Venezuela in einer Sackgasse: Krise und kommunitäre Lösungen

In dem durch Präsident Maduros Inaktivität erzeugten Vakuum haben Basisaktivisten angefangen, Alternativen zu schaffen

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Soziale Produktion in Guatire, einem Arbeitervorort von Caracas
Soziale Produktion in Guatire, einem Arbeitervorort von Caracas

Um etwas über Venezuelas sozialistische Revolution zu erfahren, waren Berichte großer US-Zeitungen immer so nützlich wie etwa ein einzelnes Fotonegativ: Vorwiegend hell-dunkel, gut und böse, alle Farben ausgetauscht und der Hintergrund des Kampfes kaum belichtet.

Niedergangsszenarien gibt es zwar seit über einem Jahrzehnt, die diesjährigen 159 Prozent Inflation (laut Internationalem Währungsfonds) und der zehnprozentige Absturz des nationalen Bruttoinlandsprodukts werfen jedoch ernsthafte Fragen auf zu den Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf den venezolanischen Normalbürger und die Fähigkeit der Regierung, die Unterstützung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten.

Es stimmt, dass die Wirtschaft angeschlagen ist. Im vergangenen Jahr stürzte der Ölpreis von 105 US-Dollar auf unter 50 und halbierte so die Deviseneinnahmen des Landes. Durch das desolate Wechselkurssystem und den boomenden Schwarzmarkt wurde der venezolanische Bolivar bis zu dem Punkt abgewertet, dass der monatliche Mindestlohn gerade noch für einen 36er-Pack Babywindeln oder ein paar Kilo getrocknete Bohnen reicht - bis Präsident Nicolas Maduro schließlich am 15. Oktober den Mindestlohn verdoppelte.

PKW-Ersatzteile sind kaum zu bekommen, die Fahrzeuge verrotten in den Hinterhöfen. Und zwischen unregelmäßigen Importen und dem weitverbreiteten Horten und Weiterverkauf von Lebensmitteln durch die "Bachaqueros" genannnten Verkäufer – ein Verweis auf Blattschneiderameisen – hat die Güterknappheit Einkaufslisten zur Glücksache gemacht.

Trotz aller Bemühungen des staatlichen Medienapparats – der voll auf die Parlamentswahlen am 6. Dezember eingestellt ist – diese Realitäten zu ignorieren, ist es unmöglich, sie im Alltag nicht wahrzunehmen.

Überall schwirren Zahlen durch die Straßen, Freunde und Fremde übertreffen sich mit Geschichten von unverschämten Preisen: "1.800 Bolivar für ein Kilo Linsen!", "Ich habe 600 Bolos für das Taxi nach Hause bezahlt".

Seit Februar 2013 steht der offizielle Kurs bei 6,3 Bolívar für einen US-Dollar, aber auf dem Schwarzmarkt taumelte er von 110 im Oktober 2014 zum aktuellen Kurs von 820 pro Dollar.

Eine unsichtbare Zwickmühle

Die Bachaqueo1-Wirtschaft ist zu einer unüberwindlichen Zwickmühle mutiert. Viele lohnabhängige Familien versuchen mit dem Verdienst aus illegalen Verkäufen über die Runden zu kommen und befeuern gleichzeitig die Inflation mit ihren Halsabschneiderpreisen. Während immer mehr Leute in dieses Geschäft einsteigen, werden die Schlangen vor den Supermärkten mit staatlich garantierten Niedrigpreisen immer länger, wobei dort kaum jemand für sich selbst einkauft.

Die Unterschiede zwischen den Klagen der Chavistas und denen der Opposition bestehen bis jetzt darin, dass Erstere die Ursachen zu analysieren suchen, angefangen bei der notorischen Öl-Abhängigkeit des Landes, dem illegalen Markt und der "Kultur des schnellen Geldes". Für die Letzteren reichen Schimpftiraden gegen Hugo Chávez, Fidel Castro und Mao Zedong.

Die Regierung bevorzugt eine eher schlichte Verteidigung und bezichtigt die Privatunternehmer der Sabotage. Mit der Begründung, das Land sei im Krieg, vermeidet die Zentralbank seit dem vergangenen Jahr offizielle Daten zur Inflation.

Unterdessen wird der gegen Venezuela gerichtete Medienchor seit dem Tod des charismatischen Anführers Chávez im März 2013 und dem Antritt des von ihm persönlich ausgewählten Nachfolgers Maduro ständig lauter. Wallstreet nutzt jede Möglichkeit, Zahlungsverzug zu verkünden und treibt die Zinsen für Venezuelas Anleihen in die Höhe. Wegen Mangel an Devisen oder absichtlicher Subversion haben führende Firmen die Produktion eingestellt.

