#LaSalida? Venezuela an einem Scheideweg

Entweder der Transformationsprozess radikalisiert sich oder die alten Eliten kehren zurück an die Macht, argumentiert George Ciccariello-Maher

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Oppositionelle Demonstranten: "Maduro versteht die Studenten nicht 1. weil er nie studiert hat, 2. weil er kein Venezolaner ist"
Oppositionelle Demonstranten: "Maduro versteht die Studenten nicht 1. weil er nie studiert hat, 2. weil er kein Venezolaner ist"

Ukraine. Bosnien. Venezuela. Tränengas. Vermummte. Wasserwerfer. Wir leben in einer Zeit der Unruhen und Aufstände, radikaler Selbstschöpfung in aufgewühlten Straßen: Spaniens Indignados, die Occupy-Bewegung, in Mexiko Yo Soy 132, und natürlich auch der arabische Frühling. Wir sind verständlicherweise aufgeregt, wenn wir die Menschen in den Straßen sehen, und unser Puls kann beim Anblick von Vermummten, zerbrochenen Scheiben und Flammen steigen, denn lange Zeit standen solche Bilder für die Scherben der alten Welt, durch die wir den Schimmer des Neuen wahrnehmen können. Die jüngsten Proteste in Venezuela gegen die Regierung von Chávez' Nachfolger Nicolás Maduro könnte daher einfach als der neueste Akt in einer Welle in welthistorischem Maßstab erscheinen.

Aber nicht so eilig.

Trotz Hashtags wie #SOSVenezuela und #PrayForVenezuela und Retweets von @Cher und @Madonna, haben diese Proteste weit mehr mit einer Rückkehr von wirtschaftlichen und politischen Eliten zur Macht als mit ihrem Niedergang zu tun.

Venezuelas "Bolivarische Revolution" entsprang aus dem historischen Zusammenstoß der radikalen sozialen Bewegungen mit einem repressiven, neoliberalen Staat. Vor fünfzehn Jahren wurde Hugo Chávez gewählter Präsident von Venezuela inmitten der einstürzenden Trümmer des alten Zwei-Parteien-Systems, aber die "Revolution", die er dann anführen sollte, hat weit tiefere Wurzeln. Seit Jahrzehnten kämpften bewaffnete Guerillas, Bauern und Arbeiter, Frauen, Indigene und Afro-Venezolaner, Studenten und die städtischen Armen gegen ein System, das zwar formell demokratisch, in der Praxis davon aber weit entfernt war. Diese revolutionären Basisbewegungen, die ich in "We Created Chávez" dokumentierte, rammten ein Loch in das, was Walter Benjamin das Kontinuum der Geschichte nennen würde, in einem gewaltigen anti-neoliberalen Aufruhr, der am 27. Februar 1989 begann.

Dieses Ereignis – es jährt sich in dieser Woche zum 25sten Mal – wurde fortan als Caracazo bekannt und hat die venezolanische Geschichte irreversibel in eine Zeit davor und danach aufgeteilt. Die Bedeutung des Caracazo ist nicht auf den Widerstand gegen den Imperialismus beschränkt, den er verkörperte, sondern erstreckt sich auch auf das Massaker, das seinen Abschluss markiert. Zahlen verleiten uns oft zu falschen Vergleichen, aber sie können auch viel klar machen: 1989 wurden rund 3.000 Menschen getötet, viele kurzerhand in nicht gekennzeichneten Massengräbern abgelegt. Aber die Bewegungen kämpften weiter, bauten Volksversammlungen in den Barrios auf und forderten zunehmend militant einen versagenden Staat heraus, der mit gezielten Tötungen und gelegentlich mit Massakern reagierte. Der Bürgermeister des Haupstadtbezirkes von Caracas, Antonio Ledezma, der sich heute als Gegner von Repression positioniert, trug in den frühen 1990er Jahren Verantwortung während der Ermordung von Dutzenden von Studenten in den Straßen, dabei nicht erwähnt ein berüchtigtes Gefängnis-Massaker 1992 im Retén de Catia.

