Brasilien / Politik

Lula da Silva: "Ich möchte alle aufrufen, die Demokratie zu schützen"

Offener Brief des inhaftierten früheren Präsidenten von Brasilien, Luiz Inácio Lula da Silva, zur Stichwahl um die Präsidentschaft am 28. Oktober

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Fernando Haddad, der PT-Kandidat für die Präsidentschaftswahlen, mit Lula-Maske
Fernando Haddad, der PT-Kandidat für die Präsidentschaftswahlen, mit Lula-Maske

Meine Freundinnen und meine Freunde,

wir kommen ans Ende einer Wahlauseinandersetzung mit der Drohung eines enormen Rückschlags für das Land, eines Rückschritts für die Demokratie und unsere so leidgeprüften Mitmenschen. Es ist der Moment uns zu vereinen: Wir, das Volk, die Demokraten, alle vereint für die Kandidatur von Fernando Haddad, um unser Projekt für soziale Gerechtigkeit und die Verwirklichung der Demokratie in Brasilien wieder aufzunehmen.

Seit über 40 Jahren bin ich im Land unterwegs um Hoffnung in den Herzen unseres Volkes zu entfachen. Stets waren wir Vorurteilen ausgesetzt, Lügen und gar Gewalt, und dennoch ist es uns gelungen, tiefes Vertrauen bei den Arbeitern zu verankern, bei den Ärmsten der Menschen und bei den verantwortungsbewussten Teilen der brasilianischen Gesellschaft.

Unser Weg war der des Dialogs und der, das Selbstbewusstsein unserer Bürger zu wecken, womit wir 2002 an die Präsidentschaft der Republik gelangten um das Land zu verändern. Unser Volk weiß das, und in der Geschichte ist registriert, was wir gemeinsam geleistet haben um Hunger und Elend zu überwinden, um Arbeitsplätze zu schaffen und Löhne aufzuwerten, um neue Möglichkeiten zu schaffen, Schulen und Universitäten für junge Menschen zu öffnen und um die nationale Souveränität zu sichern und Brasilien zu einem weltweit respektierten Land zu machen.

Ich bin sicher, dass wir das Beste für Brasilien und unser Volk getan haben. Aber ich weiß, dass wir damit mächtigen Interessen innerhalb und außerhalb des Landes entgegenstanden. Genau deswegen versuchen sie unser Bild zu zerstören, sie wollen die Geschichte umschreiben und wollen die Erinnerung des Volkes auslöschen. Aber das werden sie nicht schaffen.

Um 2016 die Regierung der Präsidentin Dilma Rousseff zu stürzen, haben sie alle Medien mobilisiert, Rede Globo an der Spitze, dazu parteiische Sektoren der Justiz, um die PT mit Korruption in Verbindung zu bringen. Es gab Stunden um Stunden im "Jornal Nacional" und in allen Nachrichtensendungen der Globo mit der Behauptung, die Korruption bei Petrobrás und im ganzen Land sei von uns erfunden worden.

Vor der Öffentlichkeit verschleierten sie, dass "Lava Jato" und die anderen Ermittlungen nur möglich waren, weil unsere Regierungen es gewesen waren, die zentrale Rechnungsprüfung, Bundespolizei, Staatsanwaltschaft und Justiz gestärkt hatten. Deswegen und dank der neuen Gesetze, die wir im Kongress durchgesetzt hatten, war es damit vorbei, allen Schmutz unter den Teppich zu kehren, so wie es in unserem Land immer gewesen war.

Trotz aller Verfolgung, die sie gegen die PT gerichtet haben, hat das Vertrauen des Volkes in unser Projekt nicht nachgelassen, wie sich in Meinungsumfragen zeigte und in der überwältigenden Resonanz auf unseren "Marsch durch Brasilien". Alle wissen, dass ich gegen jedes Recht verurteilt wurde, in einem Prozess voller Willkür und ohne Beweise, denn offensichtlich wäre ich bereits im ersten Durchgang zum brasilianischen Präsidenten gewählt worden. Aber wir leisten Widerstand und haben den Genossen Fernando Haddad zu unserem Kandidaten gewählt, der durch die Stimmen des Volkes die Stichwahl erreichte.

Bei dem, was wir seither erleben, handelt es sich um eine skandalöse Art von schwarzer Kasse um eine Industrie der Lügen und des Hasses gegen die PT zu schmieren. Von dort, wo ich mich derzeit befinde, seit über sechs Monaten gegen jedes Recht gefangen darauf wartend, dass ein Tribunal endlich wahrhaftiges Recht spricht, gilt meine größte Sorge dem heraufkommenden Leid des Volkes, sollte der Kandidat der Mächtigen und Geldbesitzer gewählt werden. Und jeden Tag aufs Neue frage ich mich: warum soviel Hass gegen die PT?