Seit die Regierung 2003 ein dreifach abgestuftes Wechselkurssystem einführte, wird das System durch Phantom-Importeure manipuliert, was zu akkumulierten 300 Milliarden Dollar Kapitalflucht geführt hat. Diese Manipulationen tragen auch zum allgemeinen Mangel bei, denn viele der auf dem Papier importierten Güter kamen tatsächlich niemals ins Land.

Über die Jahre entwickelten sich Kauf und Verkauf subventionierter US-Dollars auf dem illegalen Markt zum profitabelsten Geschäft im Lande, wodurch sowohl die Absichten dieses Programms als auch die nationale Währung unterminiert wurden.

Aber sind der Regierung die Hände gebunden? In einer Analyse vom Mai schätzte Víctor Álvarez, Ökonom und Minister unter Chávez: "70 Prozent [des allgemeinen Mangels und der Spekulation] gehen auf das Konto von Schwund, Unterschlagung und Fehlern in der Wirtschaftspolitik und 30 Prozent sind durch die Opposition verursacht, die auf Destabilisierung setzt".

Laut Álvarez wurden die Devisenkontrollen als "zeitweilige Maßnahme" zur Verringerung der Dollar-Abhängigkeit eingeführt, die Regierung hatte jedoch keinen "vernünftigen Grund", sie über 2006 hinaus beizubehalten.

Heutzutage wird von der US-beheimateten Devisen-Webseite Dolar Today zunehmend Druck auf den Bolívar ausgeübt. Die Herausgeber können die Inflation nach Belieben steuern, indem sie einfach den Preis auf dem Schwarzmarkt erhöhen und erklären, ihre Berechnungen entsprächen dem "objektiven Wechselkurs auf der Straße".

Anfang dieses Jahres versuchte die Regierung den Schwarzmarkt durch Einführung des Simadi2auszutrocknen, ein freier Wechselkurs, der mit 172 Bolivar für den Dollar startete, der Schwarzmarktkurs lag zu der Zeit bei 185.

Doch in den Wochen darauf trieb Dolar Today den Schwarzmarktkurs in schwindelerregende Höhen und neutralisierte so effektiv das Simadi.

Am 23. Oktober reichte die venezolanische Zentralbank Klage in den USA gegen Dolar Today wegen Cyberterrorismus ein, sie forderte ein Verbot der Veröffentlichung inoffizieller Wechselkurse und verlangte Schadensersatz.

Während viele Venezolaner das Vorgehen gegen die Webseite unterstützen, werfen linke Kritiker der Regierung vor, sie gebe sich mehr Mühe, der Opposition die Schuld zuzuschieben, als sich um konkrete Probleme zu kümmern. Das Fehlen offizieller wirtschaftlicher Daten frustriert die Venezolaner zusätzlich, die gegen inflationäre Preise kämpfen und keine wirksame Unterstützung des Staates sehen.

Konkrete Lösungen

In diesem durch Maduros Inaktivität erzeugten Vakuum gibt es aber auch Basisaktivisten, die mit sich zu Rate zogen und anfingen, nach konkreten Lösungen zu suchen.

Unterstützt von Schlüsselministerien, von denen soziale Bewegungen immer noch Geld bekommen, wurden diese Aktivisten zu einem Motor für einen Neuanfang der Produktion in kleinem Maßstab in diesem Öl-abhängigen Land.

In Guatire, einem Arbeitervorort der Hauptstadt Caracas, erhielten der junge Filmemacher Alejandro Baiz und eine Gruppe Freiwilliger Geld vom Ministerium für die Comunas3 und soziale Bewegungen und sowie vom Wohnungsbauministerium, um ein Stück brachliegendes Land in ein soziales Produktionszentrum namens Territorio Caribe zu verwandeln.

Hier findet man jetzt Gewächshäuser, wo Kinder aus der Gegend urbanen Gartenbau lernen, einen kommunalen Nachrichtensender und einen Bildungsbereich, in dem Unterricht in vielen Gebieten angeboten wird, von Tischlerei bis zu natürlicher Geburt.

Das Ministerium für die Comunas und soziale Bewegungen unterstützt Venezolaner beim Aufbau autonomer sozialistischer Kollektive, die sich für Autarkie und Selbstverwaltung stark machen, in Übereinstimmung mit Chávez' Traum vom schrittweisen Übergang vom bourgeoisen zum kommunalen Staat. Inzwischen gibt es Tausende solcher Kollektive überall im Land, die ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltiges Wirtschaften und partizipative Demokratie in den Mittelpunkt stellen.