In diese klaffende Wunde der Geschichte trat Chávez, zunächst mit einem gescheiterten Staatsstreich im Februar 1992, dann mit dem Wahlsieg sechs Jahre später. Damals gab es aber noch keine "Chavistas", sondern nur "Bolivarianer" – eine lockere und allumgreifende Referenz auf den großen Befreier Simón Bolívar – oder einfacher gesagt: "Revolutionäre". Die Revolution ging Chávez zeitlich voraus, und dabei ging es immer um mehr als um das Individuum; wie auch für Maduro heute. Der Staat ist heute ein wichtiges Terrain für hegemoniale Kämpfe geworden, aber er ist längst nicht der einzige Schützengraben, und diejenigen, die sengende Hitze staatlicher Gewalt in der Vergangenheit erfahren haben, sind heute nicht auf wundersame Weise zum naiven Glauben konvertiert. Vielmehr bestehen die Bewegungen hartnäckig neben und gelegentlich in Spannung mit der Regierung fort: Maduro unterstützend, während sie autonome Räume für Volksbeteiligung aufbauen.

Die Proteste, die sich in den letzten Tagen explosiv über venezolanische Städte ausgebreitet haben – deren häufigster Hashtag #LaSalida (Der Ausweg) fordert, den Rücktritt Maduros von der Macht – haben nichts mit diesem beschwerlichen Prozess des Aufbaus einer neuen Gesellschaft zu tun. Während die Proteste angeblich um die wirtschaftliche Knappheit und Unsicherheit gehen – sehr reale Sorgen, muss man betonen – erklären diese nicht, warum die Proteste gerade jetzt aufgekommen sind. Hintergründig sind die Proteste Ausdruck der Schwäche der venezolanischen Opposition, nicht ihrer Stärke. Noch taumelnd wegen einer schweren Wahlniederlage bei den Kommunalwahlen im Dezember, sind alte Spannungen wieder aufgetaucht, die die flüchtige Einheit hinter der Präsidentschaftskandidatur von Henrique Capriles Radonski, der von Maduro im vergangenen April besiegt wurde, zersplittern. Inmitten der bei dieser Opposition üblichen Manöver haben zunehmend Stimmen von Hardlinern, ungeduldig gegenüber dem Wahlprozedere, Capriles rechts überholt: Ledezma, ebenso wie María Corina Machado und Leopoldo López.

Die Namen sind vertrauter als ein Hauch frischer Luft, nicht nur wegen ihrer politische Geschichte, sondern auch, weil sie die dünnste Rinde des venezolanischen Oberschicht darstellen. Machado ist besonders bekannt dafür, dass sie das "Carmona-Dekret" unterzeichnete, das den Putsch gegen Chávez im April 2002 bekräftigte, und für ihr freundliches Beisammensein mit George W. Bush im Jahr 2005. Aber am besten verkörpert López beides, sowohl die Kompromisslosigkeit dieser Opposition wie auch die halbherzigen Versuche, sich mit der armen Mehrheit zu verbinden. Als Musterbeispiel des Privilegierten – in einem Land, in dem Chávez von den Eliten als unakzeptabel dunkelhäutig angesehen wurde – wurde López in den USA ausgebildet, von der privaten Grundschule bis zur Harvard's Kennedy School. Ein Elite-Spross, wenn es je einen gab.

Die politische Partei, in der sowohl López als auch Capriles sich ihre Sporen verdienten – Primero Justicia – tauchte am Knotenpunkt von Korruption und ausländischer Intervention auf: López wurde später von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, weil er angeblich Mittel von seiner Mutter, einer staatlichen Öl-Managerin, erhielt. Weniger bestreitbar sind die FOIA-Enthüllungen1, wonach die Partei erhebliche Kapitalspritzen von Nebenstellen der US-Regierung wie dem National Endowment for Democracy, der USAID und dem International Republican Institute erhielt. López ist weder Gewalt auf der Straße fremd, noch schreckt er vor dem außerinstitutionellen Weg zurück: Während des Staatsstreichs von 2002 – auf den er "stolz" sei, wie er sagte – führte er inmitten eines gewalttätigen oppositionellen Mobs Hexenjagden an, um chavistische Minister festzunehmen.

