"Im Kampf gegen den Hunger muss Brasilien eine 180-Grad-Wende vollziehen"

Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, über das brasilianische Sozialprogramm Bolsa Familia und die Agrarpolitik des Landes

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Jean Ziegler, Soziologe und ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung
Jean Ziegler, Soziologe und ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung

Nach zehn Jahren Bolsa Familia ist der Moment gekommen, an dem die brasilianische Regierung anerkennen muss, dass die Strategie im Kampf gegen den Hunger an seine Grenzen stößt und eine "Kehrtwende um 180 Grad" vollzogen werden muss, wenn Brasilien mit dem Hunger im Land tatsächlich Schluss machen will. Dieser Alarmruf kommt von einem der bedeutendsten europäischen Soziologen, Jean Ziegler, der Anfang Mai in Brasilien sein neues Buch mit dem Titel "Wir lassen sie verhungern – die Massenvernichtung in der dritten Welt"1 vorstellte. Der Schweizer war UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und untersuchte jahrelang das Modell, mit dem die Brasilianer der Misere begegneten.

Ziegler macht deutlich, dass er nicht pauschal gegen die Bolsa Familia ist und dass das Programm tatsächlich fortgeführt werden sollte. "Aber es ist an eine Grenze gestoßen. Neue Maßnahmen müssen ergriffen werden", sagt er. Der Soziologe kritisiert die Entscheidungen, die von der Regierung des Ex-Präsidenten Luiz Inácio "Lula" da Silva getroffen wurden, bei denen es sich um Konzessionen an die Fraktion der Großgrundbesitzer unter Aufgabe der eigenen Ideen handelte. "Es gibt überhaupt keine Gründe, weshalb Brasilien seine Bevölkerung nicht ernähren können soll."


Wie beurteilen Sie den gegenwärtigen Kampf gegen den Hunger in Brasilien?

Das Hungerproblem ist in Brasilien nicht gelöst. Der Weg muss radikal geändert werden. Nach den Jahren der Bolsa Família muss eine andere Priorität gesetzt werden. Aber bitte, ich sage nicht, dass die Bolsa Família nicht positiv ist. Sie war ganz klar ein Meilenstein, ist indes an ihre Grenzen gestoßen. Sie ist ein assistenzialistisches Programm. Ganz offensichtlich hat sie Millionen aus der Hungersituation befreit. Das war ein historischer Schritt. Wenn aber darüber hinaus nichts in Gang gesetzt wird, muss man sie noch 50 Jahre lang beibehalten. Bolsa Família ist wie die humanitäre UN-Hilfe. In sich eine gute Sache. Sie machte Schluss mit den täglichen Ängsten der Familien. Aber sie führt nicht zu strukturellen Änderungen und das ist die Struktur, die pervers ist. Es geht also nicht darum, die Bolsa Família einzustellen. Sie ist die Nothilfe, wenn das Haus in Flammen steht. Aber sie wird das Haus nicht wieder aufbauen.

Was ist dann die Lösung?

Das Land sollte in die Subsistenz investieren, in die kleinbäuerliche Landwirtschaft. An diesem Punkt hat die Landlosenbewegung Movimento dos Sem Terra (MST) Recht. Wenn in einem Land, das eine große wirtschaftliche und politische Macht ist, noch immer 18 Prozent der Bevölkerung einem Ernährungsrisiko ausgesetzt sind, dann ist das ein Skandal. Die von der bäuerlichen Basis betriebene Landwirtschaft ist die Effizienteste. Sie verhindert, dass die Peripherien der großen Städte explodieren, sie bekämpft die Arbeitslosigkeit und erhält den Boden. Ein Landwirt wird seinen eigenen Boden nicht zugrunde richten. Selbst die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schlägt Alarm und weist darauf hin, dass die familiäre Landwirtschaft im Kampf gegen den Hunger am Effizientesten ist. Das Problem ist, dass Brasilien eine entgegengesetzte Politik verfolgt.

Inwiefern geht Brasilien einen entgegengesetzten Weg?

Die von Lula und Dilma versprochene Landreform hat nicht stattgefunden. Das wäre aber die Grundvoraussetzung für ein entschlossenes Vorgehen Brasiliens gegen den Hunger. In den letzten zehn Jahren fiel der Anteil der Menschen, die unter Ernährungsrisiken litten, um die Hälfte. Aber für ein Land, das eine Globalmacht sein möchte, ist sie noch immer hoch. Ein anderer Aspekt ist, dass sich diese Reduzierung auf eine sehr fragile Weise vollzieht. Der Assistenzialismus alleine wird zukünftig nicht zu Resultaten führen. Das ist das Problem. Im Grunde muss Brasilien eine Kehrtwende um 180 Grad bei seiner Politik im Kampf gegen den Hunger vollziehen.

