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Ein Arbeiterquartier in Buenos Aires im sozialen Wandel?

Stadtentwicklung und soziale Gerechtigkeit in Argentinien am Beispiel des Parque Patricios

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Am Areal für Umnutzung wird der neue Technologiepark angekündigt
Am Areal für Umnutzung wird der neue Technologiepark angekündigt

Unter Dieben und Verbrechern

"Dale glooo y dale, dale glooo!" – sonntags im Fussballstadion. Ich singe und hüpfe zusammen mit den Fans des CA Huracán. "Das sind alles Diebe und Verbrecher", sagte mir neulich ein Taxifahrer über die Fans dieses argentinischen Fussballclubs. "Es ist gefährlich", fuhr er fort, "das Stadion befindet sich im Quartier Parque Patricios, nur wenige Meter entfernt von der villa 21-24", eines der grössten Elendsviertel der Megacity Buenos Aires.

Obwohl ich mich für einen Platz in der Nähe der barra brava, dem härtesten Kern der Fussballfans, entschieden habe, wirkt die Stimmung im Stadion fröhlich und entspannt. Das Publikum besteht aus gewöhnlichen Leuten, die klassischen argentinischen Fastfood essen wie choripan und hamburguesa. Unter den Zuschauern auf der Rampe hinter dem Tor stehen auch viele Kinder mit ihren Eltern, einige haben sogar ihren Hund mitgebracht. Zudem erinnere ich mich noch bestens an die Worte meines Freundes, einem Fan von Huracán seit Kindesalter: "Huracán ist in Besitz des schönsten Stadions von Argentinien". Anschliessend beschrieb er mir voller Stolz die Szene des oscargekrönten Films El Secreto de sus Ojos, in welcher das Stadion Tomás Adolfo Ducó in eindrücklicher Art und Weise die Filmkulisse hergibt.

"Goool!" Huracán geht eins zu null in Führung. Die Zuschauer geraten ausser sich und liegen sich gegenseitig in den Armen. Jetzt stimmen die Fans neue Lieder an, Lieder voller Beleidigungen über den Klub von San Lorenzo. Es ist der Klub aus dem Nachbarquartier Boedo, der Lieblingsklub von Papst Francisco und der grösste Rivale von Huracán. Die Stimmung im Stadion erreicht in den Minuten nach dem Tor ihren Höhepunkt und täuscht so über den Makel hinweg, dass dieses nur zur Hälfte gefüllt ist. "Hierher kommen nur Leute aus dem Quartier. Huracán ist ein typischer Quartierverein", erklärt mir Quique, ein Kollege aus der Boxklasse, der mich zum Spiel mitnahm und seit seiner Kindheit in Parque Patricios lebt.

Quartier der quemeros

Dass die Identifikation der Quartierbewohner mit dem Klub äusserst stark ist, wird im Viertel rund um das Stadion sofort klar. Die Farben rot-weiss sind omnipräsent und auch das Emblem mit dem Globo Huracán, dem berühmten Heissluftballon, mit dem der Aviatikpionier Jorge Newberry 1909 drei südamerikanische Republiken überquerte, ziert zahlreiche Hauswände. Huracán ist mehr als nur Fussball. Der Klub ist eine soziale und kulturelle Institution in Parque Patricios sowie ein fester Bestandteil in der Quartiergeschichte. Los quemeros nennen sich die Fans und beziehen sich dabei auf die Arbeiter der grossen Abfallverbrennungsanlage (span.: la quema), die sich dereinst im Quartier befunden hat, sowie auf die langjährige gewerbliche und industrielle Tradition von Parque Patricios.

Parque Patricios stellt ein typisches Quartier im Süden von Buenos Aires dar, wo sich jahrzehntelang vorwiegend die ärmeren Gesellschaftsschichten der argentinischen Hauptstadt ansiedelten. Das Quartier, dessen Namen auf den im Zentrum liegenden Park Parque de los Patricios zurückzuführen ist, entstand anfangs des 20. Jahrhunderts, in unmittelbarer Nähe zum Fluss Riachuelo, der ersten Bahnhöfe Constitución und Once sowie des Hafenquartiers La Boca. Anfangs wurden an diesem Ort vor allem grosse, als "ungesund" geltende Infrastrukturen wie Abfalldeponien, Gefängnisse, Schlachthäuser, Lagerräume etc. angesiedelt. Danach zogen die Arbeiter dieser Einrichtungen und deren Familienmitglieder in das Quartier, welches grösstenteils Migranten aus Südeuropa waren.

