"Marsch für die Menschenrechte" ‒ Gerechtigkeit für die Opfer der Putsch-Regierung in Bolivien

Opfer klagen vor UN-Ausschuss gegen De-facto-Präsidentin Áñez und ihren Minister Murillo

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Nora Valeriano, Tamara Candela, Nadesdha Guevara und Ayben Huaranca (von links nach rechts)
Nora Valeriano, Tamara Candela, Nadesdha Guevara und Ayben Huaranca (von links nach rechts)

Die bolivianische Anwältin und Vorsitzende der unabhängigen und gemeinnützigen Organisation Pro Derechos Humanos Bolivia, Nadesdha Guevara, und der ehemalige politische Gefangene Ayben Huaranca befinden sich auf einer Reise durch Europa. Sie trägt den Namen "Marsch für die Menschenrechte", begann in Genf, führte danach nach Deutschland und endete in Spanien. In Berlin trafen sich Guevara und Huaranca zu einem Gespräch mit amerika21.

Anlass der Reise war die 72. Sitzung des UN-Ausschusses gegen Folter1, die am 23. November 2021 in Genf stattfand.

Dort reichten Guevara und Huaranca Klage wegen Folter und weiterer Menschenrechtsverbrechen gegen die ehemalige De-facto-Präsidentin Boliviens, Jeanine Áñez (2019–2020), und deren damaligen Minister Arturo Murillo ein. Huaranca sagte als Zeuge des Massakers von Senkata (El Alto) im November 2019 aus und schilderte die Umstände seiner daran anschließenden Haftzeit. Insgesamt handelt es sich um die Klagen von 54 Opfern.

Das Ziel der Reise durch Europa ist es laut Guevara, für die "Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit für die Opfer der Massaker von Senkata und Sacaba, Pedregal und Montero einzustehen", die unter der Putsch-Regierung von Áñez begangen wurden.

Das Zeugnis von Huaranca

Huaranca ist von Beruf Krankenpfleger. Vor einiger Zeit begann er zudem ein Studium der Kriminalistik. Nachdem Huaranca während des Massakers von Senkata über Stunden als einzige medizinische Pflegekraft Verwundeten und Sterbenden beigestanden hatte, wurde er mit dem Vorwurf des Begehens einer Straftat und des Terrorismus festgenommen. Offensichtlich gefälschte Fotos, auf denen er sich als Polizist und Militär ausgegeben haben soll, dienten hierbei als Beweise. Huaranca wurde für sechs Monate in dem Gefängnis San Pedro in La Paz inhaftiert.

Über das Massaker in Senkata berichtet er Folgendes: "Ich habe verwundete und sterbende Menschen gesehen. Einige von ihnen starben in meinen Händen. Leider verfügten wir in diesem Moment nicht über die notwendigen medizinischen Mittel, um ihnen zu helfen. Denn es war kein Arzt anwesend, sondern nur ich." Daraufhin sei er aufgrund der oben genannten Beschuldigungen festgenommen worden.

Über seine Haft sagt er: "Um Informationen über angebliche politische Anführer irgendeiner Organisation von mir zu erhalten, hat man mich geschlagen und getreten. Eine Konsequenz davon ist, dass meine Nase heute verunstaltet ist. Aber welche Informationen sollte ich ihnen geben, wenn ich von nichts und niemandem wusste? Zu Beginn wurde ich drei Tage lang gefesselt und aufgehängt. Sie taten alles Mögliche, um mich zum Reden zu bringen, aber ich sagte ihnen unter Tränen, dass ich keine Informationen habe. Am dritten Tag meiner Inhaftierung hielten sie mir ein Kabel an meine Genitalien und versetzten mir einen Stromschlag. Ich schrie vor Schmerz und verlor das Bewusstsein. Auch in der Zeit danach wurde ich wiederholt ausgezogen und geschlagen. Eines Tages kam eine Richterin, und als sie mich nackt sah, lachte sie mir ins Gesicht. Sie war dort und hat nichts für mich oder die anderen politisch Gefangenen getan."

