Basisbewegung aktiv gegen die Hungerkrise in Guatemala

"Somos Guate, somos comunidad" (Wir sind Guatemala, wir sind Gemeinschaft) ist das Motto der Olla Comunitaria in Quetzaltenango

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Die olla comuitaria in Quetzaltenango verteilt Essen an Bedürftige
Die olla comuitaria in Quetzaltenango verteilt Essen an Bedürftige

Quetzaltenango, die zweitgrößte Stadt Guatemalas, liegt auf der Hochebene in ungefähr 2.300 m Höhe. Deswegen herrscht hier ein raues Klima, das Wetter ist wechselhaft und nicht so warm, wie es in den tieferliegenden Städten ist. Meistens scheint mittags die Sonne, aber ebenso kann es regnerisch und windig sein. Eine Szene ändert sich dagegen seit fast vier Monaten nicht. Am Parque Central, dem zentralen Platz in der Innenstadt, sitzen Menschen in einer langen Reihe auf den Stufen, die den Platz umsäumen. Alle in einem Abstand von ungefähr einem Meter. Sie warten auf die Initiative Olla Comunitaria, die "Küche für alle". Von Montag bis Freitag verteilt sie ab 12 Uhr Essen an Bedürftige.

Der erste in der Reihe ist jeden Tag Francisco. Manchmal trägt er eine orange Warnweste und sitzt neben seinem Eimer, den er für seine Arbeit im informellen Sektor benötigt. An Straßenkreuzungen steht und putzt er für einen Quetzal, etwa 10 Cent, die Scheiben der Autos. Das kostenlose Essen ernährt ihn in der Krise. Es ist immer das gleiche Ritual, zuerst ein Mittagessen, danach stellt er sich ein zweites Mal an, um ein Abendessen zu erhalten.

Menschen in einer ähnlichen Situation wie Francisco gibt es viele in Guatemala, im informellen Sektor arbeiten außerhalb der Krise etwa 80 Prozent der Bevölkerung1 und insgesamt macht er etwa 22 Prozent des BIP aus2. 70 Prozent der im informellen Sektor Arbeitenden haben keine schulische Bildung oder nur die Primaria, die Grundschule, besucht3. Etwas weniger als die Hälfte von ihnen hat im Monat weniger als 1.000 Quetzales, etwa 125 €, zur Verfügung4. Im Vergleich, der Preis des statistischen Warenkorbs lag bei 3.624,61 Quetzales pro Monat im Mai 20205.

Die ökonomische Krise und der stark betroffene informelle Sektor bestärken die Unmöglichkeit vieler Menschen, sich das täglich Benötigte zu kaufen. Ein in der Coronakrise schon zur Normalität gewordenes Bild auf den Straßen Guatemalas sind die Menschen, die mit weißen Flaggen am Straßenrand stehen und auf Spenden hoffen. Die weiße Flagge signalisiert: Ich kann mir kein Essen kaufen. In Guatemala ist sie zum Symbol der Krise und der Pandemie geworden.

In einem Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird angegeben, dass in Guatemala 30 Prozent der Firmen im Agrarbereich Mitarbeiter entließen, 80 Prozent der Hotels haben seit März keine Gäste und selbst die wichtige Call Center-Sparte ist nur zu 80 Prozent ausgelastet. Die privaten Ausgaben für Konsum sind im April um 40 Prozent eingebrochen, was für kleinere Geschäfte existenzbedrohend ist6. Unisono warnen große Organisationen wie das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen oder Oxfam vor einer Hungerkrise im "Triángulo Norte", das heißt in Guatemala, El Salvador und Honduras.

Inmitten dieser Missstände arbeiten seit drei Monaten Freiwillige in der Olla Comunitaria gegen die schlimmsten Auswirkungen der Krise.

