Mexiko / Politik

Mexikos heimliche Reform

Juristisch hat Mexiko mit der Verfassungsreform von 2011 einen großen Schritt zur Durchsetzung der Menschenrechte unternommen. Die Umsetzung in gesellschaftliche Realität steht aber noch aus

top-constitucion_3.jpg

Erster mexikanischer Verfassungstext aus dem Jahr 1857, verabschiedet vom Außerordentlichen Kongress in Mexiko-City
Erster mexikanischer Verfassungstext aus dem Jahr 1857, verabschiedet vom Außerordentlichen Kongress in Mexiko-City

Es sind etwa zwei Jahre vergangen, seitdem das mexikanische Parlament die Verfassung von 1917 reformierte. Dabei wurden allen internationalen Verträgen, die Mexiko unterschreibt und bis dato unterschrieben hatte, auf Verfassungsniveau gehoben. Diese Reform käme einem Staatsstreich gleich – hätte sie irgendjemand bemerkt.

Die mexikanische Verfassungsreform von 2011 ist für grundlegende und weltweit wegweisende Entwicklungen in der Gesetzgebung zum Thema Menschenrechte verantwortlich: Zum einen für den so genannten bloque constitucional. Dieser "Verfassungsblock" in der Verfassung weist allen internationalen Verträgen und Abkommen, denen Mexiko bisher beitrat, den Rang der Verfassung zu. Somit genießen beispielsweise alle Rechte der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen den gleichen juristischen Stellenwert wie die nationele Verfassung selber – das wichtigste Rechtsdokument des Landes. Das selbe geschieht auch mit allen Verträgen, die von der mexikanischen Regierung in Zukunft unterzeichnet werden.

Außerdem wurde das principio pro persona eingeführt. Das "Prinzip pro Person" sieht vor, jedem immer den größtmöglichen rechtlichen Schutz zu gewährleisten. In Verbindung mit dem Verfassungsblock führt das Prinzip pro Person dazu, dass die Menschenrechte vor Gericht zu einklagbarem Recht werden – für jeden Mexikaner und jeden, der sich auf mexikanischem Territorium aufhält.

Eine weitere Änderung der Verfassung spricht von der control difuso de convencionalidad, der "diffusen Kontrolle der Konventionalität". Dieser undurchsichtige Begriff beschreibt die Pflicht der Richter, auf allen Staatsebenen und bei jedem Gerichtsverfahren die angewandten Gesetze zu überprüfen. Sollten diese mit dem Recht aus der Verfassung und den internationalen Verträgen kollidieren, ist der Regelung aus den Verträgen und der Verfassung der Vorzug zu geben.

Mexiko als Vorreiter in Sachen einklagbare Menschenrechte

Damit wird Mexiko zu einem juristischen Vorreiter in Sachen Menschenrechte. Weder Deutschland noch Frankreich und schon gar nicht die USA haben derart explizit die Menschenrechte in ihre Rechtskataloge aufgenommen. In der BRD verweist lediglich ein Halbsatz im Grundgesetz auf das Selbstverständnis des selbigen, mit den Menschenrechten im Einklang zu stehen. Mexikos Reform ist mehr als nur das. Sie ist eine Entwicklung  hin zur Einklagbarkeit aller in internationalen Abkommen fixierten Menschenrechte – zumindest auf dem Papier. Würden Politik und Justiz im Sinne der Reform handeln, würde das eine Veränderung alle Prämissen der nationalen Politik darstellen. Der Weg für ein Mexiko als Menschenrechts- und Sozialstaat wäre geebnet.

Wer nun aber große Aufbruchstimmung erwartet, liegt falsch. Natürlich wurde die Reform von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen bejubelt, als sie am 10. Juni 2011 in Kraft trat. Auch deutsche Stiftungen mit Sitz in Mexiko lobten die Entwicklung. Unter ihnen die Heinrich Böll-, Friedrich Ebert- und Konrad Adenauer Stiftung. Dann geschah aber erst einmal lange nichts. Weder der Staat noch die Justiz verbreiten den Inhalt der Reform und ihre rechtlichen Folgen. Teilweise wissen nicht einmal Richter und Anwälte über ihre Existenz Bescheid. Genauso wenig wissen auch die meisten Opfer von Menschenrechtsverletzungen um ihre neuen Rechte.

Große Diskrepanz zwischen Gesetzesnorm und Rechtsrealität

Der Fortschritt in Sachen Menschenrechte spielt sich bisher nur auf dem Papier ab. Zwar festigt die Rechtslage die Menschenrechte in der Verfassung nachhaltig, die Realität sieht leider völlig anders aus. Menschenrechtsverletzungen durch Behörden, Industrie, organisierte Kriminalität, aber auch durch Privatpersonen sind an der Tagesordnung. Unter fehlendem Rechtsschutz leiden vor allem indigene Bevölkerungsgruppen, Menschen mit Behinderung, Einwanderer, Frauen und Kindern. Der Staatsapparat und das Justizsystem sind korrupt und tatsächlich scheint kaum jemand daran interessiert zu sein, der nun schon etwas älteren Reform Nachdruck zu verleihen. Während in Politik- und Rechtswissenschaften über die Anwendung des Verfassungsblocks diskutieren wird, ist auch die Regierung nicht an einer Verbreitung interessiert. Könnte sich die Reform durch eine regelrechte Flut von Klagen doch als extrem kostspielig für den Staat herausstellen. Selbst in der Bevölkerung herrscht Skepsis. Viele glauben, die Änderungen würden das organisierte Verbrechen noch stärker begünstigen als es die bisherige Gesetzeslage schon getan hat.

