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Maracanaço und die Angst vor dem Scheitern

64 Jahre liegen zwischen der ersten und der zweiten WM in Brasilien. "Maracanaço" erinnert an die Final-Niederlage gegen Uruguay. Am 13. Juli soll im Maracanã-Stadion die Schmach getilgt werden

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WM-Finale 1950: Uruguay, der ewige Angstgegner
WM-Finale 1950: Uruguay, der ewige Angstgegner

In dem WM-Werbespot der Sportfirma Puma, dem Ausrüster der Nationalmannschaft von Uruguay, streift ein himmelblaues Gespenst durch die Straßen der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro, um die Menschen zu erschrecken. Es ist eine Anspielung auf eine tief sitzende sportliche Niederlage: Das Himmelblau steht für die Farbe der uruguayischen Fahne, der Spuk des Gespenstes für den Sieg Uruguays über Brasilien im Jahr 1950. Die Niederlage von damals ist immer noch präsent im kollektiven Gedächtnis der brasilianischen Nation. Der Ausdruck "Maracanaço” bedeutet so viel wie "Der Schock von Maracanã”. Im entscheidenden Spiel der WM 1950 unterlag Brasilien dem kleinen Nachbarn Uruguay mit 1:2. Im Fußball-Slang steht es auch für den Sieg eines Underdogs gegen einen großen Gegner.

Maracanã, das größte Stadion der Welt. Eine gewaltige Beton-Ellipse, die nur für jene WM gebaut worden war und ein Fassungsvermögen von über 200.000 Plätzen hatte. Sie sollte zeigen, dass die junge Republik Teil der modernen Welt ist und die Worte des französischen Präsidenten Charles de Gaulle konterkarieren. Er hatte kurz zuvor bemerkt, Brasilien sei "keine ernste Nation”. Es war die erste WM nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Neuanfang, ein Aufbruch in eine neue Zeit. Brasilien wollte der Welt zeigen, dass es Teil davon war.

Für die brasilianische Nationalmannschaft, die Selecão, lief es zunächst gut. Sie spielte alle in Grund und Boden und gewann die Vorrunde souverän. In der finalen Gruppenphase – ein Modus der nur bei dieser WM gespielt wurde – deklassierten sie Schweden mit 7:1 und Spanien mit 6:1. Kein Mensch zweifelte auch nur eine Sekunde daran, dass sie diese überwältigende Siegesserie auch gegen Uruguay fortsetzte.

Am Spieltag verkündeten die Zeitungen bereits den Sieg der Mannschaft. "Brasil Campeao Mundial de Futebol 1950", hieß es. Die Stadionkapelle hatte ein eigens komponiertes Lied vorbereitet: "Brasil os Vencedores” (Brasilien, die Sieger). Es wurde nie aufgeführt. Die Noten der uruguayischen Nationalhymne hatte die anwesende Kapelle nicht einmal parat. Und selbst FIFA-Präsident Jules Rimet hatte seine Glückwunsch-Rede, gerichtet an die Brasilianer und auf portugiesisch, schon vorbereitet in der Tasche.

In der 79. Minute rief der Radioreporter Nelson Rodriguez, der das Spiel für Radio Globo kommentierte: “GOOOOL do Uruguay”. Ungläubig fragend wiederholter er: "Gol do Uruguay?” Und antwortete sich selber: "Gol do Uruguay!” Noch sechsmal hintereinander sprach er diese drei Worte, jedes Mal mit einer anderen Betonung – von Überraschung, über Resignation hin zum Schock.

"Alles war vorgesehen, außer ein Sieg von Uruguay", schrieb der damalige Fifa-Präsident Jules Rimet. Den Gastgebern hätte ein Unentschieden gereicht, aber 200.000 Zuschauer forderten ein Schützenfest. Spät, aber wie erwartet, ging Brasilien zu Beginn der zweiten Halbzeit durch Friaca in Führung. In der 66. Minute glich dann Schiaffino aus. Elf Minuten vor Schluss überwand der flinke Uruguayer Ghiggia den afro-brasilianischen Keeper Barbosa mit einem Schuss ins kurze Eck zum 1:2-Endstand.

Es war "das tosendste Schweigen in der Geschichte des Fußballs", schrieb der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano. Siegtorschütze Alcides Edgardo Ghiggia pflegt später zu sagen: "Lediglich drei Menschen haben das Maracanã zum Schweigen gebracht: Der Papst, Frank Sinatra und ich." Erst 64 Jahre später bejubelten die Uruguayer im vollbesetzten Centenario-Stadion in Montevideo das glorreiche Siegtor, das nie bejubelt worden war. Ehrengast Ghiggia war sichtlich bewegt, ob der gelungen Hommage seiner Landsleute.

Ein Zehntel der damaligen Bevölkerung Rio de Janeiros – rund 220.000 Zuschauer waren auf den Beinen, um beim erwarteten Sieg im Maracanã live dabei zu sein. Stattdessen durchlebten sie eine nie gekannte Agonie. Nach einem ersten lähmenden Schockzustand, setzten im ganzen Land wilde Diskussionen ein. Torwart Barbosa stand im Zentrum der auch rassistisch motivierten Kritik. Vor allem ihm wurde die Niederlage angelastet. Bis zu seinem Tod im Jahr 2000 blieb er der nationale Sündenbock. "In Brasilien ist laut Gesetz die Höchststrafe 30 Jahre. Meine Gefangenschaft dauerte 50 Jahre", pflegte er zu sagen.

