Nicolás Maduro: In unserer Demokratie geht es darum, unser Volk zu schützen

Der amtierende Präsident von Venezuela und Kandidat der Linksbündnisses Frente Amplio de la Patria hat am 3. Mai in der spanischen Tageszeitung El Pais einen Text publiziert, in dem er über die Wahlen am 20. Mai, die Wirtschaft und die Richtung des bolivarischen Prozesses spricht

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Kundgebung am 1. Mai in Venezuelas Hauptstadt Caracas
Kundgebung am 1. Mai in Venezuelas Hauptstadt Caracas

Unsere Demokratie ist anders als jede andere. Denn alle anderen Demokratien ‒ in praktisch allen Ländern der Welt ‒ wurden von und für die Eliten geschaffen. In diesen Demokratien gilt als gerecht, was für einige wenige vorteilhaft ist. Sie sind klassenorientierte Demokratien, in denen die die Vielen in der Anzahl als mehr, aber in der Qualität als weniger angesehen werden.

Aber nicht in Venezuela. In Venezuela ist Demokratie für die Vielen da, und gerecht ist, was gut für alle Menschen ist. Und weil sich die Bedürfnisse der Menschen ständig verändern und erneuern, ist unser Projekt ein revolutionäres Projekt im permanenten Wandel.

Zum Beispiel war es in Venezuela vor 20 Jahren ganz normal, unter gewalttätigen Bedingungen geboren zu werden. Niemand von uns hat je daran gedacht, dass bei der Geburt nicht nur die Gesundheit des Neugeborenen gefährdet ist, sondern auch die Gesundheit und die Rechte der Mutter und ihrer Familie. Aber die Revolution veränderte sich und wurde feministisch. Und so beschlossen wir, sexistische Gewalt in unserem Gesundheitssystem zu beseitigen und Frauen durch das nationale Programm für eine menschenwürdige Geburt zu fördern, das ihr persönliches Lebensprojekt und ihre Entscheidungen über die Geburt und Erziehung ihrer Kinder respektiert.

Vor zwanzig Jahren, vor unserer Bolivarischen Revolution, war es normal, jungen Menschen die Schuld für ihre eigene Arbeitslosigkeit zu geben und es war ein weit verbreiteter Glaube, dass arme Menschen arm sind, weil sie faul sind und daher schlechte Gesundheit, Hungerlöhne und kein Dach über dem Kopf verdient hatten.

Aber die Dinge änderten sich, als wir an die Regierung kamen. Wir haben nachdrücklich geltend gemacht, dass es nicht gerecht ist, wenn Menschen, die den ganzen Tag arbeiten, arm bleiben. Deshalb haben wir unter den chavistischen Regierungen eine Politik der Vollbeschäftigung verfolgt, und deshalb hat meine eigene Regierung mit dem System "Carnet de la patria" (Heimatausweis), das alle venezolanischen Frauen und Männer digital integriert, den Jugendbeschäftigungsplan Chamba Juvenil ins Leben gerufen, um unseren jungen Menschen Zugang zu Arbeitsplätzen und eine Zukunft zu garantieren.

Vor zwanzig Jahren haben wir auch gesagt, es ist ungerecht, dass Wohneigentum ein Wunschtraum für die Menschen und eine Realität nur für die Eliten ist, und so haben wir den Wohnungsbauplan Gran Misión Vivienda geschaffen, der es uns ermöglicht hat, über zwei Millionen hochwertige Häuser zu bauen und kostenfrei an Familien zu übergeben und mit dem wir in nur wenigen Jahren fünf Millionen fertiggestellte Häuser erreichen wollen.

Ab diesem Jahr werde ich zusätzlich einen neuen Sozialversicherungsplan einführen, damit Venezuela wieder die Art von Bildung und Gesundheitsversorgung haben kann, die es vor dem Ausbruch des Wirtschaftskrieges hatte und die uns einst zu einem Vorbild für ganz Lateinamerika gemacht hat.

Diese Sozialversicherung wird auf einer Wirtschaft aufbauen, die produktiv, stabil, souverän und prosperierend ist und nicht den Höhen und Tiefen der Ölpreise ausgesetzt ist.

Die wirtschaftliche Revolution in dieser neuen bolivarischen Periode muss innovativ und kreativ sein. Wir haben beschlossen, auf die unmenschliche Handelsblockade zu reagieren, der uns die Regierungen der USA und Europas unterwerfen und die unserem Volk so viel Schaden zugefügt hat, indem wir die erste Kryptowährung der Welt geschaffen haben, die durch Ressourcen gestützt ist: den Petro, dessen Gewinne bereits und unmittelbar in die Menschen investiert werden, so wie wir es immer getan haben.