Die von Gewerbe und südeuropäischen Arbeitern geprägte Gründerzeit ist aufgrund des architektonischen Erscheinungsbildes von Familienhäusern, historischen Fabrikgebäuden und grossen Pizzerias nach wie vor in verschiedenen Quartierteilen erkennbar. Gleichzeitig weist das bauliche Erscheinungsbild des Quartiers vielerorts auf den Niedergang des lokalen Gewerbes seit den 1960er Jahren hin: Verlassene Industrie- und Gewerbeareale, verfallene Häuser sowie ausgediente und verrostete Autowracks. An solchen Orten begegnen einem zudem Menschen, die sich in äusserst prekären Lebenssituation befinden. "Hay mucho lumpen en las calles del barrio!" (dt.: "In den Strassen des Quartiers hat es viel Pack!"), haben mir mehrere Leute gesagt.

Diese heruntergekommene Seite des Quartiers ist denn auch der Grund dafür, dass sich viele Leute nicht gerne in Parque Patricios aufhalten. Insbesondere Leute der Ober- und Mittelschicht, die vorwiegend in den nördlichen Gebieten von Buenos Aires leben, empfinden das Quartier als extrem unsicher und gefährlich.

Wandel zum Technologiedistrikt

Auf einem Spaziergang durch Parque Patricios stechen aber auch moderne Gebäude, Baustellen und Plakate projektierter Neubauten ins Auge. Die neuen Gebäude heben sich dabei durch eine der gründerzeitlichen Architektur fremden und widersprüchlichen Ästhetik ab. Es handelt sich um kubische Gebäude mit viel Glas, Stahl und Beton. Eine Ästhetik, die Vierteln wie Puerto Madero oder Palermo entspricht, derjenigen der Global City Buenos Aires.

Diese neuen Stadtentwicklungsimpulse sind das Ergebnis der Strategie, mit welcher die aktuelle Stadtregierung das Ziel verfolgt, Parque Patricios in ein zukünftiges Geschäfts-, Forschungs- und Bildungszentrum mit dem Schwerpunkt "Informations- und Kommunikationstechnologie" (IKT) zu verwandeln. Ausgangspunkt dieser Strategie ist das im Jahr 2008 durch das Stadtparlament verabschiedete Gesetz (ley 2.972), mit welchem Parque Patricios sowie ein paar angrenzende Blocks der Nachbarviertel Boedo und Nueva Pompeya zum Technologiedistrikt von Buenos Aires (Distrito Tecnológico) erklärt wurden. Innerhalb dieses Perimeters gewährt das Gesetz Firmen aus der IKT-Branche den Erlass verschiedener Steuern und Zahlungen, staatliche Fördergelder und andere Anreize.

Zusätzlich realisierte die Stadt Buenos Aires in den letzten acht Jahren verschiedene Quartieraufwertungsmassnahmen. 2007 wurde eine neue U-Bahnlinie mit vier Stationen in Parque Patricios eröffnet und seit 2013 ist der Metrobus Sur mit mehreren Haltestellen in Parque Patricios in Betrieb. Metrobus ist ein öffentliches Verkehrssystem, welches gewöhnliche Buslinien und solche mit Taktverdichtungen über exklusive Busspuren schneller an deren Zielorte bringt. Weitere Quartieraufwertungsmassnahmen sind neue Fahrradwege, die Sanierung eines Grossteils der Gehwege oder die Verbesserung der Strassenbeleuchtung.

