"In Nicaragua wird nichts getan" ‒ ?

Viele Gerüchte, wenig Information in den internationalen Medien über die Corona-Pandemie in Nicaragua

nicaragua_brigadas-del-minsa.jpg

Brigadisten des Gesundheitsministeriums bei Haus-zu Haus-Besuchen
Brigadisten des Gesundheitsministeriums bei Haus-zu Haus-Besuchen

Nicaraguas Regierung tut nicht genug gegen die Pandemie, sie operiert mit falschen Zahlen über Infektionen und gefährdet bewusst die eigene Bevölkerung; der selbst an dem Coronavirus erkrankte Präsident Daniel Ortega erholt sich mit seiner Frau auf einer Privatinsel, während er die Bevölkerung und vor allem Kinder bei Massenveranstaltungen der großen Gefahr der Ansteckung aussetzt ‒ so und so ähnlich lauten die Vorwürfe, die seit einigen Tagen in immer mehr internationalen Medien auftauchen.

Tatsächlich erscheinen die vom Gesundheitsministerium (Ministerio de Salud, Minsa) in Nicaragua täglich veröffentlichten Zahlen im internationalen Vergleich sehr niedrig. Am 7. April berichtete Dr. Carlos Saenz, Generalsekretär der Behörde, dass nach einem Verstorbenen und zwei geheilten Patienten aktuell noch drei Fälle im Krankenhaus behandelt werden. Die Zahl der unter Quarantäne Stehenden sei von acht auf sechs überwachte Personen gesunken. Ein Übergreifen auf die Bevölkerung habe bisher vermieden werden können.

Aus Mittelamerika werden ansonsten deutlich höhere Fallzahlen berichtet. In ganz Zentralamerika (ohne Mexiko) wurden am 6. April 4.360 erkrankte, 167 verstorbene und 71 geheilte Covid-19-Patienten gezählt. Auch die beiden Nachbarländer Nicaraguas, Honduras und Costa Rica, haben viel höhere Infektionsraten. Die Grenze Nicaraguas zu diesen Ländern gilt als relativ durchlässig, vor allem zwischen Costa Rica und Nicaragua gibt es eine rege Wanderbewegung von in der Landwirtschaft arbeitenden Personen.

Die Zahl von gemeldeten Fällen hängt auch in Mittelamerika davon ab, wie viele Personen getestet werden können. Bisher hatte dies Nicaragua mit dem eigenen Labor für Molekularbiologie erledigt. Jetzt erhielt das Land von der Zentralamerikanische Bank für Wirtschaftsintegration (BCIE) 25.000 Tests zur Früherkennung von Covid-19. Auch die anderen mittelamerikanischen Länder erhielten im Rahmen des am 12. März beschlossenen gemeinsamen Notfallplans entsprechende Tests.

In abhängigen Ländern wie Nicaragua große Teile der Bevölkerung auf das Virus zu testen, ist angesichts der wirtschaftlichen Möglichkeiten illusorisch. Unter diesen Bedingungen besteht die Erkennung von Pandemie-Erkrankungen deshalb vor allem in der Beobachtung von Symptomen bei Personen, die einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt waren. Über die möglichen Infektionswege wurde vom Gesundheitssystem des Landes in den Medien umfassend berichtet.

Um möglichst viele Personen direkt zu informieren, welche Symptome besonders beachtet werden müssen und wie man sich selbst schützen kann, gingen zusätzlich Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen zusammen mit sogenannten Gesundheitsbrigadisten landesweit von Haus zu Haus. So hofften sie, am besten auf die Gefahr aufmerksam machen zu können. Angesichts der politischen Spaltung in der Gesellschaft fiel das Informationsangebot nicht überall auf fruchtbaren Boden. Eine Ärztin schilderte dies sehr anschaulich in dem Artikel "In Nicaragua wird nichts getan!".

