Aufbau der sozialen Bewegung

Nach ihrer Rückkehr ziehen Camila Vallejo, Jorge Murúa und Karol Cariola eine Bilanz der Rundreise durch Europa. Debatte über nächste Ziele

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Camila Vallejo auf der Pressekonferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin
Camila Vallejo auf der Pressekonferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin

In lateinamerikanischen Medien wurde die Europa-Rundreise der Sprecher der sozialen Bewegungen in Chile, Camila Vallejo, Karol Cariola und Jorge Murúa, mit großem Interesse verfolgt. Bei ihrer Rückkehr am 14. Februar aus Rom gaben die drei Aktivisten eine Pressekonferenz. Karol Cariola führte ein ausführliches Interview mit CNN-Chile (Spanisch). Auf der Pressekonferenz beschrieb Camila Vallejo es als Ziel der Rundreise "unsere politischen Ansichten hinsichtlich der Mobilisierungen darzustellen, die die großen Streiks von 2011 zur Folge hatten. Ebenso wollten wir die Situation in den europäischen Staaten, und auch darüber hinaus, kennenlernen und verstehen, wie die soziale Organisationen in Europa auf die weltweite Krise reagieren, die der Kapitalismus durchläuft."

Die Vorsitzende der JJCC, Karol Cariola, erklärte, dass die Delegation auf Einladung der Rosa Luxemburg Stiftung und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nach Deutschland gereist war. "Wir nahmen in neun deutschen Städten an Konferenzen und Treffen mit politischen und sozialen Organisationen, mit Gewerkschaften und Studierendenorganisationen teil. Wir trafen uns mit Oskar Lafontaine, dem Vorsitzenden der größten linken Partei in Deutschland, mit Bürgermeistern und weiteren Persönlichkeiten des politischen und sozialen Lebens, unter ihnen selbstverständlich auch mit der Deutschen Kommunistischen Partei", fügte Karol hinzu.

"Insgesamt besuchten wir vier Staaten und 14 Städte, während einer Reise, die gerade mal 18 Tage dauerte. Wo immer wir uns aufhielten, hatten wir ein straffes Programm, so beispielsweise in Schweden, wo es eine der weltweit größten lateinamerikanischen und chilenischen Gemeinschaften gibt. So wollten wir für ein weit verbreitetes Anliegen eintreten, nämlich das des Wahlrechtes für Chilenen, die im Ausland leben." Karol Cariola erinnerte an den Aufruf des ersten Streiks vom 17. März 2011, um das Wahlrecht für Chilenen mit Wohnsitz im Ausland einzufordern.

"In der Schweiz klagten wir systematische Menschenrechtsverletzungen in Chile an, deren Zeugen wir wurden, auch solche, die bereits vor 2011 geschahen. Wir überbrachten der UNO die Berichte des Nationalen Institutes für Menschenrechte, DDHH, wir trafen uns mit dem Vorsitzenden der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO (ILO), Juan Somavia, und beendeten unsere Rundreise in Rom, wo eigentlich eine große Gewerkschaftsdemonstration abgehalten werden sollte, die aber – wegen des Kälteeinbruchs in Europa – abgesagt wurde."

"Unsere Reise war äußerst erfolgreich, da es gelungen ist, viele politische Kontakte zu knüpfen; wir stellten die politische Situation dar, die weit über die Belange der Studierendenbewegung hinausreicht. Wir konnten der Welt zeigen, dass in Chile eine soziale Bewegung im Entstehen begriffen ist, in der nicht nur Studenten, Arbeiter, einfache Leute oder politische Organisationen beteiligt sind, sondern die auch versucht, die Zeichen der Zeit zu verstehen: die Krise der kulturellen Hegemonie des neoliberalen Modells, die in einem internationalen Kontext mit der Krise des globalen Kapitalismus zusammenhängt", fügte Karol Cariola hinzu. "Der Kampf, der in Chile ausgetragen wird, ist kein Einzelfall, sondern er reiht sich in einen globalen Kampf gegen den Kapitalismus ein", fasst sie zusammen.

Camila Vallejo erklärte: "Man sollte immer den Charakter der Rundreise hervorheben, die durch eine Einladung der Rosa Luxemburg Stiftung zustande kam. Wir wollten im Ausland unsere politischen Ansichten in Bezug auf den Mobilisierungsprozess bekanntmachen, der die großen Streiks  von 2011 zur Folge hatte. Wir wollten die Situation in anderen Ländern – nicht nur in den europäischen, kennenlernen und erfahren, wie die sozialen Organisationen auf das Phänomen der weltweiten Krise des Kapitalismus reagieren."

