Mexiko / Menschenrechte

Mexiko in der Staatskrise und vor dem UN-Ausschuss für gewaltsames Verschwindenlassen

Das Menschenrechtszentrum Tlachinollan und die Angehörigen der 43 Studenten aus Iguala informieren

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Angehörige der "Normalistas" am internationalen Aktionstag für Ayotzinapa
Angehörige der "Normalistas" am internationalen Aktionstag für Ayotzinapa

- Der Ausschuss überprüft zum ersten Mal, ob Mexiko seine Verpflichtungen gegenüber den Opfern von erzwungenem oder unfreiwilligem Verschwinden erfüllt.

- Die Überprüfung findet im Rahmen der mexikanischen Staatskrise in den Bereichen Menschenrechte, Legitimität und Straflosigkeit statt.

- Die Schlussfolgerungen des Ausschusses stellen einen Wendepunkt für tiefgehende Veränderungen staatlichen Handelns dar.

Mexiko, 01 Februar 2015.- Am 2. Und 3. Februar 2015 wird der UN-Ausschuss für das gewaltsam verursachte Verschwinden von Personen in Genf in seiner achten Tagung Mexiko und seine Pflichterfüllung gemäß dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen überprüfen.

Der Ausschuss verfügt über Berichte sowohl seitens des Staates wie verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen. In diesem Fall wird er einen öffentlichen Dialog mit dem mexikanischen Staat führen und den Versionen der Organisationen und Opfern Raum geben, um im Anschluss seine Schlussfolgerungen und Empfehlungen zu verabschieden, die am 13. Februar öffentlich gemacht werden.

Mexiko wird zu diesem Forum vorgeladen, weil es das erzwungene Verschwindenlassen seit dem sogenannten, schmutzigen Krieg ungeahndet praktiziert, mit der Folge, dass bis zum Jahr 2014 offiziell 23.000 Fälle dokumentiert wurden. Laut Aussagen des Staates liegen bis heute nur sechs Urteile wegen erzwungenen Verschwindenlassens vor, was unweigerlich zu weiteren straflos bleibenden, allgemeinen und systematischen Menschenrechtsverletzungen führt.

In diesem Zusammenhang hat das erzwungene Verschwindenlassen der 43 Studierenden der Landschule "Raúl Isidro Burgos" in Ayotzinapa, Guerrero, das Handeln des Staates unter Beweis gestellt. Er hat essentielle Menschenrechte verletzt und kam im Anschluss seiner Verpflichtung nicht nach, angemessene Untersuchungen einzuleiten, um die Studierenden ausfindig zu machen und die Wahrheit über die Vorfälle aufzudecken. Weder unterzog er die Verantwortlichen einer angemessenen Strafe, noch bot er eine gerechte Entschädigung für die tragischen Ereignisse an.

Gleichzeitig ist der konstante Verzug Mexikos vor besagtem UN-Ausschuss inakzeptabel, dem er vor dem aktuellen Hintergrund Priorität einräumen sollte. Als Beispiel dient der erste Jahresbericht, der bis Dezember 2012 präsentiert werden sollte, was jedoch erst im März 2014 geschah. Mexiko antwortete auch nicht auf die Bitte des Ausschusses, das Land 2014 besuchen zu können. Schließlich schob es die schriftliche Beantwortung der zuvor durch den Ausschuss formulierten Fragen auf, wobei die kritischsten Punkte vollkommen ausgespart wurden, wie die tatsächliche Anzahl der verschwundenen Personen und die Haltung zu den emblematischsten Fällen, wie jener von Ayotzinapa.

Die Intransparenz und das Fehlen von sachgemäßer Information stellen eine Einschränkung dar, um eine wahrheitsgemäße internationale Überprüfung durchzuführen, die einen Offenlegungsprozess zu einer Problematik einfordern könnte, zu der es bereits verschiedenste Positionierungen seitens internationaler Organe, wie der UNO und des interamerikanische System der Menschenrechte, gegeben hat.

