"Venezuela im Film" feiert seinen siebenten Geburtstag

Ein kleiner historischer Rückblick auf das venezolanische Kino – Frankfurt am Main 06. bis 09. Oktober 2011

Sieben Jahre Filmfestival geben Anlass, einen kurzen Blick zu seinen Anfängen zu werfen, war doch die Herausforderung von Anfang an groß: Ein Festival mit neuen Produktionen zu präsentieren, aber dabei auch auf ältere Filme zurückzugreifen, denn während “die Produktionen aus Mexiko, Argentinien, Brasilien oder Kuba einen festen Platz im Programmangebot in den hiesigen Kinosälen haben, so ist die Kinematographie anderer Länder, wie Venezuela, noch zu entdecken“, waren die einleitenden Worte von Klaus-Peter Roth, Leiter des kommunalen Kinos Filmforum Höchst in Frankfurt am Main, zur ersten Auflage des Festivals Venezuela im Film im Jahre 2005. 

So ist es dem Generalkonsulat der Bolivarischen Republik Venezuela in Frankfurt am Main dank der Zusammenarbeit mit dem venezolanischen Filminstitut CNAC und dem Filmforum über die Jahre hinweg gelungen, aktuelle und ältere Filme nach Höchst zu bringen. Während die erste Auflage noch von einer bezüglich der Erstaufführung eher losen Auswahl geprägt war (Cien años de perdón von Alejandro Saderman, 1999, Manuela Sáenz von Diego Risquez, 2000, oder Tosca- La verdadera historia von Iván Feo, 2001), gelang es den Veranstaltern in den Folgejahren, dem aktuellen venezolanischen Kino mehr Gewicht zu verleihen, ohne dabei aber die Klassiker aus dem Auge zu verlieren. In der fünften Auflage etwa wurde Oriana (Fina Torres, 1985), der “für das venezolanische Kino richtungweisende Film“1, zusammen mit den aktuellen Filmen Cyrano Fernández (2007) von Alberto Arvelo, El Enemigo (2008) von Luís Alberto Lamata oder El tinte de la fama (2008) von Alejandro Bellame Palacios gezeigt. Mit Caín Adolescente aus dem Jahre 1957 wurde 2007 anlässlich einer Retrospektive über das Werk von Román Chalbaud (*1931) eine wahre Perle aus dem Repertoire des venezolanischen Kinos präsentiert.

Ein kleiner historischer Rückblick auf das venezolanische Kino

Die Anfänge des gewöhnlich als junges Filmland bezeichneten Venezuela gehen auf das Jahr 1897 zurück, als im Teatro Baralt in Maracaibo mit Un célebre especialista sacando muelas en el Gran Hotel Europa und Muchachas bañándose en la laguna de Maracaibo, beide von Manuel Trujillo Durán, die ersten bewegten Bildprojektionen zu sehen waren. In Mexiko, zum Vergleich, wurden die ersten bewegten Bilder mit einem Kinetoskop zwei Jahre zuvor gezeigt. “Venezuela befand sich an der Spitze der lateinamerikanischen Länder, die dem Kino erstmals die Türen öffneten“, so die venezolanische Filmkritikerin Ambretta Marrosu.2

Der erste Langspielfilm La Dama de las Cayenas von Enrique Zimmermann erscheint 1916. Im Jahre 1930 ist die erste Tonprojektion mit El Cuerpo del delito in Englisch und Spanisch (Paramount) in Maracaibo zu sehen und 1938 wird schließlich mit El rompimiento von A.M. Delgado Gómez der erste synchronisierte Langspielfilm gezeigt.

Trotz dieser Entwicklung, räumt dennoch die Produzentin Ana Albarrán Segovia (ehemalige Mitarbeiterin des Regisseurs Alberto Arvelo) ein, erscheint erst 1949 mit La balandra Isabel llegó esta tarde von Carlos Hugo Christensen ein venezolanischer Film, der 1951 in Cannes auch internationale Anerkennung erhält. “Zu jenem Zeitpunkt wurden schon in mehr als 10 lateinamerikanischen Ländern gute Langspiel- und Dokumentarfilme gedreht, darunter etwa finanziell weitaus schwächere Länder wie Haiti oder Kuba.”3

