Venezuela / Politik

Das venezolanische Dilemma: Die Progressiven und die "Zum Teufel mit beiden Seiten"-Position

Steve Ellner plädiert für eine "kritischen Unterstützung" der Regierung und des bolivarischen Prozesses in Venezuela

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Beim Versuch, ins Zentrum von Caracas vorzustoßen, greifen Oppositionelle immer wieder die Sicherheitskräfte an
Beim Versuch, ins Zentrum von Caracas vorzustoßen, greifen Oppositionelle immer wieder die Sicherheitskräfte an

In den vergangenen Wochen veröffentlichten mehrere Venezuela-Spezialisten der politischen Linken Texte, mit denen sie eine Anti-Chavisten-Position des "Weder-Noch" (im Spanischen: Ni-Ni) einnehmen, die aus einer Haltung des "Zum Teufel mit beiden Seiten" betreffend Maduro und die venezolanische Opposition besteht. Es ist in der Tat eine harte Politik, was die Chavisten derzeit machen; ihre verfügbaren Optionen sind gering.

Ich betrachte mich selbst als "kritischen Chavisten". Das ist keine einfache Position, denn das letzte, was ich will, ist in irgendeiner Weise so zu handeln, dass es der Rechten nutzt (also der venezolanischen Opposition und ihren Verbündeten im Ausland). Auf der anderen Seite war ich stets (auch publizistisch) in Gegenposition zu Linken, nach deren Meinung US-Linksaktivisten öffentlich keine Kritik an sozialistischen Regierungen äußern sollten. Kritik (auch öffentliche) ist nötig, denn sie ist Teil des Prozesses, Lektionen zu verarbeiten.

Die jüngsten Beiträge, die die Maduro-Regierung scharf angreifen, wurden im Jacobin-Magazin von Gabriel Hetland publiziert, einer von Mike Gonzalez und ein weiterer von Hetland bei Nacla mit der Formulierung “que se vayan todos” (Sie sollen alle abhauen). Und zuletzt brachte Nacla ein Interview mit Alejandro Velasco, das zuerst im Magazin "Nueva Sociedad" veröffentlicht worden war.

Ich kenne einige Leute in Venezuela und Akademiker in den USA und sonstwo, mit denen ich einig über Chávez1 war und bei denen ich jetzt eine vollständige Zurückweisung und sogar Feindseligkeit gegenüber der Regierung Maduro feststelle. Die einzig verbleibende Übereinstimmung ist unsere gemeinsame Verteidigung der venezolanischen Souveränität, und manchmal nicht einmal das.

Welchen Argumenten der "Weder-Noch"-Position stimme ich zu und welche lehne ich ab

Ich stimme zu:

1. "Korruption ist ein sehr ernstes Problem in Venezuela, bei deren Bekämpfung die Regierung nicht entfernt genügend getan hat", trotz einiger schüchterner Versuche (etwa in den letzten sechs Monaten in der Ölindustrie).

2. "Die Regierung hat bestimmte demokratische Prinzipien verletzt: die Entscheidung, Henrique Capriles mit Hinweis auf Korruptionsvorwürfe das Recht auf Teilnahme an Wahlen zu nehmen; und die Verschiebung der Regionalwahlen." NICHT jedoch die Entscheidung, 2016 kein Abwahlreferendum durchzuführen (da die Opposition die nötigen Vorbereitungen selbst nicht geleistet hatte).

3. "Die negative Rolle des Staatsapparats und der chavistischen Elite", mit diesen Worten beginnt Velasco sein Interview. Ich stimme zu, dass Staatsbürokratie und die Chavista-Elite die interne Demokratie in der Bewegung erstickt haben und damit die Mobilisierung schwächten. Ich sehe aber auch, dass dieser Block (die chavistischen Bürokraten) die zentrale Stütze der Macht ist, denn er verfügt über Fähigkeiten zur Organisation und Mobilsierung, die verloren gingen, würde Maduro eine "Revolution innerhalb der Revolution" entfesseln. Jetzt die Chavista-Basis überhastet an die Hebel der Macht zu lassen, hätte unmittelbare desaströse Konsequenzen. So war beispielsweise Chávez' Entscheidung, den "Plan Guayana Socialista" umzusetzen, ein Fehlschlag: In den Staatsunternehmen der Guayana-Region sollten die Arbeiter, die fast 100 Prozent Chavisten waren, ihren Chef (den "Arbeiterpräsidenten") selber bestimmen, stattdessen gingen sie sich gegenseitig an die Gurgel.

