Venezuela / Politik

Wahlkampf und gesellschaftliche Milieus

Eindrucksvolle Anzahl von Teilnehmern an Oppositionsveranstaltung verändert die grundlegende Situation nicht

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Henrique Capriles Radonski vor Anhängern (Archivbild)
Henrique Capriles Radonski vor Anhängern (Archivbild)

Nach der Mobilisierung der Anhänger der Opposition nach Caracas kehrt in der Hauptstadt Venezuelas das gewohnte Straßenbild zurück. Der aktive Wahlkampf wird am Donnerstag mit der Abschlusskundgebung des Lagers des amtierenden Präsidenten Hugo Chávez in seinem Beisein in Caracas beendet werden. Ab dann schreibt das Gesetz den Verzicht von Werbung für die Parteien vor. Schon seit dem 30. September sind keine neuen Umfragen mehr erlaubt. Am 7. Oktober wählen die Venezolaner und nach Schließung der Wahllokale wird der nationale Wahlrat (CNE) den Ausgang der Wahl bekannt geben, sobald eindeutige Auszählungsergebnisse vorliegen.

Bereits während des Abzuges der Oppositionsanhänger von der Avenida Bolívar, dem Ort der Großkundgebung mit dem oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Henrique Capriles Radonski am Sonntag, setzte die politische Präsenz des Chavismus wieder Akzente. An der großen Kultureinrichtung Bellas Artes und neben der bolivarischen Kunstuniversität, wo der größte Rückstrom der Oppositionsanhänger vorbeikommen musste, gab es eine Party im Freien in guter Stimmung mit Tanz und Musik. Vielleicht macht diese politische Kultur aus, dass sich in jeder ihrer Aktivitäten Menschen selbst feiern, die in der Vergangenheit keine Möglichkeit zur politischen Teilnahme besaßen. In Nähe der Plaza Venezuela pflügen sich angespannt, aber stolz zwei junge Männer, in roten T-Shirts der Regierungspartei PSUV und Hand in Hand, durch den Strom der abziehenden Anhänger von Capriles. Eine größere Gruppe junger Männer diskutiert hektisch, ob sie umkehren und die sich zum Schwulsein bekennenden verfolgen sollen. Sie werden sich glücklicherweise nicht einig.

Die Rückkehr zum gewohnten Straßenbild heißt auch, dass die sichtbare Anwesenheit der Opposition, ob in so großer oder auch in kleinerer Zahl, in diesem Wahlkampf für den Beobachter eine Ausnahme gewesen ist. Die Anhängerschaft des Oppositionskandidaten kennt politische Aktivitäten kaum, sie ist durch einen einflussreicheren gesellschaftlichen und ökonomischen Status gewohnt, ihren Interessen anders Geltung zu verschaffen. Zudem stößt die Opposition in sehr vielen Stadtvierteln auf solche Ablehnung der Anwohner, dass sie vor einschlägigen Wahlkampfaktivitäten zurückschreckt. Dies trifft in vielen Armenvierteln zu. Dabei ist innerhalb dieser Viertel, wo auch Capriles Wählerschaft hat, der Umgang zwischen den "Lagern" ausgesprochen tolerant. Man hat einen gemeinsamen Alltag. Beim Aufbau der neuen kommunalen Strukturen, den kommunalen Räten (Consejos Comunales), die Aufgaben für die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Armenvierteln übernehmen, werden Oppositionsanhänger in die praktische Arbeit bewusst einbezogen. Dies wird  auch von der Regierungspartei PSUV empfohlen.

Die Teilnehmer der großen Ansammlung von Oppositionsanhängern am Sonntag kamen nicht nur aus Caracas, sondern in unzähligen Reisebussen aus allen Bundesstaaten Venezuelas. Sie reisten außerdem mit privaten PKW und Motorrädern an. Einige in fahnenschwenkenden Motoradkonvois, was in beiden politischen Lagern zur Agitation sehr beliebt ist. Nur stammen die Maschinen diesmal aus einer höheren Preisklasse. Die Oppositionsveranstaltung fügte sich als Sternmarsch aus sieben oder acht Richtungen am anschließenden Ort der Kundgebung auf der Avenida Bolívar zusammen. Man konnte in der Metro zum Beispiel aus dem Süden von Caracas einen wenig bedeutenden Zustrom von Teilnehmern aus den Armenvierteln beobachten, wie es aus den anderen Vierteln ähnlich gewesen sein dürfte. Der Hauptzustrom innerhalb von Caracas kam aus dem Osten der Stadt, den Vierteln der Wohlhabenden und Reichen. Entsprechend war der Gesamtauftritt auf der Avenida Bolívar schließlich besser gekleidet und die Hautfarbe einige Nuancen heller als bei Veranstaltungen der Regierungsanhänger. Die Massen von Teilnehmern der größten Veranstaltung der Opposition stellten keine Verbindungen untereinander her. Man blieb während der Stunden des Marsches und der Kundgebung, bis auf Familien und Bekannte, die erkennbar gemeinsam angereist waren, alleine. Dies spiegelt nicht nur die Sozialisation von Mittel- und Oberschicht wider. Es versinnbildlicht auch den Charakter des Wahlbündnisses, das im Wesentlichen durch das Ziel der Abwahl von Chávez zusammengehalten ist. Der Konsens auf gemeinsame programmatische Ziele darüber hinaus ist, wenn überhaupt vorhanden, prekär.

Ebenfalls am Sonntag strahlte ein privater und eher oppositionell eingestellter Fernsehsender ein Interview mit Hugo Chávez aus. Das Interview führte der Journalist und ehemalige Vizepräsident der Chávez-Regierung, José Vicente Rangel, der während des Putsches 2002 Verteidigungsminister war. Dessen hohes Ansehen in der venezolanischen Öffentlichkeit garantiert ihm einen ungewöhnlichen Spielraum auf einem oppositionellen Kanal. Das einstündige Interview hatte einen eher persönlichen Zuschnitt und führte auch zu einigen grundsätzlichen Äußerungen von Chávez über sein Verständnis der politischen Macht im Prozess zu einer partizipativen Demokratie, die er im Gegensatz zum repräsentativen Parlamentarismus sieht. Auf die von Rangel zitierte Vorwürfe, die venezolanische Gesellschaft zu polarisieren, meinte Chávez, dass nach seiner bisherigen Amtszeit im Gegenteil Venezuela bereits weniger polarisiert sei als noch Anfang des neuen Jahrtausends. Die Politik seiner Regierung, die bisher marginalisierte Teile der Bevölkerung einbeziehe, habe mit ihren sozialen Programmen bereits mehr gesellschaftlichen Frieden hergestellt.