In den Folgejahren bringt Venezuela bedeutende Regisseure hervor, hier sind u.a. der bereits genannte Cineast Román Chalbaud (*1931) zu nennen, Clemente de la Cerda (1935–1984), Luis Armando Roche (*1938) oder auch der in Venezuela ansässige Mexikaner Mauricio Walerstein (Mexiko, *1945). Walerstein bescherte Venezuela mit Cuando quiero llorar no lloro (1973), basierend auf dem gleichnamigen Roman von Miguel Otero Silva, einen wahren Kassenschlager und initiierte “mit seiner neuen Sprache und neuen Thematiken den so genannten Boom des nationalen Kinos“4. Die Filmemacherin Fina Torres (*1951) und die seit ihrer Kindheit in Venezuela lebende Solveig Hoogesteijn (*1946 in Schweden) stellen vor allem weibliche Protagonisten in den Vordergrund ihrer Geschichten. Solveig Hoogesteijn, die Filmwissenschaften in Stuttgart5 studierte, wusste “mit ihrem polemischen Film Macu, la mujer policial (1987) die venezolanische Frau der 1980er Jahre aus der Anonymität herauszuholen.“6

Mit den jüngeren Cineasten, es möge hier ein zeitlicher Sprung erlaubt sein, wie etwa Mariana Rondón oder Alberto Arvelo (beide 1966 geboren), um nur zwei sowohl national als auch international prämierte Filmemacher zu nennen, erhält das venezolanische Kino neunen Wind, gelingt es ihnen nicht nur thematisch (Drehbuch), sondern auch technisch (Kamera, Ton und Musik) ein qualitativ anspruchvolles Kino zu machen. A la media noche y media (1999), Postales de Leningrado (2007) oder El Chico que miente (2011) von Rondón und Una vida y dos mandados (1996), Una casa con vista al mar (2001), Tocar y luchar (2005) oder Cyrano Fernández (2007), das sind nur wenige aus den an Themen und Genre vielfältigen Werken von Rondón und Arvelo.

Die Gründung des Centro Nacional Autónomo de Cinematografía (CNAC)

Das venezolanische Filminstitut CNAC wurde im Jahre 1993 gegründet. Größte Herausforderung war es, das nationale Kino sowohl im Inland als auch im Ausland gegen die aus den USA importierten Hollywood-Filme konkurrenzfähig zu machen, erzählt Nancy de Miranda7, ehemalige Direktorin des Laboratorio del Cine y el Audiovisual, ein Sektor des Filminstituts, das vor allem die Ausbildung der nationalen Filmproduktion fördert. “Die in den Kinosälen gezeigten Filmproduktionen kamen damals“, so de Miranda “noch zu über 90 Prozent aus Hollywood.“

Das Laboratorio fördert zwar nicht ausschließlich junge Filmemacher, jedoch liegt der Schwerpunkt ohne Zweifel in der Promotion des Kino-Nachwuchses. Ein großes Angebot von Lehrgängen, Stipendien und Seminaren, die sich an alle Filminteressierte richtet, mit oder ohne akademische Vorkenntnisse, werde in Zusammenarbeit mit den “großen“ Cineasten des Landes koordiniert.8

Wie konsequent der CNAC auch die internationale Arbeit angeht, bestätigen u.a. die Zahlen aus dem Jahre 2009, als 684 Filme zu den verschiedensten Veranstaltungen ins Ausland verschickt wurden, was, verglichen mit dem Vorjahr mit 338 Filmen, mehr als eine Verdoppelung darstellt.9

2006 wird schließlich die Villa del Cine gegründet, die in Guarena zu finden ist, nur eine Stunde Autofahrt von Caracas entfernt. Mit ihr wurde eine neue Institution geschaffen, die solche Drehbücher fördert, die sich mit Venezuela, “seiner Identität, der Vielfalt seiner Kulturen und den Werten von Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden“ auseinandersetzen – Koproduktionen mit anderen Ländern, wie etwa mit dem kubanischen Filminstitut ICAIC, sind dabei eingeschlossen. Für Luis Alberto Lamata (*1959), der u.a. in der Internationalen Filmhochschule (EICTV) in San Antonio de los Baños (Kuba) Drehbuch studierte, bedeutet La Villa del Cine “ein wunderbarer Traum“, der endlich verwirklicht wurde. Lamata, der 1990 mit Jericó  “einen der besten Filme seine Epoche produzierte”10, leistete mit seinen historischen Filmen Miranda Regresa11 (2007) und Taita Boves12 (2010) einen nachhaltigen Beitrag zur Geschichte Venezuelas.