Als erstes wechselte die Selecão ihre Trikots. Das weiße Shirt mit schmalem blauen Kragen und die weißen Hosen war durch die Niederlage beschmutzt. Fortan trug die Mannschaft das bekannte gelbe Shirt mit grünem Kragen, eine blaue Hose und weiße Socken mit grün als zweiter Farbe. Damit wurden sie in den Folgejahren fünfmal Weltmeister (1958, 1962, 1970, 1994, 2002).
Im Land selber befeuerte die Niederlage Dichter, Dramatiker, Regisseure und Musiker zu Analysen, die nicht selten zur Selbstanklage führten, einen Mangel an innerer Stärke konstatierten und sogar rassistische Schuldtheorien gebaren.

Denn es ist ein Mythos, dass in Brasilien die Hautfarbe keine Rolle spielt. Die Diskriminierung ist nur weniger offensichtlich als in den USA und in Europa, weil die afro-brasilianische Kultur stärker anerkannt und beachtet wird als beispielsweise die afroamerikanische Kultur in den USA. Der Mythos von der "Rassen-Demokratie" geht zum guten Teil auf die Thesen des brasilianischen Anthropologen Gilberto Freye zurück. Er nutzte Fußball als Beispiel. Das Spiel der Nationalmannschaft diente ihm als Metapher für die gelungene Rassenmischung in Brasilien, die einen einzigartigen Charakter aus Schläue, Musikalität und Kreativität zeige.

Die Realität sieht anders aus. Fast die Hälfte der 186 Millionen Einwohner sind Afro-Brasilianer. Laut einem UNO-Bericht verdienen sie 50 Prozent weniger als Weiße und stellen 63 Prozent der Armen. "Reich und Schwarz, dass muss Pelé sein", ist denn auch ein geflügelter Spruch unter Brasilianern.

In Brasilien wird dem Fußball eine zentrale Rolle im "nationbuilding" eingeräumt. Nach dem Anthropologen Da Matta sind die Quellen der nationalen Identität nicht die zentralen Institutionen der sozialen Ordnung – wie Verfassung, Gesetze oder finanzielle Ordnung – sondern die "Gast"-Freundschaft, Karneval und Fußball, die es den Brasilianern erlauben, in permanenten Kontakt mit der sozialen Welt einzutreten.

Fußball hat in Brasilien einen so hohen Stellenwert, weil die zentralen Institutionen der Gesellschaft versagen. Parteien bieten sich kaum zur Identifikation an. Die Gesellschaft ist immer noch durch traditionelle Strukturen geprägt. Zentrale Elemente der sozialen Kohäsion sind geprägt durch Hierarchien, Klientelsystem, Gefälligkeiten und Nepotismus. Das Fußballspiel steht für eine freie, gleiche und individualistische Gesellschaft. Auf dem Platz sind alle gleich, unabhängig von Hautfarbe, Religion und sozialer Herkunft. Wie brüchig diese Metapher ist zeigte sich im Vorfeld der WM. Beim Confed Cup im Sommer 2013 gab es massive Proteste. "Wir wollen nicht Brot und Spiele”, stand auf den Transparenten der Protestierenden in Rio. Laut Umfragen unterstützen lediglich 45 Prozent der Brasilianer die WM im eigenen Land.

In diesem Jahr geht die Selecão zum wiederholten Mal als Favorit in ein WM-Turnier. Ob die Mannschaft mit dem Spitznamen "Os Canarinhos" (Die Kanarienvögelchen) den sechsten Titel holt, liegt ganz allein bei ihr, denn schlagen können sie sich eigentlich nur selbst.

Wie 1950 heißt es 2014: Siegen müssen. Eine unglaubliche Bürde, denn Im Stillen fürchtet ja jeder eine Wiederholung des Dramas. Mittelfeldspieler Oscar gab sich beim beim Confed Cup bewusst cool: "Ich habe als Kind von Maracanaço gehört, aber das ist vorbei". Und Luiz Gustavo beteuerte: "Ich schaue nie zurück, immer nach vorne."

Trainer Luiz Felipe Scolari und Carlos Alberto Parreira als Technischer Direktor sollen die Seleção zum Sieg führen. Mit beiden wurde Brasilien bereits je einmal – 1994 und 2002 – Weltmeister. Nach dem gewonnen Confed Cup 2013 gilt der Sieg an der Copacabana bereits als ausgemacht. 

Im Confed Cup stießen Brasilien und Uruguay im Halbfinale aufeinander. Am Ende trennten sie sich 2:1. Uruguays Star Diego Fórlan vergab zu lässig einen Elfmeter, der den Brasilianern, damals sicher zum Verhängnis hätte werden können. So aber obsiegten sie über ihren Angstgegner. Ob es ihnen 2014 auch gelingt, das Gespenst von 1950 zu vertreiben?