"Chile ist beim Kampf gegen Gewalt gegen Frauen im Rückstand"

Lorena Astudillo, Sprecherin des Netzwerks gegen Gewalt gegen Frauen, zieht im Gespräch mit Amerika 21 Bilanz der Amtszeit von Michelle Bachelet

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Die Interviewpartnerin Lorena Astudillo in Chile ist Sprecherin eines 300 Organisationen umfassenden Netzwerks
Die Interviewpartnerin Lorena Astudillo in Chile ist Sprecherin eines 300 Organisationen umfassenden Netzwerks

Lorena Astudillo, Sie sind Sprecherin des mehr als 300 Organisationen umfassenden Netzwerks Red Chilena Contra la Violencia hacia las Mujeres, wie bewerten Sie die Situation in Bezug auf Gewalt gegen Frauen in Chile im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas?

Wir sind in Chile spät dran mit konkreten Gesetzen. So hat Chile immer noch kein vollständiges Gesetz zur Gewalt gegen Frauen. Das Problem wird in diesem Land noch nicht verstanden, es wird auf die Beziehungen innerhalb der Familien reduziert. Andere Länder sind weiter, so hat Argentinien ein Gesetz zur Gewalt gegen Frauen, Bolivien und Peru ebenfalls. Damit will ich nicht sagen, dass ein Gesetz die Probleme lösen würde. Das wäre sicher nicht der Fall, aber es kommt darauf an zu erkennen, dass Gewalt gegen Frauen existiert. In anderen Ländern hat die Öffentlichkeit dies erkannt, in Chile noch nicht.

Der Femizid wurde in Chile 2010 in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Hat das etwas verändert?

Ja, aber dieses Gesetz hat viele Schwachstellen. Nur wenn die Beteiligten unter einem Dach leben oder ein gemeinsames Kind haben, wird der Mord an einer Frau in Chile als Femizid bezeichnet. Bei Femizid geht es aber um mehr. Es geht um Morde, bei denen Unterdrückung und Missachtung des Lebens der Frauen entscheidend sind, nicht nur um die persönlichen Beziehungen.

Wird das in anderen lateinamerikanischen Ländern erkannt?

Sowohl in Argentinien als auch in Mexiko umfasst die Definition des Femizids mehr als einen Mord an Frauen innerhalb einer Beziehung. So hat in Mexiko Marcela Lagarde das Konzept des Femizids als Verantwortlichkeit des Staates entwickelt, der das Leben der Frauen nicht ausreichend schützt. Hintergrund waren die unzähligen Morde an Frauen in der Grenzstadt Ciudad de Juarez.

Warum ist Chile in diesen Punkten weniger weit als andere Länder?

Chile ist immer noch ein sehr konservatives Land. Wir sind ein laizistisches Land, wirtschaftlich liberal, aber in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen gibt es doppelte Standards und es fehlt an politischen Initiativen. Das zeigt sich zum Beispiel bei der Debatte um Abtreibung. Viele Parlamentarier waren nicht damit einverstanden, dass vergewaltigte Frauen abtreiben können. Es gibt mehr Anzeigen von Vergewaltigungen als früher. Junge Frauen zeigen Lehrer an, oder selbst Polizisten. Es gab Anzeigen von Frauen aus der Marine gegen Soldaten, die auf Schulschiffen Kameras installiert hatten, um sie auszuspionieren und die Bilder zu teilen. Es bewegt sich gesellschaftlich etwas, aber das verändert die Politik noch nicht.

Hat sich das unter Präsidentin Michelle Bachelet geändert?

Die Tatsache, dass wir eine Präsidentin haben, hat die Wahrnehmung verändert. Wir hatten vorher keine Heldinnen, keine Präsidentinnen, wir waren als Frauen kaum sichtbar. Nun sind kleine Mädchen zu sehen, die Fähnchen mit der Aufschrift "Wir wollen Präsidentin sein" schwenken. Das löst natürlich einen enormen Wandel aus.

Gab es konkrete Fortschritte während ihrer Amtszeit?

Die erste Amtszeit von Bachelet war stark geprägt von Politik zu Frauenrechten. Allerdings wurde an einzelnen Punkten angesetzt ohne die Struktur der Unterdrückung zu realisieren. Der Machismo hat sich dann neu erfunden. So wird Michelle Bachelet international als eine der mächtigsten Frauen der Welt betrachtet, in Chile nennt man sie aber "die Mami". Die Opposition bezeichnet sie sogar als "die Dicke". Ihr Mut und die Fähigkeit dieses Land zu führen, ihre Lernfähigkeit in der Führungsposition, ihre andere Art zu regieren werden nicht gewürdigt.

Wie hat sich Bachelets Präsidentschaft in Gesetzen niedergeschlagen?

Bachelet hat ein Gleichstellungsministerium eingeführt. Zu Beginn war alleine die Tatsache relevant, dass eine Frau Präsidentin ist. Das hat aber schnell nachgelassen, ebenso wie bei Dilma Rousseff in Brasilien und bei Cristina Kirchner in Argentinien. Ich glaube, diese Frauen wurden als weibliche Figuren benutzt, um das Image der Politik zu verbessern. Sie wurden gewählt und dann zerstört. Das ist in Brasilien und Argentinien geschehen und geschieht jetzt auch hier in Chile. Sie wurden aufgrund ihres Aussehens despektierlich behandelt, man hat ihnen vorgeworfen, dass sie einsam, verlassen seien. Die Veränderungen, die Frauen zugute kommen sollten, dienen nur den männlichen Politikern.

Woran machen Sie das fest?

Zum Beispiel daran, dass Frauen per Gesetz auf den Wahllisten stehen müssen, dafür gibt es auch Geld. Heute stehen auf den Wahllisten Frauen, die keinerlei Aussicht darauf haben, gewählt zu werden, da sie niemand kennt. Die Parteien kassieren das Geld, es werden aber die gewählt, die immer gewählt wurden.

Sind Sie denn von den Präsidentinnen der lateinamerikanischen Staaten enttäuscht?

Von den Präsidentinnen bin ich nicht enttäuscht. Sie sind mutig, haben professionelle Arbeit geleistet. Ich bin enttäuscht von den politischen Strukturen, den politischen Parteien, und von dem Bild von Weiblichkeit, das Politiker aufs Neue für ihre Zwecke benutzt haben. Vielleicht haben wir uns ein bisschen schwer damit getan zu erkennen, dass diese Politik in den gleichen Strukturen stattfindet.

Gab es bei den Wahlprogrammen signifikante Unterschiede beim Thema Frauenrechte?

Beatriz Sánchez war ein bißchen näher an den Forderungen der Frauen. Sie spricht von der gemeinsamen Verantwortung in der Erziehung, von ungleichen Löhnen, von der Kontinuität der Gewalt, davon, dass es um strukturelle Gewalt geht. Es ist auch wichtig, wie die Kandidatinnen und Kandidaten ideologisch zur Gewalt gegen Frauen stehen. Beatriz Sanchez erkennt den Unterschied zwischen struktureller Gewalt und der Verharmlosung der Gewalt als Einzelfälle. Sie hat ja auch erklärt, dass ihre Regierung die erste feministische Regierung sein wird. Innerhalb der Linken ist Alejandro Guillier der traditionellste und wird den Weg der bisherigen linken Regierungen fortsetzen. Er steht für eine Linke, oder vielmehr für das, was wir in diesem Land als Linke verstehen. Ich weiß aber gar nicht, ob es sich dabei wirklich um Linke handelt.

Vielen Dank für das Gespräch.