Chile / Politik

Chile: "Vom Aufschwung profitieren nur Wenige"

Der chilenische Abgeordnete Ramón Farías Ponce (Partido por la Democracia) spricht vor der chilenischen Wahl über Erfolge, Misserfolge, Herausforderungen und Ziele

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Ramón Farías Ponce
Ramón Farías Ponce

Ramón Farías Ponce ist Abgeordneter der PPD (Partido por la Democracia) im chilenischen Parlament. Er begann seine politische Karriere in den neunziger Jahren als Bürgermeister von San Joaquín, einem Stadtteil von Santiago de Chile. Nach zweimaliger Wiederwahl setze er sich bei der Parlamentswahl 2005 gegen den Mitbewerber der rechtsgerichteten UDI durch und zog ins Abgeordnetenhaus ein. Nach seiner Wiederwahl 2009 tritt er im November dieses Jahres erneut für die PPD und den Block "Nueva Mayoría" (ehemals "Concertación") an.

Ramón Farías macht sich für diverse soziale und gesellschaftliche Themen stark, beispielsweise für die Familienpolitik und den öffentlichen Nahverkehr. Auch für eine Abänderung des binominalen Wahlsystems hat Farías wiederholt Partei ergriffen. Er gilt als Unterstützer von Michelle Bachelet, der Spitzenkandidatin der Mitte-Links-Koalition.

Im Hauptberuf ist Farías Schauspieler und Sänger und hat momentan eine Nebenrolle in der bekannten chilenischen Telenovela "Las Vegas". In den 1980er Jahren trat er in der deutschen Produktion "Auf Achse" auf.


Herr Farías, was ist Ihrer Meinung nach der größte Erfolg der chilenischen Gesellschaft nach der Rückkehr zur Demokratie?

Aus meiner Sicht ist der größte Erfolg die wiedererlangte Meinungsfreiheit. Jeder kann das zum Ausdruck bringen, was er denkt und fühlt, ohne zensiert, verfolgt, getötet zu werden. Ein weiterer wichtiger Erfolg ist das Bewusstsein, dass wir die Kluft zwischen Arm und Reich verringern müssen. Chile ist ein entwickeltes Land mit einem hohen Prokopfeinkommen. Das Problem ist, dass 20 Prozent der Bürger dieses Landes 80 Prozent der Einkünfte erhalten, während sich die anderen 80 Prozent die restlichen 20 Prozent der Einkünfte teilen.

Die ökonomischen Indizes in Chile zählen zu den höchsten in Südamerika und das Land zeigt sich von der weltweiten Wirtschaftskrise nahezu unbeeinflusst. Auf der anderen Seite gibt es viele soziale Proteste, wie die Studentenbewegungen oder der Konflikt der Mapuche. Warum gibt es trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs diese sozialen Verwerfungen?

Wie gesagt, vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren nur Wenige. Das System des radikalliberalen Marktes, wie es in der Diktatur geschaffen wurde, konnte von der Concertación nicht beseitigt werden, und die jetzige rechte Regierung akzentuiert die gleichen Praktiken wie Pinochet. Trotz der wirtschaftlichen Erfolge des Landes bewirken die großen Gehaltsunterschiede, dass die Menschen keinen Zugang zu guter Bildung haben. Über Jahre wurde die öffentliche Bildung privatisiert, und die Armen haben schlichtweg nicht die Mittel, an der privaten Bildung teilzuhaben.

Kann man sagen, dass es eine Entfremdung zwischen der Gesellschaft und der politischen Klasse gibt?

Ich denke, dass wir als Politiker mit den Menschen in Verbindung stehen. Wir gehen auf die Straße, auf die Märkte und reden mit den Menschen. Vielleicht sieht es aufgrund des Präsidialsystems so aus, als hätte sich die Politik von den Menschen entfremdet. Die Gesetze schlägt die Regierung vor, nicht das Parlament. Ich kann als Abgeordneter Gesetze vorschlagen, die keine Ausgaben für den Staat bedeuten – das sind sehr wenige. So ist beispielsweise ein Gesetz, dass die Erhöhung von Einkünften vorsieht, so dass die Armen mehr bekommen, undurchführbar. Wenn die derzeitige Regierung das nicht will, kann es auch nicht im Parlament eingebracht werden.

Aber warum wurde kein Gesetz zur Besteuerung der Superreichen in der Regierungszeit der Concertación erhoben?