Die Filme des VII. Festival Venezuela im Film

Die nunmehr siebente Auflage von Venezuela im Film findet vom 6. bis 9. Oktober 2011 im Filmforum-Höchst13 statt und wird mit dem leidenschaftlichen Fußballfilm Hermano von Marcel Rasquin (*1977) eröffnet. “Es ist ein Film über zwei Brüder, die Fußball in einem Baseball-Land spielen. Es ist, als ob ein Stier in Japan geboren würde“, so Rasquin augenzwinkernd über sein Erstlingswerk Hermano, der weit über den Fußball hinausgeht, spielt sich doch das tägliche Leben der beiden Hauptfiguren Daniel und Julio inmitten von Gewalt und Armut in La Ceniza ab, einem Vorort von Caracas. Hermano, der seit seiner Uraufführung 2010 mehr als 10 internationale Filmpreise erhalten hat, ähnelt in seiner Sozialthematik und Dynamik Filmen wie Cyrano Fernández, La clase von José Antonio Varela (2007) oder Maroa (2005) von Solveig Hoogesteijn, auch dort sind die Schauplätze in die Armenviertel des heutigen Caracas’ verlegt und sind Kinder bzw. junge Erwachsene die Hauptakteure.

Venezzia (2009) von Haik Gazarian (*1966) geht auf ein reales Ereignis aus dem Jahre 1942 zurück. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor treten die USA in den Zweiten Weltkrieg. Im Rahmen eines Kooperationsprogramms mit den Alliierten wird Frank Moore, Kommunikationstechniker aus New York und Sohn einer lateinamerikanischen Mutter, zu einer Funkstation in einen entlegenen Ort am Hafen Miranda geschickt, am Ufer des karibischen Meeres. Er betritt zum ersten Mal venezolanischen Boden, mit der Gewissheit, dass er nur seine Zeit verschwenden wird. Doch dort bereiten die Nazis schon einen Sabotageakt vor. Die Welt der Spionage verquickt sich mit einer –fiktiven- leidenschaftlichen Dreiecksgeschichte. Venezzia gehörte 2010 zu den Kassenschlagern der venezolanischen Kinosäle und erhielt bisher 17 nationale und internationale Auszeichnungen.

Un lugar lejano (2009) des in Venezuela lebenden Regisseurs José Ramón Novoa14 (Montevideo, 1954) fällt neben der im aktuellen venezolanischen Kino wahrzunehmenden Tendenz zu sozialkritischen, historischen und folkloristischen Themen, die sich auf die verschiedenen Kulturräume in Venezuela beziehen, ein wenig aus der Reihe. Im Mittelpunkt steht der Fotograf Julian, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere erfahren muss, dass er eine Krankheit im Endstadium hat. Er beginnt, sein Leben zu hinterfragen und beim Ordnen seiner Angelegenheiten stößt er auf ein unbekanntes Foto, das ihn nicht mehr loslassen wird. Er spürt, dass dieses Bild von einem weit entfernten Ort kommen muss. So begibt sich Julián schließlich auf eine abenteuerliche Reise ins tiefe Patagonien.
 
Festivalgast

Die Hauptrolle von Un lugar lejano, der auf dem gleichnamigen Roman des uruguayischen Schriftstellers und Casa de las Américas-Preisträgers Fernando Butazzoni15 basiert, hat der Venezolaner Erich Wildpret (*1980) inne. Wildpret wird dieses Jahr als Ehrengast in Frankfurt erwartet. “Dieser Schauspieler steht in der Regel nicht in den Schlagzeilen der venezolanischen Skandalpresse, auch gibt er keine polemischen Kommentare ab noch macht er aus seinem Privatleben ein Öffentliches“, ist über ihn zu lesen. Wildpret, der seine schauspielerische Ausbildung in der Theaterschule Escuela Nacional de Teatro in Venezuela absolvierte, hält sich fern vom kommerziellen Filmemachen, lehnt konsequent Angebote für das Fernsehen ab, vor allem mit Telenovelas könne er nichts anfangen.