Weshalb, glauben Sie, hat Brasilien nicht ein neues Modell gestartet?

Eine Gegebenheit ist die brasilianische Politik des Handelsüberschusses. Außerdem musste Lula regieren können und dies erforderte Übereinkünfte mit der Fraktion der Großgrundbesitzer im Kongress. Die PT hatte nie die Mehrheit und gleichzeitig ist die Landumverteilung für einige Politiker, mit denen die PT sich verbünden musste, der Teufel in Person. Resultat war, dass die Landreform in den letzten zehn Jahren in der Tiefkühltruhe gelandet ist. Die INCRA2 hat ihre Existenz als Machtfaktor verloren. Aber, analytisch betrachtet, müssen wir ganz klar feststellen, dass das Modell gescheitert ist. Für ein Land von der Größe Brasiliens gibt es keinerlei Gründe, weshalb sie ihre Bevölkerung nicht ernähren können soll. Dafür gibt es keinerlei Rechtfertigung.

Sie hatten eine sehr harte Haltung gegen das Äthanol-Programm in Brasilien? Warum?

Als ich UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung war, kritisierte mich die brasilianische Regierung, ich verstünde nichts von Äthanol. Es ist richtig, dass die Auswirkung des Äthanols in den USA sehr viel weitergehender ist als in Brasilien. Es stimmt auch, dass keine Nahrungsmittel verbrannt werden, um Treibstoff daraus zu machen. Aber damit dass Millionen von Hektar für den Zuckerrohranbau belegt werden, verschiebt Brasilien die landwirtschaftliche Nutzungsgrenze. Das Vieh zieht um. Die Auswirkungen sind indirekt. Aber sie sind real.

Wie beurteilen Sie heute die Hungersituation weltweit?

Alle fünf Sekunden verhungert ein Mensch. Das sind jeden Tag 57.000. Gleichzeitig könnte die globale Landwirtschaft, ausgehend von ihrem aktuellen Zustand, zwölf Milliarden Menschen ernähren. Ein Kind, das in unserer heutigen Welt vor Hunger stirbt, ist schlicht und einfach ein ermordetes Kind. Das ist der größte Skandal unserer Epoche. Im vergangenen Jahr starben weltweit 70 Millionen Menschen, 18 Millionen davon sind Hungeropfer.

Und weshalb geschieht dies noch immer?

Es ist die Gleichgültigkeit, die tötet. Die Kinder von Somalia sterben nicht im Stadtzentrum von Paris. Es sind völlig unsichtbare Menschen. Sie sind keine Wähler und Konsumenten – von nichts und niemandem. Es ist auch so, dass Angela Merkel oder Mariano Rajoy von ihren Bürgern gewählt wurden, um deren Probleme zu lösen. Und nicht die Probleme von anderen Ländern. Es überrascht nicht, dass sie in einer Krise die internationalen Hilfen kürzen. Aber das beseitigt nicht die Tatsache, dass das tägliche Massaker tatsächlich geschieht.


Polemik und Provokation gehören zum Lebensweg des Soziologen Jean Ziegler. In den 1990er Jahren schrieb er ein Buch, mit dem er ein Tabu brach, indem er der Welt offenbarte, wie die Geldwäsche und das Arbeitsprinzip der Schweizer Banken mit ihren Geheimkonten funktionierten. Er wurde vom eigenen Land als Verräter angeklagt. Im selben Geist beschäftigt sich Ziegler heute mit den Gründen für den Hunger in der Welt.

Der Autor diskutiert die Frage des Hungers in der Welt ausgehend von den biologischen Aspekten, aber hauptsächlich unter den ökonomischen und politischen Gesichtspunkten. Die Message ist klar: Die Welt hat genug Nahrungsmittel für alle. Wer deshalb heute verhungert, wird ermordet. "Struktureller Hunger bedeutet psychische und physische Zerstörung, Auslöschung der Würde, Leiden ohne Ende", so seine Aussage. In seinem Blickfeld sind Spekulanten, multinationale Unternehmen und Regierungen, die dem Problem den Rücken zugekehrt haben.

Dieser Text von Jamil Chade erschien am 5. Mai 2013 in der brasilianischen Zeitung Estado de S. Paulo.

  • 1. Titel der dt. Ausgabe: Jean Ziegler "Wir lassen sie verhungern – die Massenvernichtung in der dritten Welt", C. Bertelsmann
  • 2. Nationales Institut für Siedlung und Landwirtschaft