"Heute schreiben wir Geschichte": Selbstorganisierter Volksentscheid in Kolumbien

Wahlbeobachtung in San Lorenzo. Nachdem Volksentscheide gegen Bergbauaktivitäten für verfassungswidrig erklärt wurden, nahmen die Bewohner ihr Schicksal selbst in die Hand.

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"Hier sagen wir ja zum Leben - Nein zum Bergbau"
"Hier sagen wir ja zum Leben - Nein zum Bergbau"

Die Panamericana schlängelt sich nach zehn Stunden Fahrt von Cali Richtung Süden abenteuerlich an steilen Berghängen entlang. Immer wieder muss der Busfahrer Felsbrocken ausweichen, die wegen des Regens mitten auf der Straße liegen. "Glück, dass kein Erdrutsch die Straße versperrt", sagt der junge Fahrer. Es wird gerade hell, aber die Sonne versteckt sich hinter dichtem Regen und Nebelschleiern. Dann deutet er auf ein Schild an der Landstraße, das den Hang hinunter in den dichten Nebel zeigt: "Hier geht’s ab nach San Lorenzo. Aber ich lass euch weiter oben raus, denn hier gibt es nicht mal was zum Unterstellen und ihr werdet klitschnass." Weiter oben meint in dem Fall eine Ansiedlung von ein paar Häusern, in der wir erfahren, dass erst in sechs Stunden ein Bus nach San Lorenzo fährt. Also setzen wir uns auf zwei Motoradtaxis, die uns für rund 10 Euro die eineinhalb Stunden hoch in die Berge fahren. Es regnet Bindfäden und uns eröffnet sich ein abenteuerliches Naturspektakel. Wir schliddern den ungepflasterten Pfad zunächst hinunter ins Tal des Flusses Juanambú, überqueren ihn und kämpfen uns den Schlammpfad auf der gegenüberliegenden Seite in die Berge hinauf. Über den Wolken klart es auf und erlaubt den Blick auf atemberaubende Schluchten und bewirtschaftete Felshänge.

Endlich angekommen, kommentiert eine ältere Dame mit Kittelschürze, die am Platz frittierte Teigtaschen und süßen, schwarzen Kaffee verkauft: "Willkommen im Himmel." Sie erklärt, dass San Lorenzo in den Wolken feststeckt. Das erklärt die Feuchtigkeit in der Luft. In diesem Dörfchen im südlichen Bundesstaat Nariño sind für den kommenden Tag 12.800 Wähler dazu aufgerufen, über Bergbauprojekte in ihrer Region abzustimmen. Wir sind als Beobachter eingeladen. Nach einer Einweisung, der Übergabe der Wahlzettel an die Verantwortlichen, Überprüfungen der Siegel und des Wahlmaterials sowie ewigen Treffen legen wir uns endlich hin, denn um fünf Uhr am Morgen werden wir vom Lärm geweckt. Sonntag ist nicht nur Wahltag, sondern auch Markttag. Die Gassen des gestern noch so verschlafenen Dorfes sind von Rufen, Hupen und Motorengeräuschen erfüllt. Dazu ein Jeep, von dessen Ladefläche eine ganze Gruppe junger Leute zur Wahl auffordert. Sie winken uns zu und rufen: "Danke, dass ihr da seid! Heute schreiben wir Geschichte!"

