Venezuela / Politik

Fragwürdige Opposition in Venezuela

Die Krise in dem südamerikanischen Land kann nur innerhalb des Chavismus gelöst werden

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Seit Anfang April kommt es fast täglich zu Gewaltaktionen kleiner oppositioneller Gruppen gegen die Regierung Maduro, wie hier in Caracas
Seit Anfang April kommt es fast täglich zu Gewaltaktionen kleiner oppositioneller Gruppen gegen die Regierung Maduro, wie hier in Caracas

In den internationalen Medien läuft derzeit ein makaberer Bodycount. Wöchentlich findet man hier Berichte über die steigende Zahl von Toten während der laufenden Proteste gegen die Regierung in Venezuela. Diese Berichterstattung ist problematisch. Zum einen erklärt sie kaum Hintergründe des Konfliktes; zum anderen führt sie in die Irre, denn die Toten gehen mitnichten nur auf die Konten von Regierung und Sicherheitskräften. Sie sind im Wesentlichen das Resultat sozialer Unruhen, die von einer Opposition geschürt werden, die sich mit geradezu psychopathologischem Starrsinn des "Chavismus", des "Bolivarismus" und des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" entledigen will.

Die Krise in Venezuela ist in erster Linie Produkt eines auf Erdölexporte basierenden Wirtschafts- und Haushaltssystems, das durch den Einbruch der Energiepreise auf dem internationalen Markt hart getroffen wurde. Die sozialen Folgen sind auch in anderen erdölexportierenden Staaten der Region zu beobachten. Die Verfehlung der chavistischen Regierungen besteht darin, kaum produzierende Wirtschaft aufgebaut zu haben. Die Illusion einer patriotischen Bourgeoisie teilt sich der Chavismus mit vorherigen linksnationalistischen Projekten wie der von General Juan Francisco Velasco Alvarado (amtierend 1968 bis 1975) in Peru. Ein "Kapital, (das) seine soziale Verantwortung (...) wahrnimmt", wie Velasco Alvarado meinte, gab und gibt es auch in Venezuela nicht. Der Unternehmerverband Fedecamaras war 2002 an einem Putschversuch gegen Hugo Chávez (amtierend 1999 bis 2013) führend beteiligt und positioniert sich auch derzeit klar gegen dessen Nachfolger, Präsident Nicolás Maduro. Deutschland und andere Industriestaaten hatten nie ein Interesse, die Wertschöpfungskette in Venezuela auszubauen oder gar einen Technologietransfer zu befördern. Eine ehrliche Debatte über die wirtschaftspolitischen Chancen des Chavismus hätte tatsächlich viel früher anfangen müssen, nicht erst in der Krise und unter massivem Druck von innen und außen.

In Venezuela aber wird eine Lösung – soll sie nicht noch verheerendere soziale Folgen provozieren – nur innerhalb des bestehenden politischen Regimes möglich sein. Mit Ach und Krach überbrückt die Regierung derzeit die heftigen Versorgungsengpässe mit subventionierten Gütern oder Hilfslieferungen. Die Opposition aber, seit 2008 im Bündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) zusammengeschlossen, hat es in fast zwei Jahrzehnten nicht geschafft, überzeugende wirtschaftspolitische Konzepte zu entwickeln. Auch bei den laufenden Protesten besteht ihr Hauptziel im Sturz der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei. Dabei akzeptieren die Protagonisten der Opposition die Prinzipien einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie nur, wenn sie ihnen zugute kommen. So auch in dem von allen Seiten mit fragwürdigen Mitteln ausgefochtenen Machtkampf zwischen sozialistischer Regierung und oppositionell dominiertem Parlament. Unmittelbar nach Aufnahme der Arbeit versuchte die neue oppositionelle Mehrheit, die Befugnisse des Präsidenten ohne rechtliche Grundlage einzuschränken. Als das Oberste Gericht die Kompetenzen der Nationalversammlung unlängst einschränkte, war die Aufregung groß. Die Entscheidung wurde vom Gericht und anderen führenden Gremien übrigens selbst hinterfragt und schließlich aufgehoben. Der Rechtsstaat funktioniert hier ebenso wie bei den Wahlen, die von den Regierungsgegnern inzwischen boykottiert werden.

So liegt die größte Stärke des Chavismus nach wie vor in der programmatischen, politischen und moralischen Schwäche der Opposition. Das MUD-Bündnis ruft derzeit täglich zu "friedlichen Protesten" auf, die jedes Mal in einer enthemmteren Gewaltorgie enden. Zuletzt wurden Polizisten durch Mörsergranaten verletzt, ein junger Mann wurde – weil die aufgeputschte Menge ihn für einen Chavisten hielt – angezündet. Anhänger der Regierung werden, übrigens auch in Deutschland, bedroht.
Um Venezuela zu verstehen, lohnt sich ein Blick über die Grenzen der Parteipolitik hinaus. Etwa auf die seit Jahren wachsenden Kommunalen Räte, die eine strukturelle Alternative zur repräsentativen Demokratie bieten sollen. Auch dort setzt man sich durchaus kritisch mit der Krise auseinander, allerdings mit einem ganz eigenen Ziel: den Menschen zu helfen, die Versorgung aufrechtzuerhalten und die Folgen der Krise zu mindern. Eine Haltung, die einem Großteil der venezolanischen Opposition von jeher gefehlt hat.

Dieser Beitrag unseres Redaktionsmitarbeiters Harald Neuber erschien zuerst am 31. Mai in der Tageszeitung Neues Deutschland

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