"Wir haben mit verschiedenen Mythen des chilenischen Models aufgeräumt, hinsichtlich der Situation des politischen Systems und seines Rückhaltes in der Bevölkerung", fügte sie hinzu. "Und wir nahmen zur Kenntnis, dass dieses mächtige Land, Deutschland, ebenfalls eine soziale Krise durchlebt, dass man dort soziale Kürzungen zu rechtfertigen versucht und die Privatisierung der Grundrechte vorantreibt."

"Wir haben feststellen können, dass dort – vor 2011 – versucht worden war, das chilenische Bildungsmodell als ein positives Beispiel anzuführen, um damit  das Recht auf Bildung in diesen Staaten stark zu beschneiden. Die Studierendenorganisationen sind diesen Privatisierungsversuchen entschieden entgegengetreten und deshalb wollen wir mit ihnen in noch engere Verbindungen treten.

Andererseits teilen wir mit ihnen nicht nur  Erfahrungen, wie das Vorantreiben und die Weiterentwicklung des neoliberalen Modells, sondern auch die Haltung verschiedener Regierungen zu diesem Thema: die Technokratie und der liberale oder neoliberale Charakter dieser Regierungen ist der gemeinsame Nenner, unter dem wir alle stehen.

Als wir wieder nach Chile zurückkamen, stellten wir fest, dass versucht wurde, den Privatisierungsprozess der Gesundheitsversorgung und der Lithiumvorkommen abzuschließen. Das macht uns Sorgen, weil es den auf Unternehmerinteressen fokussierten Charakter dieser Regierung unterstreicht, die versucht, am Ende ihrer Amtsperiode auf alles den Stempel der Privatisierung zu drücken. Es ist offensichtlich, dass es keinen politischen Willen gibt, Fortschritte bei den Grundrechten  zu erreichen, sondern dass man ausschließlich den Privatisierungsvorgaben folgen will, was inakzeptabel ist, nicht nur in Chile, sondern auch anderswo. Das zeigt sich auch in Griechenland durch die permanenten,  immer weiter reichenden Kürzungen der Sozialausgaben oder durch die Prekarisierung  der Arbeitsverhältnisse bei vielen Bürgern."

Nach Camila Vallejos Ansicht war die Reise "sehr erfolgreich". Weiterhin erinnerte sie an "die Notwendigkeit, unsere Beziehungen zu anderen sozialen und gewerkschaftlichen Organisationen, nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in der übrigen Welt, auszubauen, um sich den herrschenden Zuständen, von denen alle Bürger betroffen sind, geeint entgegenstellen zu können."

"Des Weiteren möchte ich –  um den Spekulationen um die Finanzierung dieser Reise ein Ende zu bereiten – klarstellen, dass die Kosten von der  Rosa-Luxemburg-Stiftung übernommen wurden, da auch die Einladung durch diese Organisation erfolgt war", sagte Camila zum Schluss.

"Wir wurden trotz der winterlichen Bedingungen, die derzeit in Europa herrschen, von den Arbeitern, von Gewerkschaftsangehörigen und linken Gruppen warm und herzlich empfangen", sagte der Jugendvorsitzende der CUT, Jorge Murúa.

"Die Einladung hängt mit den historischen Erfolgen der chilenischen Arbeiterbewegung seit der Gründung unserer wichtigsten Komitees, des Sozialen Runden Tisches, zusammen; sie ist verbunden mit dem hohen Maß an Einheit, das nicht nur im gewerkschaftlichen, sondern auch im politischen Umfeld erreicht wurde", fügte er hinzu.

In diesem Kontext erinnerte der Gewerkschaftsaktivist daran, dass die Arbeiter genau um die gleiche Zeit im vergangenen Jahr  Zeugen wurden, wie die Bewohner von Magallanes sich gegen Gaspreiserhöhungen wehrten; ebenso wurde durch Hungerstreiks die Freiheit von Mapuche-Gefangenen gefordert und Umweltbewegungen versuchten, eine Genehmigung für den Bau eines Wasserkraftwerks zu verhindern.