Dieser Volksentscheid ist vollkommen selbstorganisiert, erklärt Camilo Delgado, Vorsitzender des Organisationskomitees der Abstimmung, den wir zum Wohllokal begleiten. "Nachdem einige Gemeinden solche Befragungen durchgeführt hatten und alle mit über 90 Prozent gegen Bergbau gestimmt haben, bekam die Regierung kalte Füße", so Camilo: "Sie regiert gegen uns, das wurde daran sichtbar." Also überrascht es nicht, dass das Verfassungsgericht am 11. Oktober beschließt, Volksbefragungen über Bergbauprojekte künftig nicht mehr zuzulassen. In der Begründung zugunsten des Bergbaukonzerns Mansarovar Energy Colombia Limitada steht, dass der Boden unterhalb der Erdoberfläche allein dem Zugriff des Staates vorbehalten sei und die dezentralen administrativen Verwaltungseinheiten deshalb nicht darüber entscheiden dürften. Damit haben die obersten Richter eine Rechtsunsicherheit geschaffen. Denn im Urteil T445 von 2016 hatten die Verfassungsrichter noch eindeutig Landkreise und Departamentos befugt, den Bergbau zu verbieten, um über die Nutzung des Bodens selbst zu bestimmen und die Umwelt zu schützen. Im Jahr 2017 sind insgesamt fünf von neun Amtsrichtern, der sogenannte progressive Block, zurückgetreten und durch konservativere Juristen ersetzt worden. Dies könnte einer der Gründe dafür sein, dass das Gericht nun eine konträre Position vertritt.

Camilo und das Organisationskomitee hatten also keine staatlichen Gelder zur Verfügung, sondern mussten alles selbst finanzieren. Wir erreichen das Wahllokal gegen sieben, eine Stunde vor Öffnung. Es herrscht reges Treiben, Urnen werden an die Tische verteilt, die versiegelten Wahlzettel übergeben, Listen mit den Nummern der Personalausweise der Wahlberechtigten werden aufgehängt, auf denen die entsprechenden Wahltische verzeichnet sind. In den letzten Monaten konnten die Vorbereitungen zur Wahl auf die Unterstützung von lokalen Institutionen, Bildungseinrichtungen und der Kirche zählen. Sowohl der Bürgermeister Jader Gaviria Armero als auch der Gemeinderat hatten die Abstimmung befürwortet und einstimmig für die Durchführung votiert. Die Lehrerschaft der beiden Dorfschulen hatten Aktionstage zum Thema Bergbau und Umweltverschmutzung organisiert und eine symbolische Abstimmung unter den Schüler durchgeführt. Alle stimmten gegen Extraktivismus. Als die Finanzierung seitens der Obersten Wahlbehörde abgelehnt wurde, hatten sich die Lehrer freiwillig als Wahlhelfer gemeldet. Sogar der katholische Priester der kleinen Gemeindehauptstadt hatte auf seinen Messen das Thema zur Sprache gebracht und die Gemeindemitglieder zur Abstimmung motiviert.

Als die Türen öffnen steht bereits eine Schlange davor. Die ersten Wähler sind vor allem ältere Menschen, die den Markttag nutzen. "Ich muss diese Zitronen noch verkaufen, um die Rückfahrt zu meiner Finca zahlen zu können", erzählt eine alte Dame ohne Schuhe. Sie hält einen grobmaschigen Sack mit einigen wenigen vollreifen, in der Region typischen Mandarinzitronen. An dem Wahltisch, den ich beobachte, kaufen wir ihr alle ab und erklären ihr die Wahl. Auf dem Stimmzettel steht die Frage "Sind Sie damit einverstanden, ja oder nein, dass in der Gemeinde San Lorenzo (Nariño) die Förderung von Edelmetallen und Erdgas und Erdöl erlaubt wird?". Darunter kann Ja oder Nein angekreuzt werden. Die Dame fragt den Wahlhelfer etwas unsicher: "Also muss ich hier ankreuzen, oder? Nein. Oder?" Er erklärt, dass er als Wahlhelfer dazu nichts sagen darf. "Ach mein Junge, mach doch kein Quatsch! Du weißt doch, dass ich gegen den Abbau bin! Jetzt sag mir doch wo das Kreuz hin muss. Nein gegen die Förderung? Oder Ja für das Wasser, das Leben, die Natur?" Er deutet auf das Nein und die Dame macht in der aus Pappe aufgebauten Wahlkabine ihr Kreuz, steckt das ordentlich zusammengefaltete Papier in die Urne und zwinkert mir zu. "Wir sind hier alle Bauern und Bäuerinnen. Wir wollen dass die Erde in der Erde bleibt. Wir leben von dem, was auf ihr wächst. Wir sind nicht dumm, aber wir können nicht alle lesen und schreiben."

