Ich sage immer, dass der Sozialismus in Venezuela keine Sache der Zukunft ist, oder die Volksmacht keine Sache der Zukunft ist, weil wir bereits angefangen haben, die Volksmacht und den Sozialismus aufzubauen. In der Form der Dialektik aus Konstruktion und Dekonstruktion, die Karl Marx entwickelt hat, bauen wir einen sozialistischen Staat auf und zerstören gleichzeitig den Staat der Bourgeoisie. Der Prozess des Aufbaus der Kommunen befindet sich in einer widersprüchlichen Beziehung der Bremse und Stimulation. Es gibt Sektoren in den Institutionen, die mit ihren Aktionen konstant die Volksinitiativen zur Organisation bremsen, aber im gleichen Staat, in denselben Institutionen gibt es Prozesse, die stimulierend wirken und etwas Neues entwickeln.

Rommel Acosta ist im Barrio Setenta Sprecher eines Consejo Comunal. Er erklärt, wie dieser aufgebaut wurde.

Rommel Acosta: Als wir eine Vollversammlung einberufen haben, um den ersten Consejo Comunal zu bilden, waren die meisten apathisch. Es gab keine große Partizipation. Wir brauchten fünf Versammlungen, um den Consejo aufzubauen. Dann haben die Leute gesehen, dass etwas passiert und ein wenig mehr das Bewusstsein für das Neue entwickelt, das sich jetzt gebildet hat. Mittlerweile haben wir eine genügende Partizipation erreicht, es sind immer so um die 200 Menschen da, die ich wahrnehme. Wir haben jetzt hier den Teil der kommunalen Bank, haben ein eigenes Bankkonto und die Wege hergerichtet. Jetzt fangen wir an, so zu funktionieren, wie es sein soll. Jetzt ist es an uns, uns zu organisieren.

Ich möchte ein Beispiel bringen: Ich bin an einem der Mesas Técnicas de Agua. Jetzt ist es an mir, wieder an die Stellen zu gehen, wo es in der Gemeinschaft Bedürfnisse gibt, um die Leute zu erreichen, neue Projekte einzubringen und alte Sachen zu reparieren. Das Landkomitee wird seine Funktion ausführen, die es erfüllen soll im Bereich des Straßenbaus. Auch die Infrastruktur gehört dazu. Wer für die Wohnungen und Häuser zuständig ist, kann jetzt die zuständigen Stellen ansprechen wie die Alcaldía Major und die Alcaldía Menor oder auch kommunale Stiftungen [diese vergeben Geld an Projekte der Volksmacht].

Dann können wir hier oben Erfolge erreichen und deshalb sind wir die Sprecher der comunidad. Das Barrio verpflichtet uns durch die Wahl als seine Sprecher. Der Consejo Comunal sind nicht wir, der Consejo Comunal ist das ganze Barrio. In der Volksversammlung sind wir einfache Menschen. Ich sage immer allen: „Wir sind als Sprecher Transportmittel, die dort hinfahren, wo wir gebraucht werden.“ Viele Leute sagen: „Rommel, vielen Dank für das Wasser.“ Aber sie sollen nicht uns danken, sondern der Organisation, die wir aufgebaut haben, um dorthin zu kommen, wo wir jetzt sind. Wir können für das Volk einen Gewinn erreichen, wir müssen nur daran glauben.

Wie angedeutet ist die Übernahme der Produktion durch die Basis in Venezuela noch nicht weit fortgeschritten. Ich habe mit Gustavo Martínez Gewerkschafter in der 2009 verstaatlichten Kaffeefabrik „Fama de América“ über die Situation im Betrieb gesprochen, der auch durch die Initiative der Arbeiter enteignet wurde.

Gustavo Martínez: Nein, es gibt keinen großen Unterschied. Der Produktionsmechanismus ist immer noch der gleiche. Wenn wir als Arbeiter irgendetwas verstärkt haben, dann ist das das Verhältnis zur Arbeit. Das Verhältnis zwischen den Vorarbeitern und den Arbeitern hat sich geändert. Es gibt mehr Dialog, mehr Verständnis. Man kann eine Idee diskutieren. Der Produktionsprozess läuft bewusster.

Als das Interview geführt wurde, waren die Arbeiter gerade dabei, einen Arbeiterrat bei „Fama de América“ aufzubauen. Dies geschah zumindest zum Teil gegen den staatlichen Fabrikdirektor. Martínez erläutert die Zielstellung von ihm und seinen Kollegen.

Gustavo Martínez: Die Arbeiter müssen echte Protagonisten im Entscheidungsprozess sein. Das ist ein Punkt, an dem es kein Zurück gibt. Die Arbeiter müssen ihre Führer wählen. Wir haben kapitalistische Strukturen, eine Firma, die von Direktoren, Vorarbeitern und so weiter geleitet wird. Damit muss es aufhören, das müssen wir zerschlagen. Das sind vertikale Strukturen, wir wollen horizontale Strukturen, Arbeitsgruppen, bei denen es für die verschiedenen Bereiche Referenten und einheitliche Kriterien gibt. Wir gehen nicht einfach rein und warten, dass jemand von oben kommt und sagt, wir müssen das und das und das machen. Wir wollen keine Paten, keine Chefs. Wir wollen diese Firma nach vorne bringen, um einen Fortschritt zum Sozialismus zu erreichen. Dass die Arbeiter ihre Verantwortung, die sie haben, auch erkennen. Ich muss sehen, dass ich einen menschlichen Beitrag leiste und keine Maschine bin, die man ein und ausschaltet und ich Geld bekomme, sondern dass auch meine Meinung wahrgenommen wird und dass ich etwas beitragen kann. Darauf arbeiten wir hin.

Neben den Interviews mit Piñate, Acosta (sowie zwei weiteren Sprecherinnen aus dem Barrio Setenta) sind im Buch Gespräche mit zwei Sprecherinnen eines Consejo Comunal aus der Bewegung der Sin Techos (Obdachlose) in Caracas, zwei mit Aktivisten der Coordinadora Símon Bolívar aus dem Viertel „23 de enero“ sowie eines mit dem kommunistischen Politiker Carolus Wimmer abgedruckt. Dazu kommen zwei Reportagen, zwei Analysen, ein Epilog sowie ein Anhang inklusive einem Gespräch mit den Interbrigadas. Weitere Information (und Bestellmöglichkeit) auf der Website zum Buch.

Helge Buttkereit, „Wir haben keine Angst mehr“. Interviews, Reportagen und Analysen zum bolivarischen Venezuela. Pahl-Rugenstein Verlag, 167 Seiten, 14,90 Euro, ISBN: 978-3-89144-448-1

Längerer Auszug (Einleitung und komplettes Interview mit Eduardo Piñate) als pdf-Datei bei buchhandel.de

Das komplette Interview mit Guadalupe Rodgríguez (Coordinadora Símon Bolívar) erschien am 17.9.2011 in der Tageszeitung jungen Welt.

AnhangGröße
PDF Icon auszug_keine_angst.pdf120.99 KB