La Independencia Inconclusa des chilenischen Regisseurs Luis R. Vera Vargas (*1952) ist ein Beitrag zu den Jahresfeiern der Unabhängigkeit Lateinamerikas. Zahlreiche politische und kulturelle Protagonisten aus der Region kommen hier zu Wort, unter anderen sind das etwa Michel Bachelett, Fernando Lugo oder Evo Morales und Eduardo Galeano, Ernesto Cardenal oder Carlos Fuentes, aber auch Passanten auf den Straßen der Metropolen werden befragt. Der Film macht soziale, politische und kulturelle Tatsachen sichtbar, die die historischen Ereignisse sowohl positiv wie auch negativ beeinflussten. Das Resultat ist ein historischer Überblick über den Unabhängigkeitsprozess, das Aufkommen von Nationalstaaten, den  europäischen  Neokolonialismus sowie die Positionierung der USA in der Region. “La independencia inconclusa behandelt” —so der Regisseur— “große Themen um ein Lateinamerika, das noch nicht den Traum der Emanzipation seiner großen Freiheitskämpfer verwirklicht hat, das aber unablässig den Kampf um eine definitive Unabhängigkeit fortführt”. An der Realisierung des Films wirkten Venezuela, Mexiko, Paraguay, Kuba, Ecuador, El Salvador, Bolivien und Kolumbien mit. Der Dokumentarfilm wurde vergangenen Februar während der Internationalen Buchmesse in Havanna täglich in verschiedenen Kinosälen und Kulturinstituten aufgeführt.

Mit Aire Libre (1994) von Luis Armando Roche (*1938) wird nicht nur ein Klassiker ausgepackt. Es wird von dem Südamerikareisenden Alexander von Humboldt erzählt, der in Deutschland immer noch zu wenig Gehör findet, vergleicht man es mit Lateinamerika und der Karibik, wo der deutsche Forscher großes Ansehen genießt.

Aire Libre nimmt eine konkrete Phase aus dem Leben von Humboldts auf: Der Tod von Aimé Bonpland 1858 hat zur Folge, dass sich Alexander von Humboldt eine Expedition in Erinnerung ruft, die beide zum Fluss Casiquiare unternommen hatten, um die Flora und Fauna im venezolanischen Amazonas zu erkunden. Auf der Überfahrt werden sie von Pedro begleitet, einem jungen Venezolaner, der sich für die Humboldt’schen Forschungen interessiert. Der Gruppe schließt sich auch der Grenzwächter Rivera an, mit dem sie zum Casiquiare gelangen. Doch es wird ausgerechnet dort sein, wo sich die Wege von Humboldt und Bonpland für immer trennen werden. Ein denkwürdiger Film auf vollem Niveau: sowohl schauspielerisch als auch technisch. (wordpress)

Wie immer stehen den Langspielfilmen Kurzfilme vor. Alexandra Henao und Javier Beltrán Ramos (1972) repräsentieren mit Cunaro (2007) und Historias del Viento (2007) zweifelsohne das große Potential des jungen venezolanischen Kinos, während mit dem Zeichentrickfilm Titiri-We. El canto de la noche (2008) von Viveca Baíz (1947) eine etablierte und engagierte Filmemacherin gezeigt wird, die ihre filmische Kreativität in Harmonie mit Bildungspädagogik für Kinder auf den Bildschirm bringt.

  • 1. Rodolfo Izaguirre, aus: Diccionario de realizadores del cine latinoamericano (Hrsg. Clara Kriger und Alejandra Portela), Buenos Aires, 1997.
  • 2. Panorama histórico del cine en Venezuela. 1896-1993, Caracas, 1997.
  • 3. Aus dem Gespräch “Und wer spricht zur Abwechslung einmal über Kultur? Das venezolanische Filminstitut CNAC feiert seinen 15. Geburtstag“, das in gekürzter Form in der Informationsstelle Lateinamerika, ila, 333, 3/2010 veröffentlicht wurde.
  • 4. Panorama histórico del cine en Venezuela.
  • 5. http://www.cinelatinoamericano.org
  • 6. Antonio Paz, 2006.
  • 7. Aus einem persönlichen Gespräch aus dem Jahre 2008, während meines Praktikums im CNAC.
  • 8. Aus: “Ein Fenster zum Süden wird geöffnet. Es weht ein frischer Wind in Venezuelas Kultur.“ Ila, 318, 9/ 2008.
  • 9. Cine en Línea. 15 Aniversario CNAC, Nr. 86, CNAC, Caracas, 31/7/2009. Digitale Zeitschrift, die fast täglich über venezolanische Filmproduktionen berichtet.
  • 10. http://www.cinelatinoamericano.org
  • 11. Von La Villa del Cine und dem CNAC produziert.
  • 12. Von Jericó L.L. Films; CNAC, PDVSA, Centro de Arte La Estancia und Fundación Villa del Cine produiziert.
  • 13. http://filmforum.neues-theater.de, Emmerich-Josef-Str. 46ª, Höchst. Kartenreservierung unter: 069-212-45714.
  • 14. José Ramón Novoa ist der Regisseur der international mehrfach preisgekrönten Filme Sicario (1994) und Huelepega (1999).
  • 15. www.casadelasamericas.com