Argentinien / Politik

"Völker hört die Signale ..."

Konservativer Wahlsieg in Argentinien: Auftakt des Niedergangs progressiver Regierungen in Lateinamerika?

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Proteste gegen Maßnahmen der Regierung von Präsident Macri
Proteste gegen Maßnahmen der Regierung von Präsident Macri

Der Wahlerfolg eines liberal-konservativen Politikers in Argentinien kommt trotz des mit 51,4 Prozent knappen Sieges in mehrerer Hinsicht einer "politischen Revolution" (Carlos H. Acuna) gleich. Es ist der erste einen Regierungswechsel auslösende Wahlsieg über eine Linksregierung in Lateinamerika seit 17 Jahren, als Hugo Chávez erstmals die Präsidentschaftswahlen gewann. Es ist zweitens in Argentinien erstmals ein Wahlsieg einer konservativen Partei (oder eines konservativen Parteienbündnisses) mit voller demokratischer Legitimation.

Bislang konnten – seit mehr als hundert Jahren – die Konservativen in Argentinien nur mittels Militärdiktatur oder durch massiven Wahlbetrug (bzw. Ausschluss populistischer Parteien vom Wahlprozess) an die Regierung gelangen. Dies galt bis zum 22. November als "eisernes Gesetz" der argentinischen Politik. Und es ist, ebenfalls seit 100 Jahren, erstmals so, dass weder die Radikale Partei oder deren Nachfolgeformationen noch die Peronisten in ihren verschiedenen Ausprägungen die Wahl für sich entscheiden konnten.

Dieser Einschnitt, der sich in Zukunft möglicherweise als entscheidender Meilenstein auch für Lateinamerika insgesamt erweisen könnte (Stichwort: Neue politische Rechte auf dem Subkontinent), war im Vorfeld der Wahlen nicht scharf genug ins Blickfeld gerückt worden. Der Hinweis darauf, dass die beiden Hauptkandidaten Daniel Scioli von der kirchneristisch-peronistischen Frente para la Victoria (FpV) und Mauricio Macri vom konservativen Parteienbündnis Cambiemos (Lasst uns ändern) nicht nur aus demselben großbürgerlichen Milieu stammen und seit langer Zeit befreundet sind und beide primäre Aktivitäten im Bereich des Sports (der eine als Rennbootfahrer, der andere als Präsident des "proletarischen" Fußballclubs Boca Junior) hinter sich gebracht hatten, sondern auch der Umstand, dass ihre programmatischen Äußerungen über ihre zukünftige Politik ähnlich vage und relativ ähnlich schienen, hat den Blick für die dann doch auch symbolisch hohe Bedeutung dieses Wahlentscheids getrübt.

Denn trotz dieser Ähnlichkeiten im Erscheinungsbild sind die soziale Basis und das Wählerklientel und somit die mit den Kandidaten verbundenen Erwartungen doch recht unterschiedlich gewesen. Während Scioli für die Fortsetzung des Projekts Kirchner stehen sollte (er also einen sozialstaatlich abgefederten Kapitalismus mit "menschlichem Antlitz" vertrat), war Macri klar als der Repräsentant dominanter bürgerlicher Kräfte aufgetreten, die für weitgehende "freie Marktwirtschaft", die Nähe zu den USA, gegen die Aufarbeitung der Vergangenheit und für Distanz zum Mercosur und den Linksregierungen in Lateinamerika einstanden.

Bezüglich der Lösung anstehender Aufgaben und Probleme gaben sich beide Kandidaten ausgesprochen wortkarg; die Kritik an dem Gegenüber war zwar lebhaft, ohne indes eine eigene Linie zukünftiger Politik zu skizzieren, wenn man von allgemeinen Formeln wie "mehr Markt" und "Dialog" einerseits (Macri) und "mehr Gerechtigkeit" und "nationale Souveränität" andererseits (Scioli) absieht.

Gleichwohl verstand Macri seinem Wahlkampf einen bunteren und "modernen" Event- und Party-Anstrich zu verleihen. Er war kaum auf die Vergangenheit gerichtet (Militärdiktatur und Menschenrechte waren kein Thema, ebenso wenig das neoliberale Desaster der 1990er Jahre) sondern auf eine glänzende Zukunft orientiert. So gelang es ihm wohl besser, eine gewisse Aufbruchstimmung, Optimismus und Vertrauen in eine neue Gestaltungskraft zu verbreiten, während der gelegentlich griesgrämig wirkende Scioli außer einem "weiter so", "vielleicht noch besser", wenig Zukunftsgewissheit auszustrahlen vermochte.