Denn für uns ist ein wesentlicher Teil der Demokratie, dass die Wirtschaft dem Volk dienen soll und nicht das Volk im Dienst der Wirtschaft steht. Eine Ökonomie, die aus reiner Spekulation besteht, eine Ökonomie, die nicht das Wohlergehen und die Souveränität des Volkes in den Vordergrund stellt, bedeutet heute Hungersnot und morgen Festessen ‒ aber Festessen nur für das Imperium. Die Wirtschaft steht im Mittelpunkt unseres revolutionären Projekts. Aber für mich stehen die Menschen an erster Stelle. Entweder steht die Wirtschaft im Dienste des Volkes, oder sie ist Missbrauch. Für uns Bolivarianer bedeutet Wirtschaft Gerechtigkeit und Demokratie bedeutet Schutz.

In Venezuela verwenden wir einen schönen Ausdruck, um unsere Freunde zu beschreiben: "Mi pana"1. Es gibt mehrere Erklärungen dafür, aber für mich hat es damit zu tun, dass in diesem Land ein Freund wie ein Teil von dir selbst ist. Und genau darum geht es uns Bolivarianern beim demokratischen Zusammenleben. Unsere Demokratie ist eine der "Panas", da für uns ist die Heimat unser "Pana" und andere Menschen sind Teil von uns selbst. Denn für uns kann es Freiheit und Demokratie nur geben, wenn es andere gibt, die anders denken, und einen Raum, in dem sie ihre Identität und Unterschiede ausdrücken können. Deshalb haben wir uns im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen am 20. Mai leidenschaftlich für Transparenz, Respekt vor anderen und Achtung der Wahlgesetze eingesetzt. Wir konkurrieren mit vier anderen Kandidaten, jeder von ihnen anders, aber alle respektieren das Abkommen über die demokratischen Garantien, das von 14 der 18 bestehenden politischen Parteien in Venezuela unterzeichnet wurde. Der Prozess wird sauber und vorbildlich sein, genau so oder noch mehr als die Dutzenden von Wahlen, an denen Venezolaner in den vergangenen zwei Jahrzehnten teilgenommen haben.

Was vor sich geht, ist, dass wir es satt haben, in dieser polarisierten Weise zu leben, und beschlossen haben, die politische Gewalt der Guarimbas2 in eine verfassunggebende Macht umzuwandeln und einander in einer Verfassung zu finden, die vom Volk und für das Volk gemacht wurde.

Deshalb verstehe ich die Verzweiflung der Eliten, die Jahrzehnte damit verbracht haben, das Volk in ein Lager aus Populismus, Beleidigung, Tyrannei und Barbarei zu verwandeln. Unsere Demokratie ist dagegen eine Demokratie, die stolz darauf ist eines des Volkes zu sein, daran besteht kein Zweifel. Es ist eine Demokratie der Leute.

Es ist eine Demokratie, die auch lateinamerikanisch, afrikanisch und indigen ist. Denn hier in Venezuela haben wir einen Gründungsritus und -mythos. Wir haben Bolívar und Chávez. Sie sind nicht Vergangenheit, sondern Geschichte. Und als Geschichte sind sie auch unsere Gegenwart, denn sie sind der Sinn, von dem aus wir unsere Zukunft steuern. Wir sind eine einzigartige Demokratie, weil wir eine Demokratie der "Panas" sind: gerecht, lateinamerikanisch, populär, bolivarianisch, und wo der Andere das Heimatland ist und das Heimatland jeder von uns ist, hier und jetzt, bewegen wir uns gemeinsam vorwärts.

Denn wie Neruda gesagt hat:

Ich glaube, dass wir uns nicht in der Höhe vereinigen werden
Ich glaube, dass uns unter der Erde nichts erwartet
aber auf der Erde gehen wir zusammen
Unsere Einheit ist auf der Erde.

  • 1. Als "Pana" wird in Venezuela eine Person bezeichnet, zu der eine enge Freundschaft besteht und die quasi zur Familie gehört
  • 2. Als Guarimbas werden gewaltsame Straßenproteste der Opposition gegen die linke Regierung bezeichnet. Dabei werden unter anderem Straßenblockaden mithilfe gefährlicher Hindernisse (etwa mit Kabeln, Stacheldraht, auf dem Asphalt ausgeschüttetem Öl, gefällten Bäumen oder Schutt) errichtet und angezündet und Sicherheitskräfte attackiert, die die Barrikaden räumen