Venezuela / Politik

Venezuela: Die verfassunggebende Versammlung und die Basis

Die Unkenntnis in den Gemeinden über die ANC ist groß, das Gefühl der Distanz zu dieser neuen Macht ebenso

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Mitglieder von Venezuelas Verfassungskonvent trafen sich zu Diskussionen mit Basisvertretern
Mitglieder von Venezuelas Verfassungskonvent trafen sich zu Diskussionen mit Basisvertretern

Die Nationale Verfassunggebende Versammlung (Asamblea Nacional Constituyente, ANC) wurde vor über einem Monat eingesetzt. Die politische Dynamik des Konflikts in Venezuela hat sich von diesem Zeitpunkt an geändert, das Land ist an der Oberfläche nicht mehr, was es vor einigen Monaten war: Der Aufstand der Rechten hat sich von den Straßen entfernt. Eines der zentralen Ziele der ANC wurde erreicht, nämlich die Rückkehr des politischen Streits in den Rahmen der Demokratie, zumindest für den Moment – verdeckt sind weiterhin gewalttätige Bewegungen im Gange.

Mit diesem neuen Kräftegleichgewicht wurde eine neue Initiative gestartet: ein Teil der ANC-Mitglieder ist erstmals im Land unterwegs. Die Zusammenkünfte, die das Rückgrat des Verfassungsprozesses sein sollen, fanden zwischen Freitag und Sonntag statt. Es gab mehrere Versammlungen im ganzen, die meisten in Barrios und im Landesinneren, einige mit Behördenleitern – zum Beispiel Bürgermeistern – und andere nur mit der Gemeinde.

Hier sind die Diskussionen von fünf Orten zusammengetragen worden: von der Zuckerproduktionsstätte Ezequiel Zamora, dem Hugo Chávez-Platz in Sabaneta, dem Agrarbetrieb Centro Genético Florentino, dem Hof eines Hauses in Barinitas und in einer Schule in El Cobre. Vier im Teilstaat Barinas und einer in Táchira, mit Arbeitern, landwirtschaftlichen Produzenten, Gemeindemitgliedern, Nachbarn und ANC-Mitgliedern. Aus dem Gehörten lässt sich sagen, dass es drei Hauptachsen/Bedürfnisse gibt, die von den beteiligten Basisgruppen vorgebracht werden: Produktion, Korruption und Gerechtigkeit.

Die Produktion

Der Satz wird seit Jahren wiederholt: Wir müssen mehr produzieren und weniger vom Erdöl abhängig sein. Dies wurde auch in jeder Versammlung gesagt, wo konkrete Produktionspläne vorgelegt wurden, sowohl für staatliche als auch für soziale und kommunale Betriebe – es gibt 137 Kommunen1 in Barinas, 75 in Táchira, fast alle mit produktiver Entwicklung. Der Vorschlag war klar, die historische Stunde fordert eine Erhöhung der Produktion, der Kapazität für den Inlandsverbrauch und des Exports. Diejenigen, die den Reichtum produzieren – Arbeiter, Produzenten, Gemeindemitglieder – zeigten ihre Bereitschaft, Antworten auf die Bedürfnisse des Landes zu schaffen.

Dabei wurde auch eine Diagnose der staatlichen Unternehmen vorgelegt: Sie funktionieren nicht so, wie sie sollten, sie produzieren weniger als sie könnten, sie sind nicht das Projekt, das ursprünglich geplant war. Dies stellt eine schwere Einschränkung dar in einer Ökonomie mit drei Arten von Eigentum – privat, staatlich, sozial/kommunal – , die zugleich mit einem kriegerischen Angriff konfrontiert ist, bei dem der Staat eine zentrale Rolle übernehmen muss.

Die Korruption

Alle Debatten über die Produktion hingen zusammen mit der Notwendigkeit, die Korruption zu bestrafen. Das Problem wurde in zwei Schlüsselbereichen festgestellt: Staat und Privatsektor. Der Schwerpunkt wurde auf den ersten gelegt, vor allem auf zwei Aspekte. Einer von ihnen ist die Schwierigkeit sozialer/kommunaler Initiativen oder der staatlichen Unternehmen selbst, Antworten zu erhalten, wenn sie Anfragen an den Staat stellen, seien es Institutionen oder Unternehmen. Der andere Aspekt war die schlechte Handhabung der Ressourcen in staatlichen Unternehmen, was beispielsweise zu einer Umleitung der Betriebsmittel für die landwirtschaftliche Produktion führt, bei der staatliche Unternehmen selbst an Schwarzmarktnetzwerke weiterverkaufen, die dann wiederum zu Preisen verkaufen, die für die Produzenten unerschwinglich sind.

In jedem einzelnen der Fälle ist die Schlussfolgerung klar: die Korruption muss angegriffen werden. Dies ist ein Problem, das die Wirtschaft seit Jahren belastet, Projekte in eine Krise stürzt, die Entwicklung des nationalen produktiven Modells verhindert. Wie soll ohne Bestrafung die Produktion reaktiviert werden? Wie können wir neue Initiativen zum Erfolg führen, damit sie nicht wie viele vorherige enden?