Huaranca fährt mit seiner Erzählung über die Zeit in San Pedro fort. Im Februar, er war bereits fast zwei Monate inhaftiert, hätten Polizisten ihn wieder nach Informationen zu politischen Anführern gefragt. Dieses Mal hätten sie ihm ein Handy mit Fotos von seinen an Händen und Füßen gefesselten Kindern vors Gesicht gehalten. "Die Polizisten hatten meine drei Kinder kurzzeitig entführt. Sie drohten mir, dass sie dafür sorgen würden, dass sie verschwinden. Ich bin fast wahnsinnig geworden, aber ich konnte ihnen keine Informationen geben." Nach dem heutigen Befinden seiner Kinder gefragt, antwortet er, dass es ihnen gut gehe.

Ein weiteres Vorkommnis, von dem Huaranca berichtet, ist das Auftauchen eines bekannten bolivianischen Boxers und Polizisten namens "Matador Mamani" im Gefängnis von San Pedro. Dieser habe ihn geschlagen als er gefesselt gewesen sei. So wie weitere Opfer Mamanis aus dieser Zeit, sei auch er später juristisch gegen ihn vorgegangen.

Schließlich formuliert Huaranca folgende Forderung: "Wir möchten, dass der UN-Ausschuss gegen Folter handelt, damit auch die bolivianische Justiz gerecht mit uns verfährt. Wir haben bei der bolivianischen Staatsanwaltschaft einen Antrag gestellt, aber die Beamten und Richter sind dieselben, die damals [in der Zeit der De-facto-Regierung unter Áñez] gegen uns waren. Welches Vertrauen können wir haben, wenn es bis jetzt keinen Wechsel gegeben hat? Auch gibt es immer noch politische Gefangene aus dieser Zeit. Die werden nicht freigelassen, weil sie in Regionen inhaftiert sind, in denen die Rechten regieren. Dort muss der UN-Ausschuss gegen Folter ebenfalls einschreiten und sich für deren Freilassung einsetzen. Unsere Anwälte haben viel für uns getan. Eine unserer Anwältinnen ist Frau Doktor Guevara. Sie hat uns in der ganzen Zeit sehr unterstützt. Aufgrund ihrer Arbeit wurde ich überhaupt erst aus dem Gefängnis entlassen."

Die Folgen der Folter

Huarancas Nase ist heute aufgrund der Folter nicht nur verunstaltet, sondern benötigt dringend medizinische Behandlung. Doch die Kosten für eine Operation seien auch in Bolivien recht hoch. "Es kommt vor, dass die Nase schmerzt und manchmal fängt sie an zu bluten, wenn ich sie anfasse." Er nutze die Reise unter anderem, um nach finanzieller Unterstützung für eine Nasenoperation zu fragen. Denn er selbst sei momentan als Folge der Folter aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeitsfähig.

Doch mit der Reise möchte Huaranca nicht nur auf das Unrecht, das ihm angetan wurde, aufmerksam machen, sondern auch auf andere Fälle, bei denen Menschen unter falschen Behauptungen festgenommen und gefoltert oder auf der Straße von parastaatlichen Akteuren angegriffen worden seien.

Ein weiteres Problem, auf das er hinweist, sind die Folgen, die die Folter bei den Opfern hinterlassen habe. Viele ehemalige politische Gefangene hätten heute neurologische, psychische und physische Probleme. Er erzählt von Menschen, die psychotisch oder alkoholabhängig geworden seien oder die aufgrund der heftigen Schläge an Organschäden leiden würden.

Die Reise nach Europa wurde von einer Gruppe argentinischer Anwälte finanziert, die die Opfer der Massaker unterstützt. Die Kosten der Reise innerhalb Europas hingegen, sowohl Flüge als auch Übernachtung, wurden von der bolivianischen Community in Europa übernommen, wie zum Beispiel von dem in mehreren Ländern vorhandenen Netzwerk Movimiento Wiphala.

Eine der Mitstreiterinnen des Netzwerks ist Nora Valeriano, die im Gespräch mit amerika21 erzählt, dass die bolivianische Community in den verschiedenen Städten zudem Demonstrationen und Informationsveranstaltungen zu den Geschehnissen in Bolivien und zum "Marsch der Menschenrechte" organisiere. Ihren Ausführungen nach trafen sich die Reisenden in Berlin nach dem Gespräch mit amerika21 mit Abgeordneten von Die Linke und SPD. Danach führte sie die Reise weiter nach Madrid und Barcelona.

  • 1. Der Ausschuss ist zuständig für die Überwachung der Einhaltung der UN-Antifolterkonvention (Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, CAT)