Gerade bezüglich der Unterschiede im Auftreten und der Inszenierungsvarianten konnte Macri wohl bei der jungen Generation aus dem unteren und dem arrivierten Teil der Mittelschichten als der "modernere" und "offenere" Kandidat mehr punkten als Scioli. Möglicherweise spielen Vergangenheitsthemen , wie die neoliberalen 1990er Jahre, die durch sie ausgelöste tiefe Krise 2001/2002 und auch die noch weiter zurückliegende Erfahrung mit der Militärdiktatur und deren Folgen eine vergleichsweise geringe Rolle im Bewusstsein der jüngsten Alterskohorten.

Zudem hatte Scioli ein Breitband der Kritik an den negativen Seiten der Kirchner-Ära zu ertragen: Zahlreiche prominente Korruptionsfälle, Nepotismus bei der Ämtervergabe, Manipulation statistischer Daten, gelegentlich arrogantes und ignorantes Auftreten höchster Amtsträger (zum Beispiel bei der Frage nach der Armutsquote im Land), zudem seit mehr als drei Jahren erheblich gewachsene ökonomische Probleme (beträchtliches Inflationstempo, gewaltiges Haushaltsdefizit, gehäufte negative Handelsbilanzen und besorgniserregender Devisenschwund etc.). Gleichzeitig war Macri so geschickt, die Pluspunkte des Kirchnerismus zu würdigen und nicht in Frage zu stellen (allgemeines Kindergeld, Re-Verstaatlichung der Alterssicherung, die Übernahme einiger Unternehmen unter staatlicher Kontrolle, wie zum Beispiel die Fluglinie Aerolineas Argentinas, die nationale Erdölgesellschaft YFP, die deutliche Verbesserung der Bildungs- und Universitätssituation u.a.).

Die geballte Medienmacht der Privatwirtschaft (Clarín, La Nación etc.) und die kirchnerkritischen ausländischen Stimmen hochrangiger "westlicher Politiker" sowie der entsprechenden Wirtschafts- und Finanzrepräsentanten nationaler und internationaler Couleur konnten durch die Präsenz von Ex-Präsident Lula und Evo Morales aus Bolivien in ihrem Werben für Scioli kaum kompensiert werden.

Auch die nicht allzu große Begeisterung der links- und jungperonistischen Basis und Organisationen (zum Beispiel La Campora) dafür, sich für den schwachen und als opportunistisch eingeschätzten Multimillionär in die Bresche zu schlagen und größere Massenmobilisierungen zu organisieren, trug zum desaströsen Wahlausgang bei; noch einige Wochen vor dem ersten Wahlgang gingen viele Beobachter und Umfragen davon aus, dass Scioli über 40 Prozent und einen zehn Prozent Vorsprung erreichen könnte (womit er gewählt gewesen wäre). Der Kirchner-Kandidat für den Gouverneursposten für die Provinz Buenos Aires war sich so siegessicher, dass er von einer "bloßen Form- und Routinesache" sprach. Die wahrscheinlich größte Überraschung war, dass diese jahrzehntelange Hochburg des Peronismus verloren ging.

Der Aufruf der Linksfront der Arbeiter, die bei der ersten Runde der Wahlen auf 3,3 Prozent Stimmen kam und der Spitzenkandidatin der Linksliberalen, die auf 2,2 Prozent kam, für ein "voto blanco" (weißen Stimmzettel), um damit den Protest gegen beide Kandidaten auszudrücken und gleichzeitig eine neue Sammlungsbewegung der Linken anzustoßen, lief völlig ins Leere. Diese ungültigen Stimmen kamen zusammen auf nur 2,4 Prozent in der Stichwahl und blieben damit weit unter den Ergebnissen in der Erstwahl zurück. Damit wurde gleichzeitig der Wahlsieg Macris erleichtert. Bei einer knapp über 80 Prozent liegenden Wahlbeteiligung kann nicht von einer Irrelevanz dieser Wahlen gesprochen werden. Die Einschätzungen der Linken hatten sich offenbar ziemlich weit von den realen Stimmungen entfernt.

Inwieweit Macri seinen auf klaren Kurswechsel abstellenden Diskurs wirklich einlösen kann, steht auf einem anderen Blatt. Denn in der Abgeordnetenkammer hat der Kirchner-Block mit 114 Abgeordneten die einfache Mehrheit (nicht mehr, wie zuvor, die absolute). Das den Präsidenten stellende Rechts-Mitte-Bündnis stellt nunmehr 93 Abgeordnete; auch im Senat verfügt der Kirchner-Block (FpV und Verbündete) mit 38 Sitzen sogar über die absolute Mehrheit. Dem steht gegenüber, dass Macri in den bevölkerungsreichsten und ökonomisch bedeutendsten Provinzen gewonnen hat (neben Buenos Aires-Stadt, Córdoba, Entre Ríos, Santa Fé etc.) und auch bei der Stichwahl in der Provinz Buenos Aires (fast 40 Prozent der Bevölkerung des Landes umfassend) mit knapp 49 Prozent ein sensationelles Ergebnis erreichte.

