Staatliche Repression gegen studentische Mobilisierung in Kolumbien

Universitäten chronisch unterfinanziert. Polizei reagiert mit Gewalt und Schikanen. Medien konterkarieren Protest. Ein Bericht aus dem Geschehen

Protest Studenten UNAL Bogotá.jpg

Studierendenprotest an der UNAL in Bogotá
Die Studierenden fordern unter anderem von der Regierung, die Finanzierung der Universitäten drastisch zu verbessern

Seit rund zwei Monaten mobilisieren sich in Kolumbien nun wiederholt tausende Studierende öffentlicher Universitäten und höherer Bildungseinrichtungen, um gegen die Politik der neuen Regierung unter Präsident Iván Duque zu protestieren. Aktuell sind die öffentlichen höheren Bildungseinrichtungen des Landes aufgrund fehlender Finanzierung in der Krise und die Studierenden und Professoren nun seit vier Wochen im Streik, um das Recht auf öffentliche, kostenfreie und qualitativ hochwertige Bildung einzufordern.

Ein Auslandssemester zu absolvieren bedeutet nicht nur an einer anderen Universität Kurse zu belegen, sondern auch das Leben, die Realität und Probleme anderer Studierenden kennenzulernen und zu teilen. Studierende in Kolumbien zu sein bedeutet sich in einem stetigen Kampf um die eigene Ausbildung zu befinden. Studierende öffentlicher Universitäten, die die Aufnahmeprüfungen gemeistert haben, müssen dennoch für jedes Semester je nach "sozialem Milieu" (estráto, ein System der Klassifizierung sozialer Klassen in Kolumbien) zwischen 100.000 und 1.000.000 Pesos (etwa 28 bis 280 Euro) aufbringen. Bei einem Mindestlohn von 3.255/Stunde (gut 90 Cent) ist die öffentliche Universität für viele die einzige Chance auf eine  bezahlbare höhere Ausbildung und das Geld erarbeitet sich die meisten in den Semesterferien oder während des Semesters. Den Streik unterstützt der Großteil der Studierenden, obwohl sie dadurch Gefahr laufen das Semester und die Semesterferien zu verlieren und damit ebenfalls die Immatrikulationsgebühr für das Semester und die Möglichkeit die freie Zeit zum Arbeiten zu nutzen. Der Wille dies zu riskieren zeigt die Dringlichkeit der Situation.

Aber worum geht es, wenn von der Krise der Finanzierung gesprochen wird? Mit der neuen Regierung von Präsident Duque wurde auch ein neuer Haushaltsplan für 2019 verabschiedet. In den Bildungssektor wird – im Gegensatz zur Verteidigung – leider nicht genug investiert und die öffentlichen Bildungsinstitutionen laufen Gefahr, ab dem kommenden Jahr kein Geld mehr für Instandhaltung, Lehrangebot, Lehrpersonal etc. zu haben und in Zukunft eventuell zwangsweise in Teilen privatisiert zu werden. Denn während die Zahl der eingeschriebenen Studierenden an den öffentlichen Universitäten seit 1993 von 159.218 auf mittlerweile 576.393 stetig anstieg, veränderten sich die jährlich zu Verfügung stehenden Gelder nur geringfügig - von 1,72 auf 2,93 Milliarden Pesos.

Um das aktuelle Semester beenden zu können benötigen die Universitäten daher umgehend Gelder, nämlich 500 Milliarden Pesos, sowie für das Funktionieren in den kommenden Jahren eine Erhöhung des Budgets um 3,5 - 4,5 Milliarden Pesos. Summen, die die Regierung nicht bereit ist zur Verfügung zu stellen. Hier ist lediglich von den unmittelbaren Forderungen die Rede. Darüber hinaus fordern die Studierenden eine Neuverhandlung der bestehenden Schulden beim ICETEX, einem staatlichen Organ, welches Studienkredite vergibt, ähnlich dem deutschen BAföG.

Die Mobilisierung, das heißt Streik, Demonstrationen, öffentliche Events, Unterricht auf den Straßen und viele weitere kreative Aktionen, um auf die prekäre Situation aufmerksam zu machen, ist einer der effektivsten Mechanismen der Bürgerbeteiligung.

Als Studierende der Universidad Nacional de Colombia habe auch ich an den zahlreichen Demonstrationen teilgenommen und war jedes Mal erfreut über den friedlichen und kreativen Protest. Dies änderte sich am vergangenen Donnerstag während einer weiteren Demonstration. Anstatt die Studierenden zu schützen und ihnen Raum für friedlichen Protest zu geben, reagierte die Regierung auf die Demonstration mit Gewalt und Repression durch die Polizei.