Das Leuchtturmprojekt unter den Aufwertungsmassnahmen stellt das neue Stadtverwaltungsgebäude mit dem Regierungssitz von Buenos Aires dar, das am Rande des zentralen Quartierparks liegt. Das Gebäude, welches das Studio des berühmten britischen Architekten Sir Norman Foster entwarf, wurde im April 2015 eröffnet. Gebaut mit der neusten Technik und umweltfreundlichen Materialien, recycelt dieses das verbrauchte Wasser und zeichnet sich durch seine lichtdurchfluteten Innenräume aus. Das Gebäude bietet Platz für 1.500 Angestellte. Die Investitionskosten beliefen sich auf 250 Millionen argentinische Pesos (ca. 25 Millionen Dollar).

La represión del Borda

Weniger transparent als die oben genannten Fakten kommunizierte die Stadtregierung hingegen die Gründe für den kurzfristigen Nutzerwechsel bei diesem prestigeträchtigen Gebäude. Ursprünglich sollte darin der neue Sitz der städtischen Bank (Banco Ciudad de Buenos Aires) entstehen. Doch wenige Monate vor der geplanten Eröffnung liess die Stadt über die Medien informieren, dass das Gebäude künftig als Regierungssitz dienen soll. Inoffizielle Erklärungen gehen davon aus, dass dieser überraschende Nutzerwechsel in direktem Zusammenhang mit einem politischen Skandal steht, der unter dem Namen la represión del Borda bekannt wurde.

Am Anfang dieses Skandals steht das Vorhaben der Stadt Buenos Aires, das seit längerer Zeit geplante Verwaltungsgebäude auf dem Areal der psychiatrischen Klinik Hospital Borda in Barracas, einem Nachbarquartier von Parque Patricios, zu realisieren. Dafür hätte ein Teil der Klinik, in dem sich eine geschützte Werkstatt befand, abgerissen werden müssen. Als dieses Vorhaben eines Morgens im April 2013 mittels polizeilicher Unterstützung von den Behörden durchgesetzt werden sollte, kam es zu einer blutigen Auseinandersetzung zwischen Angestellten der Klinik und der Stadtpolizei, in der sich mehr als 30 Menschen verletzten.

Im Nachgang zu diesem Ereignis entstand eine nationale Debatte über Sinn und Unsinn dieser Polizeiaktion sowie über den Verwendungszweck der damals relativ neu gegründeten Stadtpolizei von Buenos Aires, der Policía Metropolitana. Gegen den Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, seine Vizepräsidentin, María Eugenia Vidal, und weitere Kabinettsmitglieder wurde ein Gerichtsverfahren eröffnet, um die Frage der Verhältnismässigkeit dieses Polizeieinsatzes zu klären.

Regierungskritische Stimmen vermuten darum, dass Mauricio Macri aufgrund dieses politischen Ausrutschers nach einem neuen Standort für das geplante Bauvorhaben suchen liess, um die Geschichte möglichst schnell zu vergessen. Auf jeden Fall besitzt er, der am 22. November 2015 zum argentinischen Präsidenten gewählt wurde, seit ein paar Monaten eines der modernsten Verwaltungsgebäude Lateinamerikas. Auch seine damalige Vizepräsidentin, María Eugenia Vidal, scheint keinen grossen Imageschaden davongetragen zu haben. Am 23. Oktober 2015 wurde sie auf Anhieb zur Gouverneurin der Provinz Buenos Aires gewählt. Das Gerichtsverfahren gegen die beiden wurde übrigens im Februar 2015 eingestellt.

Erste Veränderungen erkennbar

Gemäss verschiedener Statistiken zeigen die umgesetzten Aufwertungsmassnahmen rund um den Technologiedistrikt ihre erste Wirkung. Seit 2008 haben sich in Parque Patricios 200 neue Unternehmen mit 10.000 Angestellten niedergelassen. Zudem verzeichnet das Quartier zum ersten Mal seit 1960 ein Bevölkerungswachstum. Gemäss offiziellen Statements der Stadtregierung und neu angesiedelter Unternehmen wird diese Entwicklung äusserst positiv bewertet. Betont werden dabei stets die Vorzüge, welche Parque Patricios als Standort gegenüber der Innenstadt, dem Microcentro, aufweist wie z.B. die gute Erreichbarkeit.