"Wir versuchen nicht die Welt zu ändern, wir schaffen Alternativen im Rahmen unserer unmittelbaren Möglichkeiten", erklärt Baiz.

Wenn die "Bachaqueros" die sprichwörtlichen Fußsoldaten im Wirtschaftskrieg sind, so treffen sie auf dem Kampfplatz auf Alejandro und seine Truppe von 70 Freiwilligen. Mit ihren selbst hergestellten Seifen, Deodorants und Shampoos liefern die Mitarbeiter des Territorio Caribe Produkte, die sonst meist von den bachaqueros monopolisiert sind.

Durch den Verkauf ihres Arepa-Mehls4, das aus Yucca, Kochbanane und Taro hergestellt wird, schaffen sie eine Alternative zum Harina-P.A.N.-Maismehl, das im Monopol von Polar produziert wird, Venezuelas größtem Privatunternehmen.

Ein Stück entfernt von den Lichtern der Stadt trifft man Gabriel García, den 55-jährigen Aktivisten gegen genmanipuliertes Saatgut, der dabei vom Comunas-Ministerium Unterstützung erhält.

Geboren und aufgewachsen im fruchtbaren Bundesstaat Lara, ist García treibende Kraft bei Venezuelas seit zehn Jahren jährlich stattfindenden nationalen Campesino-Saatgut-Tag und dem wegweisenden "International Seed Forum" 2012, das organisches Saatgut für die Amerikas schützen soll.

"Wir belassen es aber nicht beim Reden", versichert García. "Wir machen praktische Arbeit, wir bauen unsere eigenen Lebensmittel an. Wir pflegen Saatgut-Banken und sorgen dafür, dass sie für Bauern verfügbar sind."

Trotz Mehraufwand beim organischen Landbau, sagt Gabriel, können die 100 Prozent organisch und kommunal erzeugten Produkte billiger sein als die des konventionellen Landbaus, sofern man die hohen Kosten für importierte Agrochemikalien und die ausgedehnten Verteilungsketten miteinbezieht.

Lara hat mehr Comunas als jeder andere Bundesstaat und eine lange Tradition von Subsistenzlandwirtschaft. Dies hat die Region weitgehend vor Nahrungsmittelknappheit bewahrt. Mit Unterstützung der Regierung wehren sich die lokalen Comunas gegen Spekulation und suchen nach Wegen, ihre Güter in Barquisimeto, der Hauptstadt des Bundesstaates, ohne Zwischenhändler zu vertreiben.

"Produzieren und Anbauen überall dort, wo freies Land verfügbar ist, das ist der einzig richtige Weg in diesem Wirtschaftskrieg. Dies wissen wir besser als irgendjemand sonst", insistiert García.

Aber er warnt, dass es schwieriger wird, freies Land zu bekommen, falls die Revolution die nächsten Wahlen verliert.

"Die Landbesitzer und Viehzüchter haben enorme Macht und versuchen, ihr Imperium zurückzugewinnen", erläutert er und erinnert an die abgetrennten und exklusiven ländlichen Gebiete, wie es sie vor Chávez' Verfassungsreform gab, die 1999 den Großgrundbesitz verbot.

Die kommenden Wahlen

In internationalen Medien werden die für den 6. Dezember angesetzten Wahlen zur Nationalversammlung zum Plebiszit über Maduro stilisiert, aber es ist wenig wahrscheinlich, dass die Opposition eine hinreichende Mehrheit zur Änderung der Regierungspolitik bekommt. Eine Zweidrittelmehrheit ist nötig, um Verfassungsrecht zu ändern oder für eine Petition beim Obersten Gericht für ein Amtsenthebungsungsverfahren gegen den Präsidenten. Eine Dreiviertelmehrheit wäre erforderlich, um den Vizepräsidenten oder Minister aus dem Amt zu bringen.

Laut einer Umfrage, die das in Caracas ansässige Hinterlaces-Institut im Juli durchführte, sind 67 Prozent der Venezolaner der Ansicht, dass die Opposition zwar Stimmen gewinnt "wegen der Unzufriedenheit im Land, dass sie aber keinen Rückhalt im Volk hat".

Abgesehen von einer durchdringenden Anti-Chavista-Meinung agiert die oppositionelle Koalition MUD (Tisch der Demokratischen Einheit) als breit angelegte Sammlung reaktionärer bis liberal-reformistischer Parteien ohne klare Führung und ohne einheitliches ideologisches Konzept.

Derzeit hält die Pro-Regierungskoalition fast zwei Drittel der 165 Sitze im Kongress.

