Kolumbien / Politik

Kolumbien: "Was sie heute Friedensabkommen nennen, ist nicht das, was in Havanna vereinbart wurde"

Offener Brief ehemaliger Farc-Kommandanten an den inhaftierten Jésus Santrich zum Stand der Umsetzung des Friedensabkommens

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Zwei der Unterzeichner des offenen Briefs: Iván Márquez (links), der Leiter der Farc-Delegation bei den Friedensverhandlungen mit der Regierung und Óscar Montero, wie Márquez Mitglied des Zentralen Oberkommandos der Guerilla
Zwei der Unterzeichner des offenen Briefs: Iván Márquez (links), der Leiter der Farc-Delegation bei den Friedensverhandlungen mit der Regierung und Óscar Montero, wie Márquez Mitglied des Zentralen Oberkommandos der Guerilla

Lieber Jésus Santrich1,

wir überbringen dir unseren herzlichen, brüderlichen Gruß und die Zuneigung tausender Guerilleros, die in den Wiedereingliederungszonen oder im Land verteilt sind und auf Neuigkeiten über die Erfüllung der Friedensvereinbarungen warten, und auch von den gutwilligen Menschen dieses Landes, die deine Freiheit wünschen und voller Sehnsucht nach Frieden sind.

Wir sind von ganzem Herzen bei dir. Wir versichern dir erneut unsere uneingeschränkte Solidarität. Wir sind stolz auf deine Würde, die wir mit der von Simon Trinidad2 gleichsetzen. Eine mögliche Auslieferung von dir aufgrund eines plumpen juristischen Konstrukts der DEA und der Staatsanwaltschaft oder die ungerechtfertigte Aufrechterhaltung deiner Inhaftierung würden das unwiderrufliche Scheitern des Friedens bedeuten. Stück für Stück fallen die Lügen von Staatsanwalt Martínez in sich zusammen. Wenn es keine Beweise gegen dich gibt, sollte dies zu deinen Gunsten ausgelegt werden und zu deiner sofortigen Freilassung führen.

Uns erstaunt die unverhohlene Einmischung des US-Botschafters in die inneren Angelegenheiten des Landes, ohne dass irgendeine Institution die Würde des Landes und die Stimme unserer politischen und rechtlichen Souveränität vertritt. Herr Whitaker sollte im Geiste der in Kolumbien akkreditierten Diplomaten handeln, die sich weder in unsere inneren Angelegenheiten einmischen noch den Frieden untergraben, um ihn zunichte zu machen.

Der Friedensprozess muss heute dem brutalen Druck sehr mächtiger Leute standhalten, die an der Gewalt beteiligt waren und sind, und die Befehle an die staatlichen Einsatzkräfte gaben, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen; Leute, die an Straflosigkeit und Finsternis gewöhnt sind, denen Sonne und Wahrheit Angst machen und die deshalb das Chaos bevorzugen, um die Hoffnung zu begraben, dass Kolumbien seine Zukunft auf der Grundlage des Friedensabkommens gestaltet.

Aus diesem Grund konnte der Friedensvertrag von Havanna, von seinen Gegnern "das verfluchte Papier" genannt, bisher das Feuer des Konflikts noch nicht löschen. Es gibt Personen, denen es derart an Menschlichkeit mangelt und die so wahnsinnig sind, dass sie, nachdem sie das Abkommen in Stücke gerissen haben, jetzt auch noch seine Ruinen zerstören wollen.

Was sie heute Friedensabkommen nennen, ist nicht das, was beide Seiten in Havanna vereinbart haben. Es ist ein eine Art grauenerregendes Frankenstein-Monster.

Vergleichen wir es mit dem Text des Abkommens vom 24.November 2016, der vom Kongress der Republik gegengezeichnet wurde, können wir feststellen, dass sie ihm den Geist genommen und das Wesentliche geändert haben - durch Tat und Gnade der rechtswissenschaftlichen Auslegung, der juristischen Umsetzung und der Niederträchtigkeit des Staates. Diese Machtzweige ignorieren mit einem Schulterzucken die Existenz des Prinzips pacta sunt servanda3, das besagt, dass jeder geltende Vertrag die Parteien bindet und nach Treu und Glauben von ihnen erfüllt werden muss.