Im Gespräch mit langjährigen Bewohnern des Quartiers werden aber auch negative Punkte geäussert. Beispielsweise beschwert sich Ramón, ebenfalls ein Kollege aus der Boxklasse, der seit seiner Kindheit im Quartier lebt, über den letzthin stark zunehmenden Verkehr. Dies bestätigte ebenfalls der Angestellte eines Busunternehmens, mit dem ich über die Veränderungen im Quartier gesprochen habe: "Es hat deutlich mehr Verkehr als früher. Vor allem am Morgen, wenn die Leute zur Arbeit kommen".

Ein guter Indikator für Veränderungen im Quartier ist zudem der Bodenpreis. Zwei Bekannte, die je ein Haus in Parque Patricios besitzen, berichteten, dass sie über die letzten Jahre hinweg einen Anstieg der Bodenpreise feststellten. Dieser Preisanstieg lässt sich gemäss einer Statistik des Geographi-schen Instituts der Universität von Buenos Aires (UBA) aus dem Jahr 2012 zwar nicht als signifikant beweisen, auf Anfrage weist die UBA jedoch darauf hin, dass der Trend bei Boden- und Mietpreisen klar steigend ist. Fakt ist zudem, dass die Stadt den Unternehmen aus der IKT-Branche in Parque Patricios die Steuern erlässt, im Gegenzug die Gemeindesteuer (impuesto ABL) für die Quartierbewohner aber erhöht wurde. Schliesslich verrät ein Blick auf die Anzahl gebauter Quadratmeter in den letzten Jahren, dass sich in Parque Patricios momentan ein kleiner Bauboom beobachten lässt. Gemäss einer Statistik der Zeitung Clarín wurden in Parque Patricios zwischen 2010 und 2014 300.000 m2 gebaut, was 8 Prozent der gesamten Quartierfläche entspricht.

Warum Parque Patricios?

Aber warum interessiert sich die Stadtregierung von Buenos Aires ausgerechnet für dieses Quartier und investiert so viel Geld? Das Quartier hat einen schlechten Ruf und für viele porteños, wie die Bewohner von Buenos Aires genannt werden, liegt es weit weg von allem Wichtigen dieser Weltstadt. Ein paar Erklärungen präsentiert mir Natalia Lerena, Geografiedoktorandin an der UBA. Sie setzt sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit intensiv mit dem Quartier und seiner Entwicklung auseinander.

Für Lerena ist die aktuelle Quartierentwicklung das Ergebnis eines regionalen sowie globalen Wett-streits zwischen grossen Städten und deren attraktivsten Viertel. Metropolitanräume und ihre Zentren versuchen mittels der Aufwertung von Stadtvierteln Anreize für neue Investitionen zu schaffen. Im ewigen Wettstreit um das globalisierte Kapital sind die Städte darum immer wieder auf der Suche nach neuen, attraktiven Stadtgebieten. Offenbar hat die Macri-Regierung Parque Patricios als ein solches identifiziert.

Hinzu kommt, dass die Stadt Buenos Aires seit längerer Zeit die Strategie verfolgt, die strukturell schwachen Viertel im Süden von Buenos Aires zu "entwickeln". Das Ziel ist eine zwischen den einzelnen Stadtgebieten ausgewogene und gerechte Entwicklung. Gemäss Lerena besteht das Problem dieses Ansatzes aber darin, dass sich die Boden- und Mietpreise der einzelnen Viertel angleichen bzw. dass die Preise in den bisher für den Bau- und Immobilienmarkt uninteressanten Gebiete massiv ansteigen. Sie befürchtet darum, dass dies in Parque Patricios kurz- bis mittelfristig ebenfalls eintreffen wird.

Abschliessend erklärt Lerena, dass Parque Patricios über verschiedene Voraussetzungen verfügt, die das Quartier zu einem attraktiven Standort für öffentliche und private Investitionen machen. Das Quartier ist nur vier Kilometer vom Microcentro entfernt gelegen und verfügte bereits vor der Eröffnung der U-Bahn und des Metrobus Sur über eine gute Anbindung an das städtische und regionale öV-Netz.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der Parque Patricios von vielen anderen Stadtvierteln in Buenos Aires unterscheidet, fällt mir bei einem Spaziergang durch das Quartier auf. Das Stadtentwicklungspotenzial von Parque Patricios ist im Vergleich zu vielen anderen Gebieten dieser extrem dicht bebauten Stadt enorm. Aufgrund seiner industriellen Vergangenheit verfügt das Quartier über eine grosse Anzahl an brachliegenden Industriearealen, die für Arbeitsplätze, Bildungseinrichtungen und Wohnungen umgenutzt werden können, um neuen, kompetitiven Stadtraum zu bieten.