Tatsächlich hat das nicaraguanische Gesundheitssystem eine besondere Mobilisierungsfähigkeit und Erfahrung mit epidemiologischen Alarmsituationen. Die letzte landesweite Übung fand am 30. Juli 2019 statt, bei der die Prävention und Betreuung der Familien eingeübt wurde. Von der Weltgesundheitsorganisation und der Panamerikanische Gesundheitsorganisation PAHO wird die Präventionsfähigkeit und der Ausbau des mehrgliedrigen Gesundheitssystems immer wieder positiv hervorgehoben.

Bei allen bisherigen Planungen zur Coronavirus-Pandemie spielte die politische und wirtschaftliche Grundlage eine wichtige Rolle. Ein Land, das von Außenhandel und Arbeitseinkommen abhängig ist, das über keine Energieressourcen verfügt und in dem fast 70 Prozent der Menschen ohne Reserven von informellen Arbeitsverhältnissen leben, kann seine Wirtschaft nicht einfach „abschalten“. Angesichts der weiter bestehenden US-Sanktionen durch NicaAct, mit dem alle Kredite multinationaler Organisationen für das Land verhindert werden sollen, besteht keine Grundlage für einen kreditfinanzierten Wiederaufbau nach einer Krise.

Bisher ist keine Ideallösung für den Umgang mit der Pandemie für Länder wie Nicaragua bekannt. Auch innerhalb der nicaraguanischen Opposition gibt es hierzu ganz verschiedene Einschätzungen. Während Unternehmer aus der INCAE Business School und dessen Ehrenpräsident Carlos Pellas am 6. April angesichts der Krise einen Waffenstillstand mit der Regierung erreichen und alle Differenzen beiseite legen wollten, rief die Nationale Blau-Weiße Einheit der Sandinistischen Erneuerungsbewegung (UNAB-MRS) zur Fortsetzung des Kampfes gegen die Regierung Ortega mit allen Mitteln auf.

Die aktuell in der internationalen Presse erhobenen Vorwürfe scheinen im Wesentlichen für das Ausland formuliert zu sein. Denn für die Menschen in Nicaragua, in diesem relativ kleinen Land, sind bisher noch keine Anzeichen für zunehmende Lungenerkrankungen oder ähnliche Symptome bekannt geworden. Aktuell liegen die Zahlen hier niedriger als in anderen Jahren. Die Quellen für die Vorwürfe gegen Ortega und die sandinistische Regierung sind meist dieselben der Sandinistischen Erneuerungsbewegung nahen Personen und Gruppen, die auch beim gewaltsamen Putschversuch 2018 mit vielen gefälschten Meldungen agierten.

Die Strategie der sandinistischen Regierung scheint es aktuell zu sein, dem Land nur möglichst geringe wirtschaftliche Schäden aufzubürden und besonders wachsam auf gesundheitliche Veränderungen zu reagieren.

Aber die Absage von Bildungsveranstaltungen, Seminaren etc. von staatlichen Stellen und den Nichtregierungsorganisationen in den letzten Wochen sorgen jetzt schon für viele Ausfälle. Ob das Regierungskonzept letztendlich aufgeht, ist aktuell nicht absehbar. Die Unsicherheit ist auch für viele Menschen in Nicaragua genauso greifbar wie die wirtschaftlichen Schäden in dem vor Corona langsam wieder aufkeimenden Tourismussektor.

Erstaunlich ist aber, dass die Forderung des UN-Generalsekretärs António Guterres und der Gruppe der 77, angesichts der folgenreichen Pandemie die internationalen Sanktionen auszusetzen, nur von wenigen Solidaritätsgruppen aufgegriffen wird. Statt dessen wird Covid-19 als zusätzliche Chance gesehen, die eigenen politischen Ziele durchzusetzen.

Bleibt da Regierungen wie in Nicaragua eine andere Chance als auf Gott und die eigene Vorsorge zu vertrauen?