Bis jetzt hat sich der mexikanische Staat geweigert, die Zuständigkeit des Ausschusses anzuerkennen, um individuelle und zwischenstaatliche Beschwerden zu Fällen erzwungenen Verschwindenlassens anzunehmen. In Mexiko bedeutet dies eine ernsthafte Einschränkung der Menschenrechte der Opfer, um sich an Instanzen wenden zu können, die diese Rechte entsprechend des Artikels 13 dieser Konvention festschreiben. Eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Organisationen hat bereits am 8. September 2014 das Außenministerium um einen Termin zur Behandlung dieses Thema gebeten, erhielt jedoch nie eine Antwort.

Sowohl die Angehörigen verschwundener Personen aus Mexiko oder anderen Ländern, wie die unten unterzeichnenden Organisationen beteiligen sich aktiv an den Sitzungen des UN-Ausschusses für das gewaltsam verursachte Verschwinden, damit es in Mexiko zu keinen weiteren Zwangsverschleppungen kommt. Außerdem soll die Geschichte der zehntausenden Personen aufgeklärt werden, deren Verbleib ungewiss ist, und derentwegen die Angehörigen und Organisationen nicht müde werden, Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung einzufordern.

Asociación de Familiares de Detenidos Desaparecidos y Víctimas de Violaciones a los Derechos Humanos en México (AFADEM)
Centro de Derechos Humanos de las Mujeres (CEDEHM)
Centro de Derechos Humanos Juan Gerardi
Centro de Derechos Humanos Miguel Agustín Pro Juárez (Centro Prodh)
Centro de Derechos Humanos de la Montaña “Tlachinollan”
Centro de Derechos Humanos Paso del Norte
Centro Diocesano para los Derechos Humanos Fray Juan de Larios
Ciudadanos en Apoyo a los Derechos Humanos (CADHAC)
Comisión Mexicana de Defensa y Promoción de los Derechos Humanos (CMDPDH)
Comité de Familiares de Detenidos Desaparecidos Hasta Encontrarlos
Fuerzas Unidas por Nuestros Desaparecidos en México (FUNDEM)
Fundación Diego Lucero
Fundación para la Justicia y el Estado Democrático de Derecho (FJEDD)
FUNDAR, Centro de Análisis e Investigación
H.I.J.O.S. México
Idheas, Litigio Estratégico en Derechos Humanos
Servicios y Asesoría para la Paz (SERAPAZ)

Die Familien der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa verurteilen den Versuch der Generalstaatsanwaltschaft, die Untersuchung aus politischen Gründen zu beenden

Heute, am 27. Januar 2015 gab die Generalstaatsanwaltschaft Mexikos Informationen zu der Untersuchung über den Aufenthaltsort von 43 verschwundenen Studenten aus Ayoztinapa bekannt.

Bezogen auf die Bekanntgabe der Generalstaatsanwaltschaft, geben die Familienmitglieder und Angehörigen kund:

1. Wir lehnen es ab, dass die Bundesregierung vorrangig die Medien und nicht die Opfern, über die Fortschritte in dem Fall informiert. Es wird darauf hingewiesen, dass der Präsident der Republik, Enrique Peña Nieto, ein Dokument unterzeichnet hat, in dem er versprochen hat, dass zunächst die Familien und erst im Anschluss die Medien informiert werden, damit diese nicht erneut zu Opfern werden. Dieses Versprechen ist in den letzten Wochen wiederholt nicht eingehalten worden.

2. Wir, die Familienmitglieder, kennen die Einzelheiten der heute veröffentlichte Information nicht. Das Versprechen, uns zuerst alle Details und Kopien über den Fall zu geben, wurde nicht eingehalten. Dies war uns aber vom Präsidenten der Republik Enrique Peña Nieto zugesagt worden.

3. Die Untersuchung über die verschwundenen Studenten der "Normal Rural Raúl Isidro Burgos“ darf aus diesen Gründen nicht für beendet erklärt werden:

a) Die Untersuchung darf nicht für beendet erklärt werden, weil es keine vollständige wissenschaftliche Gewissheit über die Vorfälle auf der Müllhalde von Cocula gibt. Die Generalstaatsanwaltschaft gab heute bekannt, dass sich ihre Hypothese auf verschiedene chemische, biologische und andere Gutachten stützt. Da es weithin bekannt ist, dass die mexikanischen Staatsanwaltschaften Spezialisten in der Erfindung von Verbrechen sind und weil anerkannte Wissenschaftler ihre Zweifel an dieser Hypothese ausgedrückt haben, können wir diese Ergebnisse nicht akzeptieren, solange nicht unabhängige Experten mit der höchsten Qualifizierung dieselben Gutachten durchführen. In diesem Sinne wiederholen wir unser Vertrauen in das argentinische Forensiker-Team und fordern, dass alle Hindernisse beseitigt werden, damit es seine Aufgabe unter den besten Bedingungen ausführen kann.