Gerechte Quartierentwicklung oder Gentrifizierung?

So sehr diese aktuelle Entwicklung aus ökonomischen, politischen und städtebaulichen Gesichtspunk-ten interessant ist, wirft sie aber auch einige Fragen bezüglich der gesellschaftlichen Verträglichkeit auf. Obwohl in Parque Patricios aktuell Aufbruchstimmung herrscht und viele Quartierbewohner die verschiedenen Aufwertungsmassnahmen begrüssen, handelt es sich in erster Linie um eine Quartierentwicklung, deren Ziele, Strategien und Massnahmen die Bedürfnisse der zukünftigen Angestellten und Bewohner des Quartiers berücksichtigen. Beispielsweise entstand die Planung des zukünftigen Quartiers nicht im Dialog mit der Quartierbevölkerung, sondern wurde von ausserhalb herangetragen. Zudem sieht das Technologiedistrikt-Gesetz keine Massnahmen vor, um die langjährigen Bewohnerinnen und Bewohner vor den drohenden Preisanstiegen und Immobilienspekulationen zu schützen (z.B. Mietzinsregulation, Mehrwertabschöpfung).

Einer der sich mit Fragestellungen zur sozialen Gerechtigkeit im Stadtraum auseinandersetzt, ist Professor Jorge Blanco vom Geographischen Institut der UBA. Mit seinem Forschungsteam untersucht er u.a. das Stadtphänomen der Gentrifizierung in Theorie und Praxis. Die Gentrifizierung, welche 1964 erstmals die britische Soziologin Ruth Glass beschrieben hat, ist seit ein paar Jahren in aller Munde. Der Ausdruck taucht aktuell in Zeitungsartikeln, politischen Diskussionen, Gesprächen mit den Nachbarn und nicht zuletzt in von mir hochgeschätzten Texten Deutscher Rapper auf. Der Begriff bezeichnet einen sozioökonomischen Strukturwandel, der im Zusammenhang mit der Wiederbelebung und der Erneuerung eines Stadtquartiers auftreten kann.

Die Inwertsetzung eines Quartiers zieht immer auch Leute aus höheren sozialen Schichten mit höherem Einkommen an. Dank ihren finanziellen Möglichkeiten beginnen sie das Stadtgebiet auf verschiedenen Ebenen für sich zu beanspruchen und sich dieses anzueignen. Im Zuge dieser Entwicklung beginnt sich der bisherige Quartiercharakter zu verändern, weil z.B. neue, auf eine zahlungskräftige Kundschaft ausgerichtete, gastronomische und kulturelle Angebote entstehen. Die Folgen sind oftmals steigende Boden-, Immobilien- und Dienstleistungspreise sowie die räumliche Verdrängung langjähriger Bewohner, Arbeiter und Konsumenten aufgrund des hohen Preisniveaus. In Zürich beispielsweise, entstand im Zusammenhang mit ähnlichen Diskussionen über steigende Mietpreise der Begriff der "Seefeldisierung".

Blanco und sein Team wurden auf die neusten Entwicklungen in Parque Patricios aufmerksam, weil es sich dabei um das Anfangsstadium eines solchen Gentrifizierungsprozesses handeln könnte. Das Forschungsteam analysiert zurzeit u.a. die Entwicklung der Bodenpreise, die Strategien der Immobilienfirmen und die sozialen Verdrängungen im Quartier. "Noch können wir nicht von Gentrifizierung sprechen", sagt Blanco. "Wir befinden uns am Anfang unserer Forschungen, aber wir sehen bereits verschiedene Tendenzen, die uns an andere typische Fallbeispiele erinnern".