Die Olla Comunitaria ist eine Basisbewegung, die abseits von kirchlichen Gruppen und größeren Nichtregierungsorganisationen in Guatemala-Stadt entstand. Die erste gründeten die Inhaber des Restaurants Rayuela. Schnell verbreitete sie sich in vielen größeren Städte und Gemeinden des Landes: Antigua, Petén, Cobán, Quiché, Atitlán, Santa Lucia Cotzumalguapa und Quetzaltenango. Täglich verteilt diese Bewegung mehrere tausend Essen in ganz Guatemala an Bedürftige. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer stehen dafür frühmorgens auf um das Essen zuzubereiten und anschließend zu verteilen. Finanziert wird sie durch Spenden aus der Bevölkerung, damit entziehen sie sich institutionellen Einschränkungen und Auflagen.

In Quetzaltenango arbeiten etwa 20 Personen täglich für die Essensverteilung. Die Initiative befindet sich im Irish Pub der Stadt und entstand, ähnlich wie in Guatemala-Stadt, aus einer Initiative des Restaurants Tan Lechuga Yo. Die Inhaberin und einige Freunde schlossen sich zusammen und gründeten die Olla Comunitaria Xela. Zusammen mit hinzugekommenen weiteren Aktivisten werden täglich hunderte Essen gekocht. Organisiert ist sie in drei Gruppen: die Küchengruppe, die Einpackstation und die Ausgabestelle.

Morgens um 8:30 Uhr betreten die Mitglieder der Küchengruppe das Lokal und fangen mit den Vorbereitungen für das Kochen an. Das heißt Gemüse schneiden, putzen und bereitlegen. Zusätzlich zur Küchengruppe gibt es etwa acht weitere Freiwillige, die von zu Hause aus Gemüse schneiden und jeden Morgen in den Pub bringen. So soll die Arbeit möglichst verteilt und damit die Belastung aller Beteiligten verringert werden. Bis zu drei Köche stehen in der kleinen Küche im Dampf der Töpfe und trotzen den Temperaturen. Da es nur ein Fenster gibt, steht die Luft und der aufgestellte Ventilator schafft es nicht, für Abkühlung zu sorgen. In einem weiteren Raum stehen Freiwillige, die Gemüse schneiden oder Saft zubereiten. Gemeinsam versuchen sie den engen Zeitplan einzuhalten, da gegen 11:30 Uhr das Verpacken des Essens beginnen sollte.

Die zweite und dritte Gruppe an Freiwilligen treffen gegen 10:30 Uhr ein. Die zweite verpackt das gekochte Essen in einzelne Portionen. Der einzige Raum der groß genug ist, die Tanzfläche, wird dafür eigens in eine Packstation umgewandelt. Der Beer Pong Tisch dient als Ablagefläche für Essen und Besteck. Verpackungsmaterial, Töpfe und Kartons reihen sich auf einem zweiten Tisch auf. Der Ablauf ist gut koordiniert, die Mitglieder der Olla Comunitaria berichten, dass sie in den letzten drei Monaten des Bestehens gelernt haben den Tagesablauf zu organisieren. Jeder kennt den ihn und kann auf allen Positionen die Arbeit übernehmen. Insgesamt vier bis fünf Freiwillige reihen sich an beiden Seiten der Tische auf und verpacken das Essen. Geleerte Kartons stehen bereit die Portionen aufzunehmen. Eine Person kontrolliert die Ausgabe, zählt und trägt die Kisten in den bereitstehenden PKW. Bis zu 14 Kartons können in einer Fahrt bewegt werden. 14 Kartons, das bedeutet 168 Essen. Zwei bis dreimal fährt ein Fahrer mit dem Auto zur Ausgabestation. Es werden so über 400 Essen jeden Tag bewegt. Angesichts der Hungerkrise sind 400 Essen sehr wenig.

Laut Daten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) waren in Guatemala 2019 16 Prozent der Bevölkerung von Mangelernährung betroffen, 45 Prozent sind von moderater oder schwerer Nahrungsmittelunsicherheit betroffen und 46,7 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind deswegen unterentwickelt7. Für Guatemala bedeuten diese Zahlen, dass außerhalb einer Krise etwa 6 Millionen Menschen Hunger leiden.

