Mexiko: Zum 50. Jahrestag des Massakers von Tlatelolco

Interview mit dem mexikanischen Autor Antonio Ortuño

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Gedenkstein zum Massaker von Tlatelolco, Plaza de las Tres Culturas, Mexico-Stadt
Gedenkstein zum Massaker von Tlatelolco, Plaza de las Tres Culturas, Mexico-Stadt

Vor 50 Jahren wurde während der Studentenproteste am 2. Oktober 1968 in Mexiko-Stadt ein Massaker begangen, dessen genaue Ausmaße bis heute unerforscht sind. In der mexikanischen Öffentlichkeit, vor allem seitens der Politiker, wird das Thema totgeschwiegen. Isabella Caldart sprach mit dem Autor Antonio Ortuño (Die Verbrannten)

Berlin, Paris, Prag, San Francisco – 1968 gingen in zahlreichen Metropolen die Menschen auf die Straße. Wie sah das in Mexiko-Stadt aus?

In Mexiko kamen zwei Dinge zusammen: Zum einen der Geist der Epoche. Die junge, vor allem studentische Generation, die nicht mit dem Zustand der Gesellschaft und noch weniger mit der autoritären, monolithischen Regierung zufrieden war. Zum anderen protestierte man gegen die Olympischen Spiele, die für Oktober geplant waren und für die sehr viel Geld in die Hand genommen wurde. Die Spiele wiederum beflügelten den Nationalstolz der Regierung. Diese befürchtete, die Demonstrierenden könnten vor den Augen der Welt ihr Prestigeprojekt torpedieren. Davon abgesehen gab es auch Aufstände in vielen anderen Bereichen: Lehrer, Bauern, Ärzte gingen auf die Straßen. Ihnen ging es um soziale Gerechtigkeit und eine Demokratisierung des Lebens in Mexiko. Der Kongress beispielsweise bestand nur aus Politikern der ewigen Regierungspartei PRI.

Diese Demonstrationen, vor allem die Studentenbewegung, führten zum 2. Oktober 1968. Was genau geschah damals?

Es gibt viele Versionen dessen, was passiert ist. Auf dem Plaza de las Tres Culturas im Viertel Tlatelolco in Mexiko-Stadt demonstrierten wieder Tausende von Menschen, generell hatte die Bewegung zu dem Zeitpunkt bereits an Kraft verloren. Die Regierung wollte sie aber definitiv niederschlagen und hatte aus diesem Grund eine paramilitärische Einheit namens Batallón Olimpia gegründet, die die Studenten infiltrierte und ausspionierte. Man weiß, dass diese Gruppe wie auch Soldaten in die Demonstration schossen, auf den Gebäuden waren Heckenschützen positioniert und ich persönlich vermute stark, dass sich Agents provocateurs unter die Demonstrierenden gemischt hatten, um deren Gewaltbereitschaft zu beweisen.

Die Angaben über die Toten dieses Massakers variieren von wenigen 20 bis hin zu einer vierstelligen Zahl.

Wahrscheinlich liegt die Wahrheit dazwischen, aber da nie eine Kommission gebildet wurde, um die Ereignisse aufzuarbeiten, weiß man das bis heute nicht. Ich glaube nicht, dass es im Sinn der Regierung war, willkürlich so viele Menschen umzubringen. Es gab eine Einheit mit dem Anliegen, die Demonstrationen zu stoppen – und das ist sehr, sehr schief gelaufen. Meine eigenen Eltern lebten damals in Tlatelolco, sie hatten eine Wohnung direkt am Tres Culturas.

Wie haben sie den Tag erlebt?

Beide waren zu dem Zeitpunkt in Guadalajara, weil sie kurz vor dem Umzug standen. Als sie zurückkamen, um die Wohnung auszuräumen, war diese übersät mit Patronenhülsen, viele davon auch im Kinderzimmer, in der die Wiege meiner Schwester stand. Unter den Nachbarn hatte es viele Tote und Verhaftete gegeben. Das Massaker war für die Anwohner nicht nur traumatisch, sondern war auch wirtschaftlich ein Desaster, die zuvor eher reiche Gegend war ab sofort gebrandmarkt, keiner wollte dort wohnen und somit begann ein rapider sozialer Abstieg des Viertels, der bis heute nicht aufgefangen werden konnte.