Ich glaube, das war ein strategischer Fehler. Wir wussten, dass wir die nötigen Stimmen nicht bekommen. Da wir das wussten, haben wir kein solches Gesetz im Parlament eingebracht, um keine Niederlage zu erleiden. Genauso war es auch bei der Steuerreform. Einige Abgeordnete der Concertación haben zu Michelle Bachelet gesagt, dass wir die Gesetze dennoch einreichen sollten, auch wenn wir verlieren würden. Somit hätten wir den Bürgern sagen können, wir haben es versucht; es war die politische Rechte, die die Gesetze abgelehnt hat. Die Lehre daraus ist, dass wir uns in der nächsten Regierung nicht zurückhalten und die Gesetze vorstellen werden. Und wenn die Rechte dann dagegen ist, wird sie auch dagegen stimmen müssen.

Chile ist eines von wenigen Ländern, in denen das binominale Wahlsystem gilt. Warum ist es über 20 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie so schwierig, dieses System zu ändern?

Der Kongress muss dieses System mit einem Gesetz ändern. Die einfache Mehrheit ist nicht ausreichend, es sind nicht 50 Prozent + 1, man benötigt von den 120 Abgeordneten im chilenischen Parlament 80 Ja-Stimmen. Das bedeutet, dass die Opposition für eine Änderung dieses Gesetzes einige der Abgeordneten der politischen Rechten, d.h. der RN (Renovación Nacional) und der UDI (Unión Demócrata Independiente) von dieser Änderung überzeugen muss. Dass wir als Concertación die nötigen Stimmen nicht selber haben, wird oft nicht verstanden.

Aber hat die Renovación Nacional nicht im Januar 2013 einen Vorschlag zur Änderung des binominalen Systems vorgelegt?

Ja, aber es war ein verlogener Vorschlag. Sie haben es erst vorgeschlagen, dann haben sie dagegen gestimmt. Horvath und Chahuán von der RN haben sich bei der Abstimmung enthalten, und somit trugen sie zum "Nein" bei. Es sind 20 Jahre vergangen, die Concertación wollte das binominale System ändern, wollte viele Dinge machen, wollte die Verfassung ändern, aber das Quorum, welches durch das System von Pinochet hinterlassen wurde, ist sehr hoch. Und dieses Quorum bringt man nicht zustande, da es der politischen Rechten – insbesondere der UDI – nicht zusagt, dieses System zu ändern.

Das binominale System stärkt die großen politischen Blöcke in Chile. Hat die Concertación als großer Block auch Vorteile von diesem System, so dass auch sie von einer Beibehaltung profitieren würde?

Das binominale System provoziert die Bildung der großen Blöcke, um Wahlerfolge zu erzielen. Ich habe als Abgeordneter und Vizepräsident der PPD immer für die Abschaffung des binominalen Systems gestritten. Nur weil es uns nützlich ist, heißt es noch lange nicht, dass es uns gefällt. Es waren wir als Concertación, die verzichtet haben, damit die kommunistische Partei (PC) ins Parlament einziehen konnte. Wenn wir ihnen nicht unsere Plätze und Stimmen gegeben hätten, wäre die PC nicht mit drei Abgeordneten im Parlament. Wir müssen Anstrengungen und Opfer bringen, wenn wir das System ändern wollen und hoffen, dass wir in der nächsten Wahl unsere Stimmen verdoppeln können. Nur so werden wir zu dem Quorum gelangen, das nötig ist, um die entsprechenden Verfassungsartikel zu ändern.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen der nächsten Regierung?

Das Thema der Bildung wird weiterhin stark präsent sein. In den nächsten vier Jahren müssen wir vorankommen und hier eine Lösung für eine kostenlose und hochwertige Bildung für alle finden. Die Frage wird sein, wie diese kostenlose Bildung für die Armen finanziert werden kann. Und das kann nur über die Steuern der Reichen sein, die wir erhöhen müssen. Heutzutage können diese Reichen auch unheimlich viel Steuern sparen. Ein Armer zahlt anteilig mehr Steuern als ein Reicher.

Eine andere Herausforderung wird eine Verfassungsreform sein, um das binominale Wahlsystem abzuschaffen und somit das politische System zu reformieren. Auch andere Themen werden wichtig sein, beispielsweise das Energieproblem. Wir müssen die erneuerbaren Energien noch stärker vorantreiben. In Chile redet jeder über erneuerbare Energien, aber es passiert nichts! Das Maß der Solarenergie, das wir nutzen können, ist nahezu unendlich. Klar, für Punta Arenas gilt das nicht…

…dort gibt es viel Wind…

…Wind, Wasser, Strömung – aus all dem kann man Energie gewinnen.