Ist es, weil wir 36 Millionen Menschen aus dem Elend geholt und 40 Millionen in die Mittelklasse geführt haben? Weil wir Brasilien von der Weltkarte des Hungers geholt haben? Oder weil wir in zwölf Jahren 20 Millionen Arbeitsplätze mit Sozialversicherung geschaffen und den Mindestlohn um 74 Prozent erhöht haben? Oder vielleicht, weil wir die staatlich finanzierte Gesundheitsversorgung (SUS) gestärkt, die Zentren zur medizinischen Basisversorgung (UPAS) und die mobile Notversorgung (SAMU) geschaffen haben, die jeden Tag tausenden Menschen Gesundheit und Leben retten?

Oder hassen sie uns, weil wir die Tore der Universitäten für fast vier Millionen Schüler der öffentlichen Schulen geöffnet haben, für Schwarze und für Indigene? Weil wir in 126 Städte des Landesinneren Universitätsausbildung gebracht haben und dort über 400 Fachschulen aufgebaut haben, um jungen Menschen nahe bei ihren Familien eine Ausbildung zu ermöglichen?

Vielleicht verabscheuen sie uns, weil wir den denkbar größten Entwicklungszyklus einschließlich sozialer Teilhabe in die Wege geleitet haben und das Bruttoinlandsprodukt um den Faktor 5 vergrößert haben und den Außenhandel um den Faktor 4. Vielleicht verachten sie uns auch, weil wir in die Erkundung der Ölreserven Pré-Sal investiert und aus der Petrobrás eine der weltweit größten Ölgesellschaften gemacht haben, womit wir unserer maritime Industrie und die produktiven Öl- und Gasnetze vorangetrieben haben.

Vielleicht hassen sie die PT, weil wir eine lautlose Revolution für den Nordosten gemacht haben, mit Wasser für die, die unter der Trockenheit leiden, mit Strom und Licht für die im Dunkeln, mit Schiffswerften, Raffinerien und Industrie für die Region. Oder weil wir den Traum nach einem eigenen Heim erkannt und Häuser für drei Millionen Familien im ganzen Land gebaut haben, womit wir eine Verpflichtung erfüllten, die frühere Regierungen niemals wahrgenommen hatten.

Vielleicht haben sie Hass auf die PT, die die Tore des Regierungssitzes für die Armen geöffnet hat, für die Schwarzen, die Frauen, die LGBTI, die Obdachlosen, die Landlosen und die Leprösen, für die Quilombolas und alle, die im Lauf der Jahrhunderte diskriminiert und vergessen wurden. Ob sie uns verachten, weil wir als erste in diesem Land den Dialog und die soziale Teilhabe für die öffentlichen Angelegenheiten praktizierten? Und hassen sie uns vielleicht, weil wir niemals die Freiheit der Presse und des Wortes angetastet haben?

Oder hassen sie die PT, weil Brasilien nie zuvor in solchem Maße weltweit respektiert war, mit einer Außenpolitik, die nicht abschätzig mit Bolivien sprach und nicht botmäßig den USA gegenüber? Unser Land, das international anerkannt wurde, weil es seinem Volk ein besseres Leben in absoluter Demokratie möglich gemacht hatte.

Ob sie wohl die PT hassen, weil wir es waren, die die allerwirksamsten Instrumente gegen die Korruption eingesetzt hatten und alle diejenigen öffentlich benannten, die beim Missbrauch öffentlicher Gelder mitgemacht hatten?

Ich bin sehr stolz auf das Erbe, das wir dem Land hinterließen, insbesondere dessen Bekenntnis zur Demokratie. Unsere Partei entstand im Widerstand gegen die Diktatur und im Kampf um die Demokratisierung des Landes, welcher uns soviel Leid, soviel Blut und soviele Menschenleben gekostet hat.

In diesem Moment, wo die Drohung eines Faschismus über Brasilien liegt, möchte ich alle aufrufen, die Demokratie zu schützen und sich mit unserem leidgeprüften Volk zusammenzuschließen; die Arbeiter in den Städten und auf dem Land, die organisierte Zivilgesellschaft, um den demokratischen Rechtsstaat zu verteidigen.

Divergenzen unter uns werden wir in offenen Debatten klären, mit Argumenten, per Votum. Wir haben nicht das Recht, den Sozialpakt der Verfassung von 1988 aufzugeben. Wir können nicht zulassen, dass die Verzweiflung Brasilien in ein faschistisches Abenteuer führt, so wie wir es in anderen Ländern im Verlauf der Geschichte mitansehen mussten.

In diesem Moment geht es zu allererst um die Zukunft unseres Landes, der Demokratie und unseres Volkes. Jetzt ist die Zeit, Fernando Haddad zu wählen, der für das Überleben des demokratischen Paktes einsteht, ohne Furcht und ohne Schwanken.

Luiz Inácio Lula da Silva

24. Oktober 2018