Wie sahen die Reaktionen auf das Massaker von Tlatelolco aus?

Für die Regierung war das lange Zeit etwas, das nie geschehen ist, bis heute gab es kein Eingeständnis der Schuld und mir ist nicht bekannt, dass anlässlich des 50. Jahrestags irgendein offizieller Gedenkakt geplant wäre. Es wurde sogar immer wieder diskutiert, ob das Ereignis überhaupt in die Geschichtsbücher aufgenommen werden sollte. Zunächst erstarkte dadurch die Linke, viele Menschen radikalisierten sich, aber mit der Zeit geriet Tlatelolco ein wenig in Vergessenheit. Viele der ehemaligen 68er integrierten sich in das System, nicht wenige traten der PRI bei.

Ist das Massaker in das kollektive Gedächtnis eingegangen?

Die mexikanische Gesellschaft gleicht einem riesigen Mosaik, und Leute aus Monterrey oder Guadalajara interessieren sich nicht unbedingt für etwas, das so weit entfernt geschehen ist. Nicht wenige Mexikaner sahen das als eine von vielen Repressionen an, die man damals erlebte. Als im September 2014 die 43 Studenten verschwanden, wurden aber viele schmerzlich daran erinnert.

Inwiefern?

Tlatelolco ist ein Symbol für das Versagen der mexikanischen Regierung. Das Entsetzen, das viele aufgrund des Massakers empfanden, ähnelte dem, als die Studenten entführt wurden. Auch in dem Fall waren junge, normale Menschen, die mit dem organisierten Verbrechen nichts zu tun hatten. Deswegen bauten viele in der Gesellschaft eine Art affektive Bindung zu den 43. Und wie damals wäscht die Regierung ihre Hände in Unschuld, einige Politiker haben die Studenten sogar für ihr eigenes Verschwinden beschuldigt.

Deine Romane, allen voran Die Verbrannten, handeln von der Gewalt.

Ich schreibe nicht immer über diese Themen, aber oft, weil es etwas ist, von dem ich täglich höre, was ich auch selbst erlebe und sehe. Viele Menschen in Mexiko sind allerdings dagegen, die Gewalt zu thematisieren. Unter den wenigen, die Bücher lesen, sind historische Romane, die Telenovelas ähneln, populär. Man kann aber nicht so tun, als würde es diese immense Gewalt nicht geben. Und da halte ich es für obsolet, über "guten Geschmack" zu streiten.

Hast du keine Angst, wenn du über diese Themen schreibst?

Es ist traurig, das zu sagen, aber wir Mexikaner sind kein Volk, in dem sonderlich viel Literatur gelesen wird, auch in der gebildeten Schicht nicht. Journalismus hat Einfluss, Romane kaum. Soll heißen: Wenn du nicht gerade über den Narco deines Viertels schreibst und ihn beim Namen nennst, wird auch keiner unruhig. Große, etablierte Autoren haben natürlich schon Gewicht – aber nur das von ihnen, was in der Zeitung steht und nicht das, was sie in ihren Romanen schreiben.

Schreibst du hier in Berlin auch über Mexiko?

Ich wohne seit Mitte Juli in der Stadt und habe erstmal ein wenig gebraucht, um mich einzugewöhnen. Ich habe aber kurz bevor meine Frau, meine zwei Töchter, die Hunde und ich hierhergezogen sind, mein neues Manuskript abgeliefert. Der Roman erscheint voraussichtlich im März, und das zeitgleich auf Spanisch und Deutsch.

Kannst du schon verraten, worum es geht?

Der Roman spielt in Guadalajara. Die Stadt wird von einigen in falschem Stolz das "Dubai Mexikos" genannt, da es dort so viele Hochhäuser gibt. Die wurden allerdings von den Narcos gebaut und stehen größtenteils leer, weil die Wohnungen unglaublich teuer sind. Darum geht es, grob gesagt, im neuen Roman: um die Geldwäsche in Guadalajara.