Die Protestbewegung von 2011 wurde mehrheitlich von Studierenden beeinflusst, die sich für so wichtige Belange, wie die einer kostenfreien Bildung, bzw. für ein Ende der Profitgier einsetzten. "Wir als Arbeiter unterstützten diese Bewegung von Anfang an, um gemeinsam einen Sozialen Runden Tisch für Bildung zu organisieren, der daraufhin den Generalstreik vom 24. und 25. August ins Leben gerufen hat. Die Art und Weise, wie die Arbeiter sich hierbei eingebracht haben, stieß in Deutschland, Schweden, der Schweiz und Italien auf großes Interesse. Wir haben einen politischen Bildungsgrad erreicht, der dort noch nicht vorhanden ist, vor allem sollten ihre gewerkschaftlichen und sozialen Organisationen auch eine größere Rolle in der Politik einnehmen, wie es die Studierenden mit ihrem Widerstand gegen die Privatisierungspläne vorgemacht haben", sagte Jorge Murúa weiter.

Vom Sozialen zum Politischen

Diesbezüglich erklärte Camila Vallejo "Das Ziel der Delegation war es aufzuzeigen, dass die Bewegung von 2011 nicht mehr ausschließlich eine Studentische ist. Es war uns wichtig hervorzuheben, welche Bedeutung die Beteiligung anderer sozialer Gruppen hat, wie die von Arbeitern, von Familien und anderen Bewegungen. Das ist ein Prozess mit sowohl sozialem als auch politischem Charakter. Die Bewegung wird nicht nur von Studierenden, sondern auch von Politikern angeführt, weil die Reform des Bildungssystems in unserer Gesellschaft auch eine politische Komponente hat", fügte Camila hinzu.

"Derzeit bin ich in der Arbeit der Studierendenorganisation eingebunden. Welche Formen diese Bewegung in Zukunft annehmen wird, steht noch zur Diskussion. Zuerst müssen wir unsere politischen Ziele definieren, dann entscheiden wir über die Formen der Mobilisierung. Es ist klar, dass wir nicht auf dieselben Rezepte wie 2011 zurückgreifen können, sondern neue Wege finden müssen, die nicht gegen unsere politische Ziele verstoßen. Darüber sind wir uns alle einig."

Die ehemalige Sprecherin der Confech plädierte dafür,  "neue Formen zu suchen und ihnen in unserer Zielsetzung eine neue Bedeutung zu verleihen. Von nun an wird die Entscheidungsfindung in der Verantwortung der Bewegung bleiben, daran wird jetzt gearbeitet."

Die Neudefinition wird laut Vallejo wahrscheinlich in April ausgearbeitet sein. "In einer öffentlichen Veranstaltung wird sich die Studierendenbewegung in ihrer Gesamtheit ab 2012 zu einer sozialen Bewegung ausweiten."

Hinsichtlich der bevorstehenden Kommunalwahlen lehnte Camila einmal mehr eine Kandidatur ab, bei der es sich um "eine politische Karriere mit persönlichem Charakter" handeln würde. "Aber ich arbeite am Aufbau und an der Konsolidierung der sozialen Bewegung an der Basis mit, und deshalb auch selbstverständlich im Wahlkampf verschiedener Bezirke. Camilo Ballesteros ist der derzeitige Kandidat,  weil die sozialen Bewegungen an verschiedenen Orten im Entstehen begriffen sind", erklärt sie.

Als Karol Cariola über eine mögliche indirekte Zustimmung durch Enthaltung zur Concertación1 befragt wurde, lautete ihre Antwort: "Das war eine gemeinsame Entscheidung der Jugend und der Partei, da es für beide geeignete Kandidaten gibt. Wir hoffen, dass die Verhandlungen Fortschritte verzeichnen und zu einem guten Abschluss gebracht werden können. Wir sind in der Lage, in allen Gemeinden Kandidaten aufzustellen, falls es zu keiner Einigung kommen sollte. Wir haben versprochen, uns sowohl zu den Bezirkswahlen, als auch zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen aufzustellen; wir wollen unser Spektrum erweitern und arbeiten daran, eine deutliche politische und soziale Mehrheit zu erzeugen, die uns erlaubt, die Repräsentationsspielräume jener Kräfte in Frage zu stellen, die uns zwar seit vielen Jahren regieren und trotzdem nie die gemeinschaftlichen Interessen der Bevölkerung repräsentiert haben. Wir haben gesehen, wie Verhandlungen des Parlamentes, der Regierung und der Bezirke vor dem Volk verheimlicht wurden, weswegen wir auf diesem Gebiet eine fundamentale Rolle spielen sollten."

  • 1. Bündnis aus Christ- und Sozialdemokraten in Chile