4. "Die chavistische Bewegung hat aktive Unterstützer in großer Zahl verloren." Zusätzlich zu den von den "Ni-Nis" genannten Faktoren (Korruption, Unfähigkeit der Regierung etc.) kommt der "Verschleiß" (allgemeine Abnutzung mit der Zeit), der unvermeidlich ist und der per se nichts Negatives über die Chavista-Führung aussagt. 18 Jahre sind eine lange Zeit.

Ich stimmte nicht zu:

1. "Die Maduro-Regierung ist autoritär oder bewegt sich in autoritäre Richtung." Das ist genau der Punkt, den ich bei den "Ni-Nis" am meisten ablehne.

Bei solchen Äußerungen wird nie der Kontext mit einbezogen. Die von der Opposition ausgelösten Gewaltaktionen werden zwar als solche gesehen, wenn auch in ihrer Bedeutung teilweise heruntergespielt (was nicht für Hetlands Jakobin-Text gilt), aber die staatlichen Polizeimaßnahmen werden nicht in Beziehung gesetzt zu den Herausforderungen, mit denen die Sicherheitsbehörden konfrontiert sind.

Um es nur an einem Beispiel zu zeigen: Die komplett regierungsfeindlich eingestellten Medien ermutigen Dreistigkeit und Extremismus seitens der Opposition aus zwei Gründen. Zum einen werden Polizei und Nationalgarde davon abgehalten, entschlossen und ohne zu zögern zu agieren, sie verlieren demzufolge ihre abschreckende Wirkung. Zum zweiten fühlen sich die Protestierenden dadurch bestärkt. Beide Faktoren gehen Hand in Hand. In den USA und jedem anderen Land wären die Medienkonzerne (und einige Alternativmedien) völlig einverstanden mit den Aktionen der Sicherheitskräfte, selbst mit ihren Exzessen, in der Situation von urbaner Lähmung und Gewalt über solch einen langen Zeitraum (es sind dreieinhalb Monate).

Bei einer solch weitgehenden Unterstützung der Opposition durch die lokalen Medien führt der Begriff "autoritär" im übrigen einfach in die Irre. Es stimmt, dass die nationalen Fernsehkanäle (speziell Televen, Venevision und Globovision) der Regierung weniger feindlich gesonnen sind als 2002-2003, aber (mit Ausnahme möglicherweise von Venevision) stehen sie überwiegend zur Opposition. Die wichtigsten Textmedien jedoch, sowohl lokal als auch national, sind ausgesprochen Anti-Regierung. Und im Falle der internationalen Medien kennt die Einseitigkeit keine Grenzen.

Schließlich gibt es berechtigte Kritik am Vorgehen der Chavisten bei der Wahl der verfassunggebenden Versammlung am 30. Juli, aber das macht Venezuela nicht autoritär. In 18 Jahren chavistischer Regierung gab es nie Nachweise für Wahlfälschung. Man vergleiche dies mit der zweifelhaften Legitimität der jüngsten Wahlen im Bundestaat Mexico-City, dort keineswegs ein einmaliger Vorgang.

Der Knackpunkt sind die Regionalwahlen im Dezember dieses Jahres, die abzuhalten die Regierung Maduro verpflichtet ist. Dieser Wettstreit in nur fünf Monaten wird den Grad der Unterstützung des Volkes messen. Und er wird die Probe auf die demokratische Verpflichtung sowohl der Regierung als auch der Opposition sein. Meiner Einschätzung nach würde der radikale Rand der Opposition lieber gewaltsam an die Macht gelangen, um die chavistische Bewegung zu zerschlagen und neoliberale Politik zu oktroyieren – im Stil von "Schocktherapie" – anstatt die Macht durch Wahlen zu gewinnen, wodurch ihre Optionen eingeschränkter wären.

2. "Der Regierung will nicht ernsthaft den Dialog", sagt Velasco, aber dafür gibt es keinerlei Beweis.

3. "Die chavistische Basis hat wenig Grund, die Maduro-Regierung aktiv zu unterstützen und deswegen blieben im Dezember 2015 zwei Millionen von ihnen der Abstimmung fern".

