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Die Doppelmoral des Westens

Donald Trump ist das letzte Geschenk gewesen, das Fidel vom Westen erhalten hat. Was macht es da schon aus, dass seine Führer sich nun geweigert haben, an den Trauerfeiern teilzunehmen

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Fidel Castro mit einer Ausgabe des US-Wirtschaftsmagazins Forbes vom Mai 2005, wo er unter dem Titel "Könige, Königinnen und Diktatoren" als eine der reichsten Personen der Welt gelistet wird. Forbes hatte kurzerhand sämtlichen kubanischen Staatsbesitz zu Castros Privatvermögen erklärt
Fidel Castro mit einer Ausgabe des US-Wirtschaftsmagazins Forbes vom Mai 2005, wo er unter dem Titel "Könige, Königinnen und Diktatoren" als eine der reichsten Personen der Welt gelistet wird. Forbes hatte kurzerhand sämtlichen kubanischen Staatsbesitz zu Castros Privatvermögen erklärt

Die politische Moral der Führungspersönlichkeiten der Welt zeigte sich nach dem Tod von Fidel Castro schlagartig. Außer dem griechischen Premierminister Alexis Tsipras nahm keiner der westlichen Staats- oder Regierungschefs an den Begräbnisfeierlichkeiten für den kubanischen Revolutionsführer teil. Auch der Mann, der im Kampf mit den westlichen Mächten einen Sieg nach dem anderen errungen hat, der russische Präsident Wladimir Putin, blieb fern.

Die gemeinsame Rhetorik der Europäer bestand darin, zu sagen, dass "Meinungsfreiheit, die Menschenrechte jedes Einzelnen, die Demokratie (...) in Fidel Castros Denken nicht vor(kamen)" – so der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert. Es machte ihnen niemals etwas aus, den Tyrannen des Planeten Samtteppiche auszurollen, damit diese zur Unterzeichnung umfangreicher Verträge zum Kauf von Waffen darüber schreiten konnten.

Kuba war da eine Ausnahme und wird eine solche bleiben. Sei es der französische Präsident François Hollande, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die britische Premierministerin Theresa May oder Barack Obama selbst, der Urheber des Normalisierungsprozesses mit Kuba, keiner von ihnen ist nach Havanna gereist. Das, was sie als "das Erbe" Fidels bezeichnen, ruft bei ihnen eine beispiellose moralische Krise hervor. Nie sah man sie so unumstößlich einig und ethisch angesichts des Ablebens eines Mannes, der für sie die Negation der liberalen Demokratie verkörpert.

Niemals zuvor wurde ihr Gewissen erschüttert, zum Beispiel als sie Verträge mit einigen der arabischen Länder abgeschlossen hatten, die sich im Jahre 2011 während des Arabischen Frühlings erhoben. Sei es mit dem korrupten Tyrannen Zine el-Abidine Ben Ali, der während eines Vierteljahrhunderts Tunesien regierte, mit dem Ägypten Hosni Mubaraks oder dem "neuen" Ägypten der ultrakonservativen Restauration unter dem Unterdrücker (General) Fattah al-Sissi seit 2014, als dieser schließlich die Erben des Tahirplatzes enthauptete und später den Staatsstreich vom 9. Juli 2013 gegen den gewählten Präsidenten und Führer der Muslimbrüder, Mohamed Morsi, unterstützte. Fattah al-Sissi wurde mit den Ehren eines Demokraten empfangen oder mit parodistisch wirkenden Besuchen und Delegationen von Waffenhändlern aufgesucht, die mit diesen Diktaturen millionenschwere Verträge abschlossen: Kriegsschiffe, Kampfflugzeuge, Kommunikationssatelliten, Hubschrauber und Panzer. Ob Airbus Space Systems, Thales Alenia Space, DCNS, Dassault Aviation, HDW, TKMS (ThyssenKrupp Marine Systems) aus Deutschland oder Lockheed Martin aus den USA, diese Saurier der Rüstungsindustrien machen die besten Geschäfte mit den Tyranneien des Planeten. Die Millionen und die Waffen wischen das Blut hinweg, das die Völker vergießen und dienen als Deckmantel des Vergessens.

Bezogen auf Kuba und Fidel haben sie (...) sich gegenüber einem unbezähmbaren Feind, der die Völker jahrzehntelang gegen sie aufgebracht hatte, als wenig großzügig gezeigt. Ihre Mittelmäßigkeit und mangelnde Inspiration sind ein beredtes Abbild der liberalen Demokratien, die sich laut dem französischen Ökonomen Frédéric Lordon in einem Zombie-Stadium befinden, das von ihnen repräsentiert wird.