Ist das Energiethema ein wichtiger Punkt im Wahlprogramm der Concertación?

Ich glaube ja. Es muss ein wichtiger Punkt sein, weil es ein Problem ist, das uns kurzfristig betreffen wird. Wenn wir nichts tun, stehen wir ohne Strom da. Das wird die Wirtschaft negativ beeinflussen und somit die Entwicklung des Landes.

Glauben Sie, dass es zwischen den einzelnen Klassen eine Kluft gibt? Gibt es Solidarität?

Es gibt Solidarität in den einzelnen Klassen, aber nicht zwischen den Klassen. Die Reichen sind solidarisch unter den Reichen und helfen sich, und auch die Armen sind solidarisch unter sich, sie helfen sich gegenseitig. Aber Reiche, die den Armen helfen, oder Arme, die Reiche unterstützen – das gibt es nicht. Das hat aus meiner Sicht damit zu tun, dass wir keine integrierte Gesellschaft haben. Die verschiedenen Klassen leben getrennt voneinander und wollen nichts miteinander zu tun haben. In Frankreich beispielsweise leben Menschen verschiedener Einkommensklassen unter einem Dach – so integriert man Menschen. In Chile gibt es eine gespaltene Gesellschaft. Die Leute sagen mir als Abgeordnetem, dass sie keine Armutsviertel neben sich haben wollen, denn sie haben Angst, dass sie beraubt werden. Hier hat das Land eine große Herausforderung.

Welches sind ihre persönlichen Ziele für die nächste Regierungsperiode?

Meine größte persönliche Herausforderung ist es, als Abgeordneter näher an den Menschen zu sein. Ich will die Leute wissen und fühlen lassen, dass man ihnen in der Politik zuhört und dass man ihre Probleme ernst nimmt. Und ich finde es wichtig, dass diese Probleme nicht nur angehört werden, sondern auch konkrete Maßnahmen zur Beseitigung dieser Probleme durchgeführt werden, um die Wünsche und Träume der Menschen in die Realität umzusetzen. Weiterhin will ich erreichen, dass die Menschen eine Art politischer Bildung erhalten, um zu wissen, was ein Präsident macht, was ein Minister macht, was ein Bürgermeister macht, was ein Abgeordneter macht. Dies sollte man in den Schulen einführen, damit die Kinder lernen, was es heißt, wählen zu gehen.

Sie sind auch Künstler. Denken Sie, dass die Kunst eine Gesellschaft vereinen kann?

Ja, das glaube ich auf jeden Fall. Ich denke, die Kunst ist verbindend. In Chile müssen wir die Kunst weiter demokratisieren und dazu brauchen wir einen Staat, der bereit ist, künstlerische Strömungen zu finanzieren, sei es Theater, Musik, Poesie, Schriftstellerei, etc. Als ich Bürgermeister in San Joaquin war, habe ich eine Oper organisiert für Menschen aus La Legua, einer unheimlich komplexen Ortschaft mit vielen Problemen wie Drogen und Gewalt. Es war ein Erfolg! Die Kinder haben mitgesungen, die Männer haben gelacht und die Frauen brachten Essen mit. Und warum war es ein Erfolg? Weil die Oper im Volk geboren wurde, weil sie aus dem Volk kommt und sich die Leute mit den Geschichten identifizieren können. Das haben wir während der Regierungszeit von Ricardo Lagos gemacht. Und die jetzige Regierung hat nichts für den Kunstsektor gemacht.

Eine letzte Frage: Was ist Ihr nächster Film?

[Lacht]. Ich bin momentan in einer kleinen Rolle in der Telenovela "Las Vegas" zu sehen. Ich habe die Rolle angenommen, weil sie unsere Gesellschaft widerspiegelt – ein sehr reicher Arzt, der eine sehr schöne Frau hat. Sie arbeitet nicht, da er sie unterhält. Und da er das Geld nach Hause bringt, nimmt er sich Rechte heraus. Er geht mit anderen Frauen aus und unternimmt Reisen. Als seine Frau das erfährt, sagt er: "Warum machst du dir Sorgen? Ich liebe dich, du bist die Kathedrale, die anderen sind alle Kapellen, reg dich nicht auf. Außerdem zahle ich dir Geld". Und unsere Gesellschaft funktioniert so. Die Menschen, die viel Geld haben, funktionieren so. Am Ende betrügt die Frau ihren Mann mit dem Trainer ihres Fitnessstudios, und als der Mann dahinterkommt, schlägt er sie und droht, sie umzubringen. Und das reflektiert unsere Gesellschaft. Wie ein Spiegel.