Was mich persönlich in Gesprächen mit Quartierbewohnern aufhorchen liess, war deren Mangel an Informationen über die aktuellen Geschehnisse im Quartier. Es gab sogar Leute, die nicht glauben wollten, dass die Stadt Buenos Aires im Begriff ist, moderne Gebäude für die Stadtverwaltung oder für zwei private Universitäten in Parque Patricios zu bauen. Auch die Mutter von meinem Boxkollegen Quique wusste nichts über die Existenz des neuen Regierungsgebäudes, obwohl sie nur drei Blocks davon entfernt lebt.

Dass solche Einzelbeispiele nicht ausreichen, um eine allfällige ungerechte Stadtentwicklung zu belegen, ist klar. Dennoch weisen sie darauf hin, dass der Technologiedistrikt nicht viel Gemeinsam-keiten mit dem Alltag der langjährigen Quartierbewohner hat. Zudem scheint es, dass die Stadtregie-rung von Buenos Aires unter der Leitung der konservativen Partei Propuesta Republicana (PRO) nicht nur die Interessen und Bedürfnisse der Quartierbewohner ignoriert, sondern auch die bestehenden Vorschriften des Código de Planeamiento. Gemäss dieser verbindlichen bau- und planungsrechtlichen Grundlage aus dem Jahr 2014 entspricht die aktuelle bauliche Entwicklung von Parque Patricios in vielen Fällen nicht den zulässigen Nutzungsarten der jeweiligen Bauzonen. Beispielsweise befindet sich der neue Regierungssitz auf einem Grundstück, das für die Wohnnutzung von mittlerer Bebau-ungsdichte vorgesehen ist. In derselben Bauzone befindet sich ebenfalls das Grundstück, auf dem aktuell ein neuer Campus für zwei private Universitäten entsteht.

Widerstand aus dem Quartier

Bisher sind Stimmen, welche sich gegen die aktuelle Entwicklung im Quartier auflehnen, weitgehend ausgeblieben. Dass sich dies in absehbarer Zeit ändert und sich im Quartier Widerstand gegen die Vorhaben der PRO formiert, ist dennoch wahrscheinlich, weil es in den letzten Jahren zu mehreren Aufständen durch die Bewohner und Arbeiter von Parque Patricios gegen die lokalen Behörden ge-kommen ist.

Ein Beispiel ist das ehemalige Kino und Theater Urquizaan der Avenida Caseros, in dem zwischen den 1920er und 1990er Jahren verschiedene argentinische Schauspielgrössen auftraten. Im August 2013 sollte dieses historische Gebäude dann abgerissen werden. Darauf kämpften Quartierbewohner, welche diesen Ort als eine zentrale kulturelle Einrichtung für die südlichen Stadtviertel von Buenos Aires sahen, dafür, dass das Cine y Teatro Urquiza unter Denkmalschutz gestellt werde. Im April 2014 erreichten sie dadurch die Anordnung einer richterlichen Vorsichtsmassnahme, die das Gebäude seit-her vor dem Abriss und baulichen Veränderungen schützt. Zurzeit arbeitet eine Aktivistengruppe aus der Nachbarschaft an einem Konzept für die Wiederinbetriebnahme des Cine y Teatro Urquiza als Kulturzentrum.

Ein weiteres Beispiel von lokalem Widerstand sind die Arbeiter der Mühle Molino Osiris. Dabei handelt es sich um den Kampf von knapp 30 Arbeitern für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Nach 80 Jahren Betrieb sollte die Molino Osiris wegen finanzieller Schwierigkeiten im September 2014 geschlossen werden. Die Arbeiter verdächtigten jedoch die Besitzer der Mühle ihren Entscheid aufgrund der steigenden Boden- und Immobilienpreise im Quartier gefällt zu haben, um mit einem Verkauf des Grundstük-kes einen hohen Gewinn zu erzielen. Darauf besetzten die Arbeiter das Grundstück der Mühle und erlangten mittels Demonstrationen, Strassenblockaden und Kundgebungen anfangs 2015 eine Bewilligung, um die Mühle als selbstverwaltete Kooperative zu betreiben. Seit ein paar Monaten produzieren die 30 Arbeiter auf Rechnung der eigenen Kooperative.