Die gleiche als Intelligenz verkleidete Kleingeistigkeit haben die Bürger der multidisziplinären Republik von Schreiberlingen an den Tag gelegt: Intellektuelle, Analysten, Schriftsteller, Philosophen, Novellisten, Soziologen, Historiker und Leitartikel-Autoren. Eine ganze Ansammlung von Totengräbern hat sich auf Fidels Leiche gestürzt, um sein Erbe und seine Taten zu beseitigen. Würdige Delegierte des aktuellsten Denkens, des Heiligenscheindenkens, welches nur das sieht, was leuchtet, eine kalte und reduzierende Methodik, die auf erfindungsreichen verbalen Finten beruht, Erben von weiteren Entwicklungen, die unterhalb des reflexiven Nachdenkens liegen: das Denken in Kategorien von MP3, ZIP und RAR, vollkommen komprimiert und weder von Eleganz noch von Anstand geleitet.

Sie sind zu jung, um die Feinheiten und Genauigkeiten der Geschichte zu kennen oder aber zu alt, um noch ein gutes Gedächtnis zu besitzen. Sie haben Fidel auf den Seiten von El País, Le Monde oder des Nouvel Observateur mit einem lächerlichen Leitsatz beerdigt: "Das 20. Jahrhundert liegt endgültig hinter uns", schreibt im Nouvel Observateur Serge Raffy, einer der französischen Biografen Fidels (fast gleich der Schlagzeile von El País in Spanien). Schade nur, es stimmt nicht! Wenn dem so wäre, dann hätte die Menschheit die Kriege; die Ausbeutung; den Hunger, der jährlich Millionen von Leben hinwegrafft; das Elend; die Krankheiten; die Seuchen; die Tyranneien oder die Naturkatastrophen hinter sich gelassen.

Die große Mehrheit der rhetorischen Totengräber kennt – vielleicht abgesehen von seine Stränden – von Kuba nur sehr wenig, hat niemals mit Fidel gesprochen oder sich genügend Zeit auf der Insel aufgehalten, um gebührende Legitimität verbreiten zu können. Sie breiten sich gegen "den grotesken Tyrannen" mit einer moralischen Stärke aus, die nichts anderes bewirkt, als die Schwäche und den Opportunismus bloßzustellen: Wir sehen sie nicht gegen den Völkermord in Aleppo, die russischen, syrischen und westlichen Bombardierungen gegen Bevölkerungen anschreiben, die Tag für Tag langsam dahinsterben.

Kuba und Fidel sind unversehens Projektionsflächen geworden, auf denen es möglich ist, als Lehrer für Ethik und Demokratie aufzutreten, während man die zombieartige Plünderung vergisst, die die liberale Demokratie auf fast dem gesamten Planeten vollzieht. Die unendliche veränderliche Geometrie der Werte und der internationalen Beziehungen wird hier mit schonungsloser Transparenz in Szene gesetzt. Die Toten sind nicht zu verteidigen, die klare Zurschaustellung der Komplexität erfordert eine zu große mentale Anstrengung, eine kleine, geschundene, belagerte und bestrafte Insel wird unversehens zum globalen Gespenst des schlechten Beispiels, und ein Mann, der Millionen von Menschen in der Welt zu Bewusstsein und Handlungsfähigkeit verholfen hat, wird zur Verkörperung des Schlechten, zum Despoten seines Volkes und seiner Träume und Hoffnungen.

Fidel hat viele Gefahren überstanden. Sein Leben erstreckte sich über einen so langen Zeitraum, um das 21. Jahrhundert zu erreichen. Es mag bei seinem Begräbnis weniger Führungspersönlichkeiten geben, als die, die er – sei es als Verbündete oder Gegner – verdient gehabt hätte. Vielleicht mag sein Tod einen Seufzer abschließender Freude nach sich ziehen. Wir wissen es nicht. Wenn dem so gewesen ist, dann wird Fidel den intimsten, fabelhaftesten und spektakulärsten seiner Siege gefeiert haben können, sogar wenn er nicht an der Konfrontation teilgenommen hat: Zeuge zu sein, wie sein übelster Feind, das nordamerikanische Imperium, sich selbst zerstörte, sich selbst herabwürdigte, sich auf solch beschämende Ebenen hinab zu begeben, einen flegelhaften, rassistischen und steuerhinterzieherischen Kerl zum Präsidenten zu wählen. Donald Trump ist das letzte Geschenk gewesen, das Fidel vom Westen erhalten hat. Was macht es da schon aus, dass seine Führer sich nun geweigert haben, am letzten Abschied teilzunehmen. Comandante, das Beste beginnt gerade erst.

Eduardo Febbro ist Korrespondent der argentinischen Tageszeitung Página/12 in Frankreich

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