Mit einer cleveren Portion Theatralik hat López sich an die Spitze dieser Demonstrationen gestellt und den Titel "Oppositionsführer" in nationalen wie auch internationalen Medien gesponnen. Aber in welche Richtung gehen die Proteste? Von Anfang an haben sich die Zahlen nach venezolanischen Standards als nicht besonders beeindruckend gezeigt, und sicherlich sind die Teilnehmer weit weniger, als die Opposition zusammenbringen kann. Aber noch problematischer für die Opposition ist die Aufmachung der Demonstranten und die sehr vorhersehbare Geographie der Proteste, die sich weitgehend auf die wohlhabenden Stadtteile begrenzen.

Selbst der erbitterte anti-chavistische Blogger Francisco Toro von Caracas Chronicles sagt es unverblümt: "Mittelklasseproteste in Mittelklassegebieten für Mittelklassethemen von Mittelklasseleuten durchgeführt sind für das chavistische Machtsystem keine Herausforderung." Capriles selbst hat ähnlich darauf bestanden, dass die Opposition scheitern wird, wenn sie es nicht schafft, die "bescheidenen Menschen, die Menschen in den Barrios," zu gewinnen, und die Forderung nach einem außerkonstitutionellen Abtritt Maduros wird dies nicht leisten. In anderen Worten: Auch viele Gegner von Maduro erkennen, dass dieser mit Hashtags von Blackberries gesendete "Ausgang" nichts dergleichen ist, sondern ein "callejón sin salida", eine Sackgasse.

Übertreibung scheint die Richtschnur des Tages auf beiden Seiten zu sein, und aus den bangen Übertreibungen der Opposition ragt keine höher als die über die "Kollektive". Während sie in der Öffentlichkeit als die besser organisierten radikalen Sektoren des Chavismus gelten, gelangen sie hier frei schwebend zu Bedeutungen im Verhältnis zu den Ängsten, die sie repräsentieren – die den Begriff Kollektive auf jeden auf einem Motorrad anwenden, auf jeden, der ein rotes Hemd trägt, auf jeden zu arm oder dunkelhäutig aussehenden. Das ist nichts Neues: 2002 war der entsprechende Begriff "Terror-Kreise", eine verleumderische Abwertung, die verwendet wurde, um Mitglieder der populären Basisbewegungen, die als Rückgrat des Widerstands gegen den undemokratischen Staatsstreich dienten, zu verunglimpfen. Diese Basisorganisationen stellen den direktesten, organischsten Ausdruck der Elenden auf Venezuelas Erde dar, das politisierteste Segment der zuvor ausgestoßenen Masse, um die die Opposition sich nie auch nur eine Sekunde geschert hat.

Auch der Chavismus ist nicht immun gegen den tiefsitzenden Hass auf die Bewohner der Armenviertel, für den solche Begriffe stehen, und in einem gewissen Maße ist das Gefühl gegenseitig. Entgegen der Karikatur, die darauf beharrt, dass radikale Volksorganisationen wie die Kollektive entweder blind ergeben oder leicht zu kaufen sind, gehören diese in Wirklichkeit zu den unabhängigsten Sektoren der Revolution, zu den kritischsten gegenüber Fehlern und Verzögerungen der Regierung, die am meisten vertraut mit der repressiven Gewalt des Staates sind, und die vor allem verlangen, dass der im Gang befindliche soziale Wandel schneller geht.

Diese ewigen Opfer des Staates haben dennoch auf ihre potentielle Nützlichkeit im Heute gesetzt, oder haben zumindest darauf bestanden, dass die Alternative – Übergabe des Staatsapparates zurück an die traditionellen Eliten und die freiwillige Rückkehr zu einem Leben in der Defensive – wirklich überhaupt keine Alternative ist. Das ist keine verzweifelte oder nostalgische Entscheidung, stattdessen aber eine aus dem stärksten Optimismus des Willens, der nicht von den guten Absichten einzelner Führer ausgeht – obwohl es einige gibt, die dies verdienen – stattdessen auf die Bolivarische Regierung setzt, indem er auf das Volk setzt, auf die kreativen Fähigkeiten der Armen, die immer den Staat übertreffen.