Zukünftige Herausforderungen für die Regierung

Auch die Stadtregierung kämpft bezüglich des Quartiers Parque Patricios mit ihren ganz spezifischen Herausforderungen. Um die angestrebten Ziele des Technologiedistrikts zu erreichen, muss es ihr gelingen, das Image des Quartiers in eine positive Richtung zu lenken. In den Medien erscheint Parque Patricios nach wie vor als unsicheres Quartier. Beispielsweise sagte der Geschäftsführer einer soeben aus der Innenstadt zugezogenen Firma gegenüber der Zeitung Clarín: "Ich sehe hier nicht so viele Polizeibeamte wie vorher in der Innenstadt. Bisher hatten wir hier keine Diebstähle und Einbrüche, trotzdem wäre eine höhere Polizeipräsenz besser".

Es ist denn auch das Thema der Sicherheit, welches meine Spanischlehrerin, die verschiedene Verwandte im Quartier hat, daran zweifeln lässt, dass die Stadtregierung dereinst ihre Entwicklungsziele erreichen wird. Während eines Gesprächs fragte sie mich: "Hast du im neuen Regierungssitz schon Leute arbeiten gesehen? Ich glaube nicht, dass Macri einen einzigen Tag im Parque Patricios arbeiten gehen wird." Um Firmen und Angestellte aus der Mittel- und Oberschicht vom Standort Parque Patricios zu überzeugen, ist das Thema rund um die Sicherheit im Quartier zweifelsohne ein Schlüsselfaktor.

Eine zweite Herausforderung, der sich die Stadtregierung in Zukunft noch stellen muss, ist die Strasseninfrastruktur im Quartier. Zum einen hat sich die Stadt bisher nie über die Grössenordnung der geplanten Entwicklung geäussert und es scheint fast, als wäre es den städtischen Behörden egal, ob in Parque Patricios dereinst 10.000, 50.000 oder sogar 100.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Zurzeit planen sie unbeirrt weiter und bewilligen neue grosse Bauprojekte. Zum anderen werden keine restriktiven Massnahmen ergriffen, um den motorisierten Verkehr im Quartier zu reduzieren. Es ist darum eine Frage der Zeit, bis die Kapazität der Quartierstrassen durch die zu einem hohen Grad motorisiert anreisenden Angestellten ausgeschöpft ist und das strassengebundene Verkehrssystem kollabiert. Dass dies den Charakter und die Lebensqualität im Quartier verändern wird ist gewiss. In erster Linie wird dies jedoch zu Ungunsten der Bewohnerinnen und Bewohner sein.

Wandel bis um 19.00 Uhr

Viele Fragen bleiben: Wie wird sich das Quartier zukünftig verändern? Sind bereits erste Anzeichen eines Wandels sichtbar? Ist ein Wandel positiv oder negativ? Welche Rolle spielt die Stadtregierung? Was wäre eine gerechte Quartierentwicklung aus Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner? Und wem gehört eigentlich das Quartier? Bisher fehlen die richtigen Antworten auf all diese Fragen. Eines ist jedoch sicher und unumgänglich: Der Wandel. Die einzige Konstante in unseren Städten, unserem Quartier und unserem Leben ist der Wandel. Parque Patricios veränderte sich, ist sich am Ändern und wird sich wieder verändern.

"Den Wandel sieht man nur bis um 19.00 Uhr", sagte ein Restaurantbesitzer aus Parque Patricios gegenüber der Zeitung Clarín. "Er hat recht!", schiesst es mir nach dem Fussballspiel durch den Kopf, als ich mit Quique auf der Suche nach einer Bar durch das Quartier schlendere. Das Handy zeigt 20.00 Uhr, das Quartier ist dunkel und still, die meisten Bars sind geschlossen. Auch Leuten begegnen wir kaum noch auf der Strasse. "So sieht ein Technologiedistrikt also nachts aus", denke ich und begebe mich auf den Heimweg. Noch immer begleitet mich die Melodie aus dem Fussballstadion. Zuerst singe ich es zaghaft, dann schreie ich es voller Zynismus in die leeren Strassen: "Dale PROoo y dale, dale PROoo!".