Aber sie haben mitten im Spiel einseitig die Regeln geändert ohne zu berücksichtigen, dass dieses Rechtsprinzip Teil des kolumbianischen Rechtssystems war und ist. Scheinbar haben sie sich nicht klar gemacht, dass, indem sie den Vereinten Nationen das Abkommen in Form einer einseitigen Einhaltungserklärung vorgelegt und es zu einem Sonderabkommen gemäß Artikel 3 der Genfer Konventionen gemacht haben, der Staat internationale Verpflichtungen übernimmt, die er nicht umgehen kann. Wie Enrique Santiago sagt: "Ein Abkommen kann aufgrund seines bilateralen Charakters nur durch eine gemeinsame Vereinbarung zwischen den Parteien, die es unterzeichnet haben, verbessert werden. Jede andere Annahme ist eine grobe Missachtung des Willens und der Legitimität der Parteien und in diesem Fall wäre es eine Verfälschung der Geschichte ohne jegliche Rechtsgültigkeit und mit dramatischen politischen Konsequenzen für Kolumbien.“

Santrich, wir sollten allen Guerilleros in den Übergangszonen und all jenen, die sie heute verlassen, empfehlen, den Artikel von Enrique Santiago zu diesen Themen zu studieren, der in Revista IZQUIERDA #76 veröffentlicht wurde. Das ist grundlegend für das Verständnis des Scheideweges zwischen Frieden und Krieg.

Die Änderungen am Inhalt des Abkommens durch den Staat sind gleichzeitig problematisch und besorgniserregend: Wenn die Sonderjustiz für den Frieden (Jurisdicción especial para la paz, JEP) für alle am Konflikt Beteiligten konzipiert ist, warum schließen sie dann Dritte aus ihrer Zuständigkeit aus, die Zivilisten oder Staatsbedienstete sind, welche nicht den staatlichen Sicherheitskräften angehören und die in dieser oder jener Weise Kolumbianer durch ihre Entscheidungen und Handlungen geschädigt haben? Man muss es wiederholen: Die Sonderjustiz wurde nicht nur für die Guerilla vereinbart, sondern für alle Akteure des Konflikts.

Zweifellos begeht die gerissene herrschende Klasse hinsichtlich der Streitkräfte einen großen juristischen und politischen Fehler: Die Militärs wissen genau, dass sie die Befehle von der politischen Führung bekommen haben und sollten sich nicht von Sirenengesängen anziehen oder beeindrucken lassen, die nur darauf abzielen, die ranzige politische Kaste des Regimes vor ihrer Verantwortung im Konflikt zu bewahren, um sie ganz einfach den Streitkräften aufzuladen. Sie haben die Militärs im schmutzigen Krieg und für Gräueltaten benutzt und wollen sich jetzt die Hände reinwaschen wie Pilatus. Das ist nicht richtig und entspricht nicht der Wahrheit.

Sie haben die Streitkräfte die ganze Zeit benutzt, um sich an der Macht zu halten, während sie sich durch Korruption bereichert und Privilegien zugeschanzt haben.

Jetzt versuchen sie durch einen Rechtsakt innerhalb der Sonderjustiz spezielle Kammern einzurichten, um die Vorwürfe gegen Angehörige der Streitkräfte im Rahmen des Konflikts mit Richtern staatlicher Institutionen zu lösen, die Experten für ein ein unvermitteltes "operatives Recht" sein sollen, während dafür doch die internationalen Normen des Kriegsvölkerrechts existieren. Dadurch wird nur Durcheinander ausgelöst.

Díe Guerilleros haben immer unter Normen und einem strengen Disziplinarregime gehandelt, durch das viele von ihnen bestraft wurden. Die "aufständische Rechtssprechung" in der Guerilla hatte den selben Sinn wie das "operative Recht" 4 bei den Streitkräften. Aber das schwerwiegendste und riskanteste bei der Schaffung von Spezialkammern für Militärs mit ad hoc Richtern oder Richtern à la carte ist, dass sie, wenn die Straflosigkeit begünstigt wird, auf den Bänken des Internationalen Strafgerichtshofs enden könnten.

Es ist offensichtlich, dass dies ein Trick der Politiker ist, um hinauszuzögern, dass die Wahrheit über das, was im Konflikt passiert ist und über die wirklich Verantwortlichen ans Licht kommt.

