Der Fall Milagro Sala in Argentinien – ein Beispiel für postfaktische Justiz

Auf der Grundlage eines Staates im Zustand ständiger Verdächtigung wird ein Ausnahmeregime geschmiedet, das sich auf dem Postfaktischen gründet

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Politische Gefangene in Argentinien: Die Tupac Amaru- Aktivistin Milagro Sala
Politische Gefangene in Argentinien: Die Tupac Amaru- Aktivistin Milagro Sala

"Post-Wahrheit", Staat der Verdächtigung, Staatsnotstand

In den nur 15 Monaten, in denen die rechtsgerichtete Parteienallianz "Cambiemos" mit Präsident Mauricio Macri an der Spitze des argentinischen Staates steht, hat sie praktisch ihr neoliberales Regierungsprogramm voll ausgeschöpft. Die Öffnung für Importe, die Auflösung von Rücklagen, die Tarifsteigerungen, die Höchstzinssätze bei Dollargeschäften, die Verschuldung und Kapitalflucht haben die Schließung von Fabriken und den Anstieg der Arbeitslosigkeit, der Armut und Bedürftigkeit zur Folge. Es wäre unmöglich gewesen, einen solchen Wirtschaftsplan ohne eine vorgebliche "Grundwahrheit durchzupeitschen", die als Vorwand dient, das Vorgehen des Staates zu rechtfertigen und ein Bild zu schaffen, das den Weg dafür ebnet. Dazu müssen die Schlagworte vom "schweren Erbe" und "Aufrichtigkeit" herhalten.

Das Postfaktische – die Propaganda des 21. Jahrhunderts

Kürzlich wurde ein neuer Begriff geprägt, der die politische Propaganda charakterisiert und sich auf die Form bezieht, die die Politik nunmehr annimmt: eine ätherische Dimension, in der Tatsachen und die wirklichen Ereignisse wenig bedeuten. Was dagegen vorherrscht, ist die Emotionalität, die von den Meinungen zu den in Frage stehenden Ereignissen ausgeht, und die als die Wahrheit wahrgenommen werden. Es sind die Diskurse, die im Postfaktischen verankert sind.

Wenn die politische Propaganda, so wie wir sie aus dem 20. Jahrhundert kennen, der Versuch war, die Meinungen und das Verhalten der Gesellschaft zu beeinflussen, damit sie sich diese selbst zu Eigen macht, so ist das Postfaktische die Form, in der die Beherrschungsversuche seitens der herrschenden Klassen im 21. Jahrhundert vorgetragen werden. Sie verfügen über wahrhaft riesige Arsenale diskursiver, ideologischer und symbolischer Produktion und setzen sie auch ein. Darauf gründet die Regierung heutzutage ihre Regierungsfähigkeit.

Zynismus ist die Formel, auf der sich dieses Element stützt, das emotionale Effekte auslösen will, statt einer rationalen Überlegung Raum zu geben. Genau wie bei der Nazi-Propaganda setzt sich die Lenkung der Gefühle gegen jegliche rationale Erklärungsversuche durch.

Vom Zustand des Verdachts zum Ausnahmezustand

Es spielt fast keine Rolle, ob die Regierung lügt, oder diejenigen, die heute an der Regierung sind, im Wahlkampf logen. Heute bilden sie den Staat, wurden an der Wahlurne gewählt. Jedoch kann keine Regierung, die sich als demokratisch lobpreist, die Stimme des organisierten Volkes überhören.

Die Regierung von Mauricio Macri hat die Forderungen der Gesellschaft einfach damit ignoriert, dass sie die Kundgebungen (und Streiks) als "anti-demokratisch", "destabilisierend" oder "illegal" abqualifiziert, und jeden, den sie als einen potenziellen politischen Feind der "Wende" betrachtet, verfolgt, stigmatisiert oder ins Gefängnis wirft.

Diese Strategie in der Berichterstattung ist eine der effektivsten Formen, wenn es um Regierbarkeit geht. In der Tat wird das Bild eines mutmaßlich antidemokratischen Verhaltens der landesweiten Massenbewegungen vermittelt, die gegen die Vertreter der Unternehmensfreiheit vorgehen. Um es noch anschaulicher zu machen, greifen sie sogar auf Worte der Opfer zurück: "Sie werfen uns Knüppel zwischen die Beine".

In diesem zweiten Jahr der Oligarchenregierung sind wir Zeugen der Errichtung eines Zustandes der ständigen Verdächtigung, wo die Diskurse für eine angebliche Verteidigung der Demokratie einmal mehr versuchen, uns in einen Ausnahmezustand zu geleiten, um die bürgerlichen Freiheiten und Rechte aufzuheben, damit das Regierungsprogramm ohne jeglichen Widerstand durchgesetzt werden kann. Das ist allerdings nichts Neues in der Geschichte Argentiniens.

Der Fall Milagro Sala steht beispielhaft dafür, wie die Strategie des politischen Feindes mit dem Instrumentarium des Postfaktischen verbunden wird. Die Anführerin aus Jujuy hat bereits über 440 Tage in der Strafjustizanstalt von Alto Comedero in San Salvador de Jujuy verbracht, und zwar aufgrund einer willkürlichen Entscheidung der Provinzjustizbehörden und auf Bitten des Gouverneurs Gerardo Morales, der zu Macris und den Anhängern der Radikalen Partei zählt.