b) Die Untersuchung darf nicht für beendet erklärt werden, weil die Aussage von Felipe Rodríguez Salgado, entgegen den Behauptungen der Generalstaatsanwaltschaft, nicht entscheidend ist, um das in Cocula Geschehene aufzuklären, weil, wie in der Pressekonferenz behauptet, diese Person nicht erklärte, während der gesamten Zeit, die diese Vorfälle dauerten, am Ort anwesend gewesen zu sein.

c) Die Untersuchung darf nicht für beendet erklärt werden, weil die von der Generalstaatsanwaltschaft veröffentliche Information in übertriebenem Maße von Personenaussagen abhängt, die leicht erzwungen sein könnten, denn es ist ein offenes Geheimnis, dass die Folter in Mexiko eine übliche Praxis ist. Diesbezüglich wurde Information  über eine mögliche Folter der Beschuldigten öffentlich, ohne dass sich die Nationale Menschenrechtskommission eingeschalten hätte, um diese Anzeigen zu prüfen.

d) Die Untersuchung darf nicht für beendet erklärt werden, weil die Staatsanwaltschaft weder heute, noch in einer anderen Pressekonferenz begründet hat, wie sie entsprechend ihrer Theorie den grausamen Mord an Julio César Mondragón erklärt, dessen junger Körper ohne Gesicht in der Nähe, wo sich die Geschehnisse abgespielt haben, aufgefunden wurde. Wie erklärt Herr Murillo diesen Tatbestand, der bis heute unaufgeklärt ist?

e) Die Untersuchung darf nicht für beendet erklärt werden, weil der mexikanische Staat sich vier Monate nach den Ereignissen unfähig gezeigt hat, diejenigen festzunehmen, die seiner Hypothese nach die Verantwortlichen sind. Die Bundesregierung hat es nicht geschafft, den Hauptverantwortlichen der korrumpierten Polizei von Iguala, Felipe Flores Velázquez, zu verhaften, ebenso wenig wie seinen Komplizen und Untergebenen Francisco Salgado Valladares. Auch war sie nicht fähig Gildardo Astudillo, bekannt als Cabo Gil, zu verhaften, dem die Generalstaatsanwaltschaft selbst große Wichtigkeit in ihrer Darstellung der Fakten einräumt. Außerdem sind elf der 15 Personen, die laut Staatsanwaltschaft in Cocula waren, flüchtig. Gleiches gilt für den Anführer der Guerreros Unidos, Ángel Casarrubias Salgado, bekannt als El Mochomo. Angesichts so vieler Flüchtiger, wie will die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen einstellen?

f) Die Untersuchung darf nicht für beendet erklärt werden, weil die Generalstaatsanwaltschaft bist jetzt noch kein einziges Strafverfahren wegen der Entführung von Personen eingeleitet hat. Diese wäre aber die geeignete Rechtsform, um die Fakten zu klären, da, wie bekannt ist, jeder in Mexiko rief: es war der Staat, der unsere Kinder verschleppt hat. Solange der Fall nicht unter dem richtigen Recht und den richtigen Rechtsbegriffen gehandhabt wird, darf der Fall nicht abgeschlossen werden.

g) Die Untersuchung darf nicht für beendet erklärt werden, weil in der gleichen Akte, in der die Aussagen der angeblichen Mörder aus Cocula enthalten sind, auch andere Aussagen von Auftragsmördern aus Iguala verzeichnet sind, die gestanden haben, unsere Kinder nicht in Cocula, sondern in Pueblo Viejo und Cerro de Parota angegriffen zu haben. Wie erklärt Herr Murillo, die einander wiedersprechenden Geständnisse, die in einer einzigen Akte enthalten sind?