Nach einer Demonstration vom Campus aus in Richtung Norden von Bogotá und vielerlei künstlerischen Darbietungen kamen die Studierenden auf der Calle 100 an und verweilten dort mit Gesängen, einer Präsentation von Vertikalseil-Artisten und der Zurschaustellung eines bunten Drachens, der von Kunststudenten angefertigt wurde. Nach nicht einmal zehn Minuten waren die Detonationen von Schockgranaten und Tränengasbomben zu hören. Die Spezialeinheit der Polizei zur Aufstandsbekämpfung, kurz Esmad, näherte sich der friedlich demonstrierenden Masse und vertrieb sie in alle Richtungen. Bilder, die ich nie vergessen werde. Polizisten die mit Schlagstöcken Studierende angreifen, vom Esmad aus Pistolen abgefeuerte, ohrenbetäubende Explosivstoffe die neben Gruppen von Menschen detonieren und ein Tränengas, das so stark ist, dass einem Augen, Nase und Rachen brennen. Die Esmad verfolgte die nun kleineren Gruppen von Studierenden stets mit Schockgranaten und Tränengasbomben, die sie hinter ihnen herwarfen. Es kam zu willkürlichen Festnahmen, Drohungen und auf Seiten der Studierenden zu vielen Verletzten; darunter auch Kommilitonen und Freunde von mir.

An diesem Abend wurden insgesamt 15 Menschen festgenommen, es werden gerichtliche Verfahren erwartet und derzeit gelten drei Studierende der Universidad Nacional de Colombia als vermisst. Seit Donnerstag gab es immer wieder Zwischenfälle, der Esmad ist dauerhaft an den Eingängen zum Campus der Universitäten präsent, es kommt wiederholt zu Verhaftungen, Menschenrechtsverletzungen, gewaltvollen Überfällen auf studentische Repräsentanten und Aktivisten und weitere kleinere Mobilisierungen die von der Polizei gestört und unterbunden werden.

Die Berichterstattung über die Vorfälle in den Medien war groß, leider gab es aber nicht die erhoffte Schilderung des Abends. Stattdessen lasen wir von Beschreibungen der Studierenden als "Terroristen", "Vandalen" oder "Capuchos" (Vermummte) kontrolliert durch die Guerilla. Über die Flucht einer Gruppe von Studierenden und Verletzten in einen Supermarkt, der von der Polizei umstellt wurde, berichteten die Medien, dass Studierende den Supermarkt eingenommen hätten und Geiseln gefangen hielten. Über die Krise der höheren Bildungsinstitutionen und den Grund für die Demonstrationen wurde nur wenig berichtet, Mittelpunkt war stattdessen das große Verkehrschaos, das die Demonstration angerichtet hat, verletzte Polizisten und Berichte über Mitbürger, die aus diesem Grund erst spät nach Hause kamen. Der Begriff "Fake News" wird traditionellerweise seitens der Rechten verwendet, was hier jedoch in den Zeitungen berichtet wird ist im Vergleich zu dem selbst Gesehenen und Erlebten äußerst enttäuschend. Nur wenige Medien geben den Studierenden die Bühne, auszudrücken, was sie derzeit im Land erfahren.

Kolumbien lebt in einer Diktatur, verkleidet als Demokratie, in der öffentlicher Protest gewaltvoll durch die Polizei unterdrückt wird und die Regierung keinen politischen Willen zeigt, die Situation zu entschärfen, im Gegenteil. Kurzzeitig wurde nämlich ein Dialog zwischen Studierenden, Professoren und der Regierung erreicht, diesen hoben die Studierenden jedoch nach dem zweiten Verhandlungstag wieder auf, da die Regierung kein Entgegenkommen zeigt und darauf beharrt, dass dem Sektor keine weiteren Ressourcen bereitgestellt werden. Etwas Hoffnung bereitet die sich verstärkende Mobilisierung weiterer sozialer Gruppen, darunter Kleinbauern, indigene Gemeinschaften, Arbeitergewerkschaften und LKW-Fahrer, die unter anderem gegen die geplante Steuerreform protestieren. Diese sieht eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und die steuerliche Entlastung von Großunternehmen vor, was die sozialen Ungleichheiten im Land und die Konflikte nur weiter verschärfen wird. Wenn jedoch in einigen Wochen das gesamte Land streikt, sieht sich Präsident Duque vielleicht gezwungen nachzugeben und sich mit den sozialen Gruppen zusammenzusetzen, um eine Lösung zu finden.

Und auch wir Studierenden lassen uns durch die Repression und Gewalt seitens der Regierung und der Direktion der Universidad Nacional mit Rektorin Dolly Montoya, die den Studierenden der UNAL mit der Annullierung des Semesters droht, nicht abschrecken. Wir werden erneut auf die Straßen gehen und unser Recht auf Bildung einfordern.

#apararparaavanzar   #vivaelparonacional   #luchaestudiantilporaméricalatina
#resistencia   #soyestudiante   #SOSuniversidadespúblicas   #somosUNgritodelibertad
#SíAlParoUN