Dabei hat das Land mit seinen fruchtbaren Böden und dem Klima beste Bedingungen für große Agrarproduktionen. Allerdings ist Guatemala durch das Erbe des Kolonialismus ungleich verteilt, große Haziendas, die nur für den Export produzieren, existieren. Kleinbauern, die hauptsächlich für den nationalen Markt produzieren und das Rückgrat armer Staaten in der Lebensmittelproduktion bilden, haben es dagegen sehr schwer. Unter den Top 5 der importierten Agrargüter befinden sich die Grundnahrungsmittel Mais, Weizen und Fleisch. Die meist exportierten Agrarprodukte sind Bananen, Zucker, Kaffee, Palmöl und Gewürze8. Die Abhängigkeit von ausländischem Mais macht sich besonders in der Krisenzeit bemerkbar. Der Preis stieg seit März um zehn Prozent, der für Bohnen sogar um 36 – 53 Prozent9.

Die dritte Gruppe der Olla Comunitaria baut in der Zeit, wenn die zweite die Packstation einrichtet, im Parque Central die Ausgabestelle auf. Des Weiteren bemühen sie sich einen Mindestabstand zwischen den Wartenden zu gewährleisten. Die Packstation besteht aus mehreren Tischen, auf denen später die Kartons mit dem Essen gestapelt sowie Tüten mit Wasser abgelegt werden. Mit Ammonium und Alkohol werden alle Gegenstände desinfiziert. Die Furcht bei der Essensausgabe das Virus weiterzugeben, ist allgegenwärtig. Ein umfunktionierter Barhocker dient als Ablagefläche für das Essen, dass sich die Bedürftigen später der Reihe nach nehmen.

Gegen 12 Uhr kommt die erste Fuhre an verpacktem Essen. Jetzt geht alles schnell. Das Auto wird entladen und fährt direkt zurück zum Pub. Die Kartons werden auf die Tische gestapelt und die Ausgabe beginnt. Jede Person, die in der Schlange steht, muss sich zuerst die Hände desinfizieren, danach darf sie sich das Essen und eine Tüte Wasser vom Barhocker nehmen. Viele Personen in der Schlange gehen seit Beginn der Essensverteilung täglich zur Olla Comunitaria. Die Freiwilligen kennen sie und viele werden mit Namen begrüßt und trotz der Eile werden wichtige Informationen ausgetauscht oder einfach kurz Small Talk gehalten. Ihnen ist es wichtig zu betonen, dass jede Person Respekt verdient und als Mensch wahrgenommen werden muss. Die Hierarchie die sich zwischen Gebenden und Nehmenden bildet, soll durch die Gespräche und die persönliche Anteilnahme soweit wie möglich verringert werden.

Nach der zweiten Fuhre werden die Essen gezählt und mit den Wartenden abgeglichen. Die Schlange wird geschlossen, sobald Essen und Anzahl an Personen übereinstimmen. Durch die Erfahrung der letzten Monate reicht das Essen meist aus. Es beginnt der Abbau der Ausgabestelle und die Rückkehr in den Irish Pub. Dort wird sich von den anderen bis zum nächsten Tag verabschieden.

Auf die Frage, ob von den Hilfsmaßnahmen der Regierung etwas zu spüren sei, wird nur mit, "sie sind nicht existent" geantwortet. Weiter wird auf beginnende Unmutsäußerungen verwiesen, wie eine erste Demonstration in der Hauptstadt, die nach dem Verbleib des Geldes zur Bekämpfung der Krise fragte und anprangerte, dass die aktuelle Regierung wie auch die Vorgängerregierungen Gesetze und Maßnahmen nur zum Schutz der Wirtschaft machen. Seit Jahren seien keine Sozialprogramme initiiert worden. Die Schlussfolgerung der Aktivisten ist deswegen, dass sie in ihren Gemeinden und Städten lokal helfen müssen, um der Krise und der Korruption zu begegnen.

Die Olla Comunitaria ist für sie ein guter Rahmen, da sie sich den gegebenen örtlichen Begebenheiten anpasst und aus der Gesellschaft für die Gesellschaft arbeitet. Ihr Motto in Quetzaltenango lautet: "Somos Guate, somos comunidad" (Wir sind Guatemala, wir sind Gemeinschaft).