Nach Überzeugung von Rodrigo Acosta, eines chilenischen Graffiti-Künstlers, der 1984 mit seiner Familie vor der Pinochet-Diktatur flüchtete und sich im neoliberalen Venezuela der Vor-Chávez-Zeit wiederfand, wäre ein Sieg der Opposition ein Desaster.

Mit Blick auf Salvador Allendes kurze sozialistische Regierungszeit in den frühen 1970er Jahren erinnert Acosta an die rechte Kongressmehrheit, die jegliche Initiative der Allende-Partei blockierte.

"Wir müssen uns darauf vorbereiten, uns zu wehren", sagt Acosta und betont, dass Widerstand "aus der organisierten Kommune heraus" kommen müsse.

Acosta, der seit langem in der Andenstadt Merida lebt, nimmt an einer kraftvollen Kampagne teil, die den Geist des Chavismus im Lande wiederbeleben möchte.

Ihren Ursprung hatte die Kampagne in einem Symposium mit Künstlern aus Bolivien, Argentinien, Brasilien, Peru und Kolumbien und sie überflutete alle sozialen Medien mit plastischen Bildern anatomischer Herzen und Adern, die ganz Lateinamerika verbinden.

Das schlagende Herz soll an "das tiefe Gefühl, das uns immer noch eint" erinnern, sagt Acosta.

In den vergangenen Jahren duchlebten viele Chavistas "eine Krise der Moral", sinniert er. Es ist eine kollektive Erschöpfung, weil "viele unserer revolutionären Errungenschaften aufgegeben und vernachlässigt wurden".

Es gehe darum, die Menschen an ihre Rolle in Venezuelas partizipativer Demokratie zu erinnern und Chávez' Rat aus seiner letzten Rede zu beherzigen, gemeinsam am kommunalen Staat zu arbeiten.

"Wir können nicht alles der Regierung überlassen, wir können nicht einfach dasitzen und auf eine Lösung warten", erklärt Acosta.

Doch was die Wirtschaft betrifft, so ist ein Ende der harten Zeiten nicht abzusehen. Auf der Suche nach besseren Möglichkeiten verließen viele Fachkräfte und junge Künstler das Land, wodurch sich riesige Lücken bei öffentlichen Dienstleistungen auftaten. Es gibt eine allgemeine Zunahme von Kriminalität, die Polizeikräfte konzentrieren sich auf Blitzaktionen und Razzien gegen Straßengangs, der Staat scheint trotz neuer strenger Gesetze nicht in der Lage, Kleinkriminalität wie das Bachaqueo einzudämmen.

Im Oktober wurde das Budget für 2016 bekannt gemacht, es betont breitgefächerten Handel und pünktliche Bedienung der Schulden, aber angesichts sinkender Importe stellen viele Ökonomen diesen Ansatz in Frage. Und laut Dokumenten über den Haushaltsentwurf, die der Nachrichtenagentur Reuters übermittelt wurden, wird der offizielle Wechselkurs von 6,3 beibehalten, was eine Schwächung des Schwarzmarktes unwahrscheinlich macht.

Venezuelas soziale Bewegungen haben eine lange Geschichte der Konfrontation mit widrigen Umständen, aber nach 17 Jahren Bolivarischer Revolution ist die Zeit hochgestimmter Erwartungen, gestützt auf unerschöpfliche Ressourcen, lange vorbei.

Den Unterschied werden in Venezuela diejenigen machen, die die Situation als eine Gelegenheit zur Erneuerung sehen und nicht als Chance zu profitieren und die Wirtschaft noch weiter in den Niedergang zu treiben.


Die Journalistin Zoë Clara Dutka lebt seit 2009 in Venezuela und schreibt für venezuelanalysis.com.

  • 1. Bachaqueo bezeichnet den Handel mit staatlich subventionierten Gütern des täglichen Bedarfs auf dem Schwarzmarkt
  • 2. Mit dem neu eingeführten "Marginalen Devisensystem" (Simadi) wurde der Dollar-Zugang teilweise liberalisiert, basiert aber weiterhin auf drei Säulen mit unterschiedlichen Wechselkursen. Privatpersonen können täglich bis zu 300 US-Dollar sowie jährlich bis zu 10.000 US-Dollar zu einem marktbestimmten Kurs beziehen.
  • 3. Die Comuna ist der Zusammenschluss mehrerer Kommunaler Räte, einer Struktur der Selbstverwaltung auf lokaler Ebene. Diese sind seit 2006 gesetzlich verankert und haben Verfassungsrang. Gewählte Nachbarschaftsvertreter sind zur Planung und Haushaltsgestaltung in einer Reihe lokaler Belange berechtigt
  • 4. Arepas sind runde Maisfladen, die in Venezuela mit verschiedenen Füllungen sehr viel gegessen werden