Vor der Tür sind selbst Anwohner benachbarter Gemeinden, die nicht wahlberechtigt sind, unterwegs. Sie verteilen Flugzettel, helfen den älteren Menschen die Straße zum Wahllokal hinauf. Sie haben ihre Transportmittel zur Verfügung gestellt, um die wahlberechtigten Personen in dem schwer zugänglichen Gebieten zu den Wahlurnen zu befördern. San Lorenzo befindet sich in einem selbsterklärten Kleinbäuerlichen Selbstversorgungsgebiet (Territorios Campesinos Agroalimentarios, TCA), dem sich insgesamt 17 Gemeinden der Region in den Departamentos Nariño und Cauca angeschlossen haben. Die bäuerlich geprägten Gemeinden sind aufgrund ihrer Biodiversität und ihrer enormen Wasserquellen, die u.a. die größten Flüsse des Landes speisen, von enormer Bedeutung für Mensch und Umwelt. Das TCA wird von einer Autonomieregierung aus 51 Vertreter in Abstimmung mit den offiziellen Regierungsinstitutionen verwaltet. Nach eigener Gesetzgebung sind Chemiedünger, gentechnisch veränderte Samen sowie Zuchttiere verboten.

Insgesamt 6.764 von 12.800 registrieren Wahlberechtigten verneinen an diesem Tag die Frage, ob in ihrer Gemeinde Bergbau erlaubt werden soll. Mehr als 98 Prozent der Wähler stimmen gegen Extraktivismus. Mit einer Wahlbeteiligung von knapp 53 Prozent lag die Partizipation der Wähler sogar höher als bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Camilo sagt dazu: "Wir haben das notwendige Ziel von 4.000 Stimmen zur Rechtmäßigkeit der Abstimmung weit übertroffen. Die Bevölkerung von San Lorenzo hat mit der Abstimmung ein klares Zeichen gegen die Zerstörung der Natur und zur Verteidigung des Lebens und der Umwelt gesetzt." Auch der Bürgermeister ist bei der Übergabe der Wahlzettel gerührt und spricht von einem „historischen Ereignis für unsere Gemeinde und für Kolumbien“. Er sagt mir nachher bei dem feierlichen Umzug durch das Dorf: "Hier sind wir gut organisiert.".

Nach der Auszählung und der Bekanntgabe der Ergebnisse berichtet mir eine Frau vom Organisationskomitee: "Mit dem Ergebnis haben wir etwas in der Hand, um unser Territorium weiterhin und auf legalem und politischem Weg gegen andere Akteure verteidigen zu können." Seit 2008 wurden laut Bergbauministerium Konzessionen und Rechtstitel im Gebiet von San Lorenzo vergeben. Im Jahr 2010 hatte der Konzern Mazamorras Gold mit der Exploration von Fördergebieten in den Gemeinden San Lorenzo und Arboleda begonnen. Nachdem die Bewohner durch Viehsterben und Wasserverschmutzung auf die negativen Folgen der Bergbauaktivitäten aufmerksam wurden, versuchten sie zunächst mit dem Konzern zu verhandeln. Dieser lehnte jedoch jedes Gespräch ab. Unbekannte zerstörten das Camp der Förderanlage. Erneute Versuche von Mazamorras Gold, auf dem Gebiet tätig zu werden, wurden von den Gemeindemitgliedern mit dem mehrmaligen Anzünden von deren Fahrzeugen erwidert. Seitdem liegen die Bergbauaktivitäten in San Lorenzo und Arboleda still. Nun hat dieser Widerstand politische Rückendeckung.