Außerdem gibt es da noch Francisco Arroyo Vieyra und Raúl Cervantes Andrade. Die beiden rechts-konservative Politiker der PRI, der Partei der Institutionellen Revolution, hatten kurz nacheinander zwei Entwürfe von Gegenreformen der Verfassung vorgelegt. Beide Entwürfe zielen darauf ab, die Vormachtstellung der nationalen Verfassung wiederherzustellen. Sie soll wieder über den internationalen Verträge stehen. Es ginge um die nationale Souveränität, meint Arroyo Vieyra. Damit würde der Zustand vor der Reform wieder hergestellt – ohne besondere Normen für Menschenrechte.

Bündnis aus den Reihen der Zivilgesellschaft

Der Widerstand scheint zwecklos, gegen die Übermacht von reaktionären Strömungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Zwecklos? Nein! Ein kleiner Verband von Menschenrechtsaktivisten organisiert sich von Mexiko-Stadt aus. Sein Ziel ist die Verbreitung und Veröffentlichung der Verfassungsreform. Dabei ist Überzeugungsarbeit in der Bevölkerung und in den Behörden gefragt. Das Flaggschiff des Projekts ist das IMDHD, das Mexikanische Institut für Menschenrechte und Demokratie. 

Der IMDHD ist eine Nichtregierungsorganisation, die seit wenigen  Jahren in Zusammenarbeit mit mexikanischen und internationalen Stiftungen und Organisationen die Verbreitung der Menschenrechte zu stärken sucht. Bisher fokussierte sich die Arbeit des Instituts auf Forschung und Analyse in Sachen Gleichheit, Bürgersicherheit und demokratischer Teilhabe.  Zusammen mit sieben Organisationen aus sieben weiteren mexikanischen Bundesstaaten veranstalten sie nun Seminare für Zivilgesellschaft, Beamte und Studenten verschiedener Disziplinen. Durch Aufklärung, vor allem der jüngeren Generationen, soll so der langfristige Bestand gesichert und die Anwendung der Menschenrechte in Mexiko verbessert werden. 

Die Gruppe von Menschenrechtsorganisationen ist die einzige zivil-gesellschaftliche Bewegung, deren Ziel die Verbreitung des Artikel 1. der mexikanischen Verfassung ist.  Ihr Ziel ist es auch eine Gegenreform zu verhindern. "Eine Gegenreform wäre ein Schritt um zweihundert Jahre zurück. Paradoxerweise wollen genau die, deren Idee es war die Menschenrechte durch die Verfassung zu garantieren, nun diesen Fortschritt wieder rückgängig machen", argumentiert Rocío Culebro Bahena, Direktorin des IMDHD. Die Projektarbeit wird sich vorerst über die kommenden drei Jahre erstrecken. Dann sollen erste messbare Erfolge verzeichnet werden.

Finanziell unterstützt wird die Arbeit des Kollektivs rund um den IMDHD von der US-amerikanischen Stiftung USAID. Die staatliche Organisation finanziert weltweit Projekte der Entwicklungszusammenarbeit. USAID begründete ihre Unterstützung für das Projekt mit mehreren Argumenten: Neben allgemeinen Werten wie dem "Mitgefühl des amerikanischen Volkes" und der "Unterstützung der Menschenwürde" benennt die Agentur auch, dass sie mit ihren Projekten die außenpolitischen Interessen der US-Regierung unterstützt. Vor allem die politische Stabilität im zunehmend fragilen Nachbarland im Süden der USA dürfte dabei eine große Rolle spielen.

Menschenrecht in der Bundesrepublik

Fraglich bleibt letztlich nur, wieso Mexiko auf die Idee kam, die internationalen Menschenrechte mit in die Verfassung aufzunehmen. Und warum gibt es in Deutschland keine einklagbaren Menschenrechte? Hier muss man erst durch alle Instanzen klagen, bevor die Menschenrechte der Vereinten Nationen als Rechtsgrundlage in einem Prozess in Betracht gezogen werden. Sicher leben wir in einem Land in dem die Diskriminierung weniger stark ausgeprägt ist als in Mexiko. Trotzdem können wir nicht von einer Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen sprechen. Die erneuten Diskussionen über Homophobie, Sexismus und Rassismus beweisen das. Ein Staat, der so stolz auf seine freiheitliche Grundordnung ist, wie Deutschland darf sich nicht erst vom Verfassungsgericht, oder von internationalen Komitees zur Ausübung der selbigen zwingen oder bitten lassen. Mexiko geht zumindest in der Gesetzgebung als gutes Beispiel voran. Deutschland sollte da nicht auf sich warten lassen.