Viele lose Fäden bleiben, aber nur Weniges kann dieses breite Vor und Zurück von Revolution und Reaktion, das Jahrzehnte überspannt, so leicht entwirren. Wenn die Erfahrung vom April 2002 uns etwas gelehrt hat, ist es das – einfache, von medialen Bildern genährte Erklärungen zu meiden. Jeder Tag, der vergeht, verstärkt diese Lektion – die Übertreibung von gestern ist heute eine diskreditierte Übertreibung, und obgleich zu bedauern, fallen die Todesfälle, die auf beiden Seiten aufgetreten sind, weit hinter das zurück, was man aus der Lektüre von Twitter erwarten würde.

Trotz der Oppositionvorwürfe der Straflosigkeit wurde ein Beamter des Sebin, des Geheimdienstes der Regierung, wegen Schusswaffengebrauchs festgenommen und der Chef der Agentur wurde entlassen. Durchgesickerte Gespräche haben Staatsstreiche vorgeschlagen, und sogar die Ehefrau von López hat auf CNN zugegeben, dass die venezolanische Regierung gehandelt habe, um das Leben ihres Mannes angesichts glaubwürdiger Bedrohungen zu schützen.

Die Medienfrage selbst wird in den kommenden Tagen, da der Konflikt zwischen der Regierung und CNN ansteigt, dringend diskutiert werden. Auch hier ist die Rolle der privaten Medien, die 2002 aktiv als Speerspitze des Putsches wirkten, bei den Bemühungen um einen Ausgleich zwischen Pressefreiheit und Medienverantwortung von großer Bedeutung (eine Spannung, die nicht vermieden wird, indem man so tut, als ob dies nicht existiert). Aber diese losen Fäden verneinen nicht die Vordringlichkeit des Satzes, den die revolutionäre Basis gegenüber jenen verwendet, die sie einst regierten, und die heute versuchen, es wieder zu tun, unabhängig von der Zahl der Todesopfer: No volverán, sie werden nicht wiederkommen.

Venezuela ist in der Tat an einem Scheideweg – mit den Worten des intellektuellen Aktivisten Roland Denis: "Llegado al llegadero, beim Unvermeidlichen angekommen." Es ist der Punkt, an dem der Bolivarische Prozess selbst – Sozialismus in einer kapitalistischen Gesellschaft, aufblühende direkte Demokratie in einer liberal-demokratischen Hülle – nicht überleben kann, ohne entschieden zu einer Seite oder der anderen vorzupreschen: sozialistischer, demokratischer, kurz gesagt, radikaler. Dies ist nicht einfach ein Kreuzweg zwischen zwei möglichen Formen der Regierung von oben: der Regierung Maduro oder ihrer hypothetischen rechten Alternative. Es ist vielmehr eine Frage, entweder nach vorn zu drängen beim Aufbau einer revolutionären Gesellschaft, oder die Zukunft denen wieder zu überantworten, die nur an die Vergangenheit denken können, und die versuchen werden, die historische Dialektik auf sich selbst zurückzuwerfen, wenn erforderlich geschlagen und blutig.

Der einzige Ausweg ist der erste, personifiziert in den mehr als 40.000 Kommunalräten (Consejos Comunales), die Venezuela überziehen, in den Arbeiterräten, Volksorganisationen, afro- und indigenen Bewegungen, Frauen- und Transgender-Bewegungen. Es sind diese Bewegungen, die gekämpft haben, um, mit den Worten von Greg Grandin, aus Venezuela "das demokratischste Land in der westlichen Hemisphäre" zu machen. Und es sind diese Bewegungen, die – hart arbeitend am Rad der Geschichte – die einzigen Garanten des Fortschritts sind.


George Ciccariello-Maher arbeitet als Professor für Geschichte und Politik an der Drexler-Universität in Philadelphia, USA.