Die Gerechtigkeit

Die Notwendigkeit, Gerechtigkeit zu schaffen, stellt sich sowohl gegenüber den Korrupten als auch gegenüber denjenigen, die eine führende Rolle bei der Eskalation der Gewalt von April bis Juli dieses Jahres spielten und sie anführten, welche das Leben von mehr als 100 Menschen kostete und die Formen der Kriminalität verschärfte. Diese Forderung nach Gerechtigkeit war besonders in den Versammlungen in den Dörfern präsent, die während dieser Tage belagert wurden, wie Barinitas und El Cobre. Im ersten Fall war die Bevölkerung vor allem mit Gruppen konfrontiert, die von außen herangebracht wurden, um Zerstörungen anzurichten. Es gibt Beweise: das Bürgermeisteramt und die Polizeiwache mit Brand- und Zerstörungsspuren, die Läden, die noch nicht wieder geöffnet wurden, der durch einen Schuss getötete Arbeiter. Im zweiten Fall kombinierte der Plan das Eindringen von Stoßtrupps – mit Sicherheit Paramilitärs – und die Aktion oppositioneller Bewohner, die Angriffe gegen die Chavista-Nachbarn und die Wahlzentren inszenierten, um zu versuchen, die Wahlen am 30. Juli zu verhindern.

In diesen Dörfern ist Gerechtigkeit notwendig, eine Gerechtigkeit, die nicht nur die nationalen Führer der Kräfte betrifft, die die Eskalation geleitet haben – wie Voluntad Popular – , sondern auch lokal, vielschichtig, dort wo "gute Nachbarn" zu potentiellen Attentätern wurden und bewaffnete Gruppen militärische Pläne einübten.

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Die ANC-Vertreter trafen auf eine Fülle von Forderungen. Ihre Aufgabe ist es, eine Synthese des Gehörten zu machen und sie in die verfassunggebende Versammlung und ihre jeweiligen Arbeitsausschüsse einzubringen – es gibt 22 Kommissionen, jede mit einer anderen thematischen Achse –, um eine Verfassungs-Architektur der repräsentativen und partizipativen Demokratie auszuüben, die sich innerhalb und außerhalb des Verfassungskonvents entwickelt.

Die Notwendigkeit für diese Versammlungen war offensichtlich. Die Unkenntnis in den Gemeinden über die ANC ist groß, das Gefühl der Distanz zu dieser neuen Macht ebenso: Während die verfassunggebende Versammlung politische Ankündigungen macht und nur eine bestimmte Gruppe von Personen spricht, verschlechtert sich die wirtschaftliche Realität Tag für Tag. Oftmals ist die Sprache der ANC von der Sprache der gewöhnlichen Menschen entfernt, und diese Treffen von Angesicht zu Angesicht sind eine der Möglichkeiten, die Entfernung zu verkürzen, so dass die Gemeinden sich diese Instanz, für die sie gestimmt haben, mit der Erwartung aneignen können, Antworten auf ihre Probleme zu finden.

Es gibt nicht den einen Schlüssel, um die Dringlichkeiten und die strategischen Bedürfnisse zu lösen. Die Ursachen der Situation sind wirtschaftliche und politische, sowohl internationale als auch nationale, und dies im Rahmen eines finalen Sturmangriffs der von den USA geführt wird. Innerhalb dieser Komplexität, in der die ANC konkrete Maßnahmen ergreifen muss, können Mechanismen aufgebaut werden, um einen Protagonismus des Volkes in Gang zu setzen.

Es ist notwendig, es in seiner immensen Dimension zu bewerten: die Menschen sind bereit, standzuhalten, mehr zu tun, auch angesichts der steigenden Preise, der Korruption, die sie direkt betrifft in ihren Erfahrungen in der Produktion, angesichts der Tage der Gewalt, die von den Rechten angeführt wurden und Traumata und kollektive Konfrontationen hinterlassen haben.

In dem Zusammentreffen dieser beiden Instanzen – Volk und ANC – liegt eine der Antworten, wie wir die Tage meistern können, mit denen wir konfrontiert sind. Tage, die an der Oberfläche ruhiger scheinen. Unter der Oberfläche jedoch nicht: die bolivarische Erfahrung soll auf allen Ebenen beendet werden. Wir leben im Krieg.

  • 1. Die Kommunen (Comunas) in Venezuela sind Zusammenschlüsse mehrerer Kommunaler Räte (Consejos Comunales) auf lokaler Ebene. Diese Räte sind eine Struktur der Selbstverwaltung in den Gemeinden. Gewählte Nachbarschaftsvertreter sind zur Planung und Haushaltsgestaltung in lokalpolitischen Angelegenheiten berechtigt. Sie sind seit 2006 gesetzlich verankert, haben Verfassungsrang und sollen die Grundlage für den Kommunalen Staat bilden. Ziel ist die Selbstregierung des Volkes und die Überwindung des bürgerlichen Staates. In den vergangenen zehn Jahren wurden mindestens 46.000 Kommunale Räte gebildet, im Januar 2017 existierten 1.700 Kommunen