Es scheint, als ob Macri in seinen außenpolitischen Bestrebungen eher wichtige, neue Akzente setzen kann (und wird) als im innen-, wirtschafts- und sozialpolitischen Feld; wo es möglicherweise zunächst zu ausgehandelten Kompromisslösungen kommen wird.

Wie immer sich realiter die Veränderungen in Argentinien ausprägen werden, eine klare Rechtswendung des Landes ist absehbar, und vom Wahlausgang geht ein deutliches Signal für den drohenden Rückzug der Linksregierungen in Lateinamerika aus. Dass und ob die verbleibenden Linksregierungen aus den vielfältigen Defiziten ihrer Politik vorwärtsgewandte Schlussfolgerungen ziehen können, kann keineswegs als die wahrscheinlichste Fernwirkung dieses "politischen Erdbebens" (The Wall Street Journal Europe vom 24.11.2015) im wichtigsten Land des Südkegels Lateinamerikas angenommen werden.

2. Dezember 2015

Postscript vom 2.1.2016:

Eine Fehleinschätzung, die die Befolgung rechtsstaatlich-demokratischer Regeln durch die neue Regierung voraussetzte, ist nunmehr zu korrigieren: Von einer anfänglichen Zurückhaltung und Aushandlungsprozessen im innen- und sozialpolitischen Bereich kann keine Rede sein. Von den Schalmeienklängen über "Frieden und Liebe", von "Dialog", "Konsens" und dem Aufruf zur "Rückkehr in die argentinische Familie" im Wahlkampf und bei der Amtseinführung ist nun um die Jahreswende, drei Wochen nach der Amtsübergabe wenig übrig geblieben.

Schon ist die Rede von einem staatsstreichähnlichen Vorgehen der Regierung Macri, die die Ferienpause und die Abwesenheit von Abgeordneten und Senatoren dazu nutzt, mit "Notstandsdekreten" zu regieren und diese auf gültige Gesetze, im Amt befindliche Funktionsträger und legale Institutionen auszuweiten und verändernd anzuwenden, was eigentlich nur durch Mehrheitsbeschlüsse der legitimen Instanzen außer Kraft gesetzt werden könnte. Sogar aus den eigenen Reihen des Wahlbündnisses Cambiemos war Kritik daran zu hören, als Macri zwei Richter des Obersten Gerichts berief, ohne die dafür notwendige Zustimmung des Senats (wo er keine Mehrheit hat) abzuwarten.

Das neue Kabinett, das aus hochrangigen Unternehmensführern, Managern, hochkarätigen Bankern und Technokraten (teilweise noch aus der Zeit der Militärdiktatur) besteht, ist schnell an die Arbeit gegangen.

Die Freigabe des Wechselkurses hat zu einer Abwertung des Peso um circa 40 Prozent und zu entsprechenden Preissteigerungen geführt, eine Umverteilung zugunsten der Gewinneinkommensbezieher vor allem im Exportbereich ist in vollem Gange; verstärkt wird diese durch die sofortige Abschaffung bzw. Reduktion der Exportsteuern, die den Sozialhaushalt der Kirchner-Regierungen wesentlich alimentiert hatten.

Die Streichung von Subventionen bei den Tarifen für öffentliche Güter und Dienstleistungen (Wasser, Gas, Elektrizität, öffentliche Verkehrsmittel etc.) hat bereits begonnen. Gehalts- und Weihnachtsgeldkürzungen sowie Stellenabbau bei den Staatsbeschäftigten hat zu Protestbewegungen der Gewerkschaften geführt; ansonsten fehlt es der Gegenwehr noch weitgehend an Breite und Durchschlagskraft, was aber – neben dem Überraschungseffekt – auch auf die Feriensituation zurückzuführen ist.

Das Mediengesetz aus der Ära Cristina Kirchners, das eine der größten Errungenschaften für die Demokratisierung der Medienlandschaft gewesen ist, wird per Dekret von mehreren Seiten außer Kraft gesetzt; der Leiter der staatlichen Medienaufsichtsbehörde wurde per Polizeieinsatz aus seinem Büro geschafft, da er – auf seinen bis Ende 2017 laufenden Vertrag pochend – nicht weichen wollte.

Es scheint, als ob Macri und seine Berater nicht nur die Fibeln des Neoliberalismus genau studiert haben, sondern auch Machiavelli, der bekanntlich den an die Regierung gelangten Fürsten geraten hat, dass mit den ärgsten Grausamkeiten bei den angestrebten Veränderungen möglichst früh und rücksichtslos begonnen werden müsste.

Dieter Boris ist Soziologe und Lateinamerika-Wissenschaftler