h) Die Untersuchung darf nicht für beendet erklärt werden, da im Gegensatz zu dem heute auf der Konferenz Gesagten, es nur Gewissheit über den Tod eines entführten Studenten gibt. Diese Gewissheit impliziert nicht automatisch die Gewissheit über den Tod der übrigen Studenten und über den Ort des Geschehens. In diesem Sinne ist es ein rechtlicher Fehler zu sagen, dass wegen Mordes ermittelt wird, wenn der Fall eigentlich als eine Entführung mit dem erschwerenden Umstand der Tötung vermerkt wurde, was juridisch gesehen einen signifikanten  Unterschied ergibt.

i) Die Untersuchung darf nicht für beendet erklärt werden, weil die Verantwortung des Heeres noch nicht ermittelt wurde, da es, entgegen den Behauptungen der Generalstaatsanwaltschaft, in den Akten Hinweise einer Komplizenschaft mit dem organisierten Verbrechen gibt. So bekräftigte der Polizist Salvador Bravo Bárcenas vor der Generalstaatsanwaltschaft, dass das Heer seit 2013 wusste, dass Guerreros Unidos die Polizei von Cocula kontrollierte, aber die Streitkräfte ermittelten nicht gegen diese Verbrecher, sondern gewährten ihnen stattdessen Schutz.

j) Die Untersuchung darf nicht für beendet erklärt werden, weil man noch nicht einmal angefangen hat, die Verantwortlichen für die politische Korruption ausfindig zu machen, die die Vorfälle des 26. Septembers erst ausgelöst hat. Ermittlungen gegen andere Bürgermeister, wie jener von Cocula, sind noch ausständig, genauso wie gegen andere Beamten des Bundesstaates Guerrero.

Angesichts des Fehlens von Gerechtigkeit und Wahrheit in Mexiko, wenden sich die Angehörigen an internationale Instanzen. Daher wird in Kürze eine Delegation von uns zum Ausschuss der Vereinten Nationen für das gewaltsame Verschwinden von Personen gehen, um die Vorgehen in Mexiko anzuzeigen.

Vergessen wir zudem nicht, dass die Interamerikanische Menschenrechtskommission eine Expertengruppe ernannt hat, die in Kürze die technische Überprüfung der von Mexiko durchgeführten Untersuchung einleiten wird. Diese Überprüfung ist unentbehrlich, weil wir wissen, dass sie viele Unregelmäßigkeiten finden werden.

Wir bitten die mexikanische Bevölkerung, uns nicht alleine zu lassen und Verständnis für unseren Kampf aufzubringen. Gegenüber der Bundesregierung, die eilends den Fall Ayotzinapa schließen will, fordern wir unser Recht ein, Zweifel an den Behörden anzubringen, die ein ums andere Mal Akten verfasst haben, um aus der Krise, die ihre Unfähigkeit unter Beweis stellt, zu kommen. Wir fordern ebenfalls ein, uns mit Würde zu behandeln, denn das Zeitempfinden der Opfer ist ein anderes, als jenes der Politiker.

In der heutigen Pressekonferenz behauptete die Generalstaatanwaltschaft, dass das Verschwinden unserer Söhne ein "untypischer Fall" sei. Aber auf dem Weg, den wir in diesen vier Monaten zurückgelegt haben, haben wir festgestellt, dass die Verschleppung heute in Mexiko eine allgemeine Realität ist. Die Generalstaatanwaltschaft lügt, wenn sie feststellt, dass das Verschwindenlassen von jungen Menschen und die Existenz von Narcoregierungen untypisch seien, im Gegenteil, das ist das leidende Gesicht unserer Nation. Zum Ende des vergangenen Jahres, stieg das Nationale Register der Verschwundenen auf 26.000 Personen an. Es handelt sich um Familien, wie unsere, die Schmerz und Ungewissheit durchmachen. Deshalb werden wir weiterkämpfen für Gerechtigkeit und Wahrheit, bis wir eindeutige Gewissheit über den Verbleib unserer Söhne haben und bis wir Mexiko verändert haben, damit keine Familie mehr durchleben muss, was wir durchleben.

Lebend haben sie sie mitgenommen, lebend wollen wir sie wieder!

Ayotzinapa lebt!