Trotz weitverbreiteter Ernüchterung gibt es für Progressive und populare Schichten viele Gründe, die Maduro-Regierung zu unterstützen: die nationalbetonte Außenpolitik, die Ablehnung neoliberaler Abkommen mit internationalen Finanzinstitutionen, Sozialprogramme mit kommunaler Beteiligung; Nullsummen-Spiel-Politik zugunsten öffentlicher Sektoren (Beispiel: der Schnellbus, für den zwischen Barcelona und Puerto La Cruz eine der beiden Spuren der Hauptstrecke reserviert wurde, auf der nun "Zieharmonikabusse" fahren statt Autos und beide Städte verbinden). Und schließlich hat Maduro (trotz aller Mängel beim Regieren und fehlender notwendiger, mutiger Entscheidungen) sich als Kämpfer erwiesen, der seine Basis überzeugt, dass er nicht aufgeben wird ohne bis zum Letzten zu kämpfen. Auch hat er sich bemüht, seine Basis zu mobilisieren; das diesbezügliche Versagen von Lula und Dilma Rousseff war der Hauptgrund, dass das Impeachment gegen letztere durchging.

4. "Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Venezuelas liegen nicht am niedrigen Ölpreis, sondern an der Inkompetenz der Regierung."

Tatsächlich gibt es drei Ursachen für die wirtschaftlichen Probleme, und alle haben annähernd das gleiche Gewicht: Der niedrige Ölpreis, der Wirtschaftskrieg (mit der öffentlichen Kampagne von Julio Borges 2 gegen multinationale Investitionen in Venezuela ist die Existenz eines Wirtschaftskrieges klarer zu sehen als zuvor) und fehlerhafte Regierungspolitik. Was letzteres betrifft (und hier weiche ich wahrscheinlich etwas von Mark Weisbrot ab), so glaube ich, dass die wirtschaftspolitischen Entscheidungen notwendig und dringlich waren. Es gab aber keine einfachen oder offensichtlichen Optionen und jede getroffene Entscheidung hätte ihren politischen oder wirtschaftlichen Preis gehabt.

5. "Die Unnachgiebigkeit der Regierung hat den Grund, dass die chavistischen Anführer ihre Privilegien nicht verlieren wollen".

Diese Behauptung führt in die Irre, obgleich sie einiges für sich hat. Aber hier wird unterstellt, dass alle Chavista-Anführer Zyniker ohne jeglichen Idealismus sind. Wo bleibt der wissenschaftliche Nachweis dafür?

6. "Die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Diaz vertritt eine neutrale Position, die zu tolerieren die Maduro-Regierung nicht bereit ist."

Tatsächlich hat sie, was immer ihre Motive sind, eine explizite Pro-Oppositionshaltung eingenommen. In einer derart kritischen Situation, in der die Opposition offen auf Anarchie als Mittel zur Absetzung Maduros setzt, macht es Sinn, dass die Chavisten versuchen, sie aus dem Amt zu drängen.

Kurz gesagt bin ich von der Notwendigkeit überzeugt, die venezolanische Regierung zu unterstützen, trotz vielfacher (und unterschiedlich weitgehender) Kritik, die ich habe. Damit plädiere ich keineswegs dafür, Fehler nicht zu diskutieren. Ganz im Gegenteil. Die venezolanische Erfahrung muss aus einem kritischen Blickwinkel analysiert werden, insbesondere angesichts der Plausibilität der Kritik von progressiver Seite und der Vertracktheit vieler der angesprochenen Themen. Aber es gibt eine lange Tradition des Purismus auf linker Seite, die der "kritischen Unterstützung", für die ich eintrete, zuwiderläuft.

(Der Text wurde zuerst in der englischen Ausgabe von Telesur veröffentlicht und für Venezuelanalysis angepasst und erweitert)

Steve Ellner lehrt seit 1977 an der Universidad de Oriente in Venezuela Wirtschaftsgeschichte und Politikwissenschaft und ist Autor vieler Bücher über die venezolanische Politik

  • 1. Hugo Chávez (1954 – 2013) war von 1999 bis zu seinem Tod Präsident von Venezuela
  • 2. Julio Borges, Vorsitzender der rechtspopulistischen Partei Primero Justicia, wurde von der Oppositionsmehrheit als Parlamemtspräsident eingesetzt
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