Die Motive, weshalb die Mercosur-Abgeordnete ihrer Freiheit beraubt wurde, spielen keine Rolle. Die Mehrheit der Gründe wurden konstruiert, um die Vertreterin von Túpac Amaru weiter in Haft zu halten. Selbst internationale Institutionen wie die zur OAS gehörende Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) haben von Präsident Macri ihre sofortige Freilassung gefordert. Aber selbst der Oberste Bundesgerichtshof nimmt die Beurteilung der CIDH nicht zur Kenntnis, obwohl ihre Beschlüsse Vorrang vor der argentinischen Verfassung haben.

Milagro Sala bleibt hinter Gittern, und selbst Präsident Macri bemühte das Postfaktische, als er auf einer Pressekonferenz von sich gab, dass "es der Mehrheit der Argentinier scheint, dass es eine Menge wichtiger Vergehen gab, die von Sala begangen wurden".

Unter leichter Abwandlung des berühmten Ausspruchs des irrationalen Philosophen Friedrich Nietzsche könnten wir sagen, dass in diesem Falle "keine Tatsachen existieren, sondern nur Meinungen".

Nicht wenige Quellen beziehen sich auf eine von Gouverneur Morales durchgeführte Umfrage, bei der eine Mehrheit der Befragten die Inhaftierung Salas befürworten, wobei hinsichtlich der Regierbarkeit eindeutig Ansichten geäußert wurden, dass dem Umfrageergebnis größere Bedeutung zukomme als dem eigentlichen Justizvorgang.

Der Erfolg der im Postfaktischen verwurzelten Diskurse beruht auf der Unwahrscheinlichkeit des Dargelegten. Man operiert auf der Grundlage von Vorurteilen, die ebenfalls von den Massenmedien ständig auf- und ausgebaut werden.

Im Fall Milagro Sala vermengt sich die Strategie des Postfaktischen mit den vorgefassten und eingepflanzten Ideen von der Logik des "schweren Erbes" und mit dem Stigma des Frau-seins, dem indigenem Hintergrund und der Peronistin, und das alles in einer konservativen Gesellschaft mit Massenmedien gleicher Ausrichtung.

Es spielt keine Rolle, ob sie die Vergehen begangen hat oder nicht, die ihr vorgeworfen werden. Es reicht, dass viele Leute Macri glauben, wenn er sagt, dass sie inhaftiert bleiben müsse. Damit ignoriert der Staat selbst seine eigenen Gesetze, die die Rechte und Freiheiten derjenigen garantieren, die ihn ausmachen. Auf der Grundlage eines Staates im Zustand ständiger Verdächtigung wird ein Ausnahmeregime geschmiedet, das sich auf dem Postfaktischen gründet, wie er hier analysiert worden ist.

Auf die gleiche Art und Weise, in der gegen Milagro Sala vorgegangen wurde, ist man bereit, gegen jeglichen politischen Feind vorzugehen, der sich der Regierung der oligarchischen Restauration widersetzt. Das argentinische Gewerkschaftsmodell und seine obersten Repräsentanten scheinen das nächste Ziel des Macrismus zu sein. Auch gegen sie werden die Raketen des Postfaktischen abgefeuert. Man muss darauf vorbereitet sein, den nötigen Kampf zu liefern, um zu verhindern, dass der herrschende Block weiter voranschreitet. Und wir machen das nicht (nur) zur Verteidigung der Gewerkschaftsführer, sondern auch zu unserer eigenen.


Am 4. April hat die Generalstaatsanwältin Argentiniens, Alejandra Gils Carbó, in einem Gutachten festgestellt, dass die Inhaftierung von Milagro Sala, der indigenen Anführerin der Basisorganisation "Túpac Amaru" und Abgeordneten des Mercosur-Parlaments schon deshalb illegal ist, weil sie als Parlamentarierin Immunität genießt und deshalb nicht hätte festgenommen werden dürfen. Das Urteil des Obersten Gerichts der Provinz Jujuy sei willkürlich. Sie forderte deswegen die Unwirksamkeit der Festnahme.

Sie sprach sich außerdem gegen die verfügte Untersuchungshaft aus, weil die Justizbehörden der Provinz Jujuy keine Gründe dafür lieferten. Das Gericht habe lediglich Zeugenaussagen berücksichtigt, die sich auf Drohungen und Einschüchterungsversuche bezüglich des Ablaufs der untersuchten Vorgänge bezogen, aber diese enthielten nichts Konkretes hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass die Beschuldigte die Untersuchungen behindern würde.

Milagro Sala befindet sich wegen eines Protestes gegen den Gouverneur von Jujuy und einer angeblichen betrügerischen Verwaltung öffentlicher Gelder seit dem 26. Januar 2016 in Haft. Sala hat die Korruptionsanschuldigungen zurückgewiesen und versichert, keine Gelder aus den Genossenschaften zu besitzen, wie es Gouverneur Gerardo Morales behauptet. "Dem Genossenschaftsverband gehören mehr als 100 Genossenschaften an, und ich stehe keiner von ihnen vor", erklärte sie.

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