Santrich, diese Rechtsunsicherheit, die seit deiner ungerechtfertigten Verhaftung Misstrauen im gesamten rebellischen Guerilla-Universum verbreitet, trifft uns sehr.

Fehlt nur noch, dass die DEA eine Anklage erfindet, damit das Gespenst einer betrügerischen Auslieferung an die USA geweckt wird, womit sie den Frieden in das tosende Meer der Konfrontation stürzen würden.

Zu diesem Misstrauen kommt hinzu das historische Misstrauen aus der bekannten Tatsache, dass die wichtigsten Kommandanten der Aufständischen bei den Friedensgesprächen, wie Guadalupe Salcedo, Jacobo Prías Alape (Charro Negro), Carlos Pizarro, Iván Marino Ospina, Alvaro Fayad und andere, ebenso wie die Präsidentschaftskandidaten Jaime Pardo und Bernardo Jaramillo von der Unión Patrotica 5 – die als Folge des Abkommens von La Uribe entstand – ermordet wurden.

Dieser extreme Verrat, diese schamlose Niedertracht des Establishments ist es, die es unmöglich gemacht hat, einen stabilen und dauerhaften Frieden aufzubauen.

Was können sie uns über die Morde an mehr als 80 Guerilleros nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Havanna sagen? Das ähnelt schon dem Genozid an der UP, der als Staatspolitik exekutiert worden ist. Warum halten sie Farc-Guerilleros immer noch in Haft, entgegen der Vereinbarung, die besagt dass sie freikommen und sich der Sonderjustiz unterstellen müssen? Wenn Sonia ihre Strafe in den USA bereits verbüßt hat, warum wird sie nicht freigelassen oder warum wird sie nicht an die JEP übergeben? Sie ist jetzt im Hungerstreik. 6Wir haben vereinbart, dass die Waffen aus der Politik herausgenommen werden, warum töten und vernichten sie weiterhin die Anführer sozialer Bewegungen dieses Landes, es sind bereits mehr als 270 Opfer?

Der Staat soll sich der Zweiten UN-Mission, den Garantieländern, den begleitenden Ländern, den bekannten Persönlichkeiten, der Europäischen Union und allgemein der internationalen Gemeinschaft stellen und Rechenschaft ablegen, die nach einem halben Jahrhundert bewaffneter Konflikte das Schweigen der Waffen begrüßt hat.

Kolumbien muss aufwachen. Nur die ganze Nation kann mit massenhaften Aktionen in den Städten, auf dem Land, auf den Straßen das Verbrechen und den Betrug stoppen und den Staat zwingen, die in gutem Glauben unterzeichneten Abkommen einzuhalten und die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der verarmten Mehrheiten zu garantieren, auf denen der Frieden beruht.

Gut, Santrich, lass dich voller liebevoller Gefühle umarmen, verstärkt mit der Gewissheit, dass diese Zeit des Sturms und der Spannung eher früher als später in die Normalisierung des friedlichen kolumbianischen Lebens münden muss, wenn das Volk und der gesunde Menschenverstand es so entscheiden.

Bis bald.

Iván Márquez, Oscar Montero, Aldinéver Morantes, Edinson Romaña, Albeiro Córdoba, Iván Alí, Enrique Marulanda, Iván Merchán, Rusbel Ramírez und andere

17.November 2018

  • 1. Gegen Jésus Santrich, ehemaliger Farc-Kommandant und Mitglied der Verhandlungsdelegation bei den Friedensgesprächen, liegt auf Ersuchen der US-Drogenbehörde DEA ein internationaler Haftbefehl vor. Er wurde am 9. April verhaftet, befindet sich im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses La Picota in Bogotá und soll an die USA ausgeliefert werden. Die kolumbianische Staatsanwaltschaft hatte die Festnahme für rechtmäßig erklärt. Siehe auch das Interview von David Graaff mit Santrich: Kolumbien: "Im Sumpf der gescheiterten Friedensverträge"
  • 2. Simón Trinidad wurde im Jahr 2004 wegen angeblichen Drogenhandels und Geldwäsche von Kolumbien an die USA ausgeliefert. Beide diesbezüglichen Verfahren wurden eingestellt. Wegen Mitgliedschaft in der Farc-Guerilla und der Entführung von drei US-Agenten wurde er schließlich zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt
  • 3. Pacta sunt servanda (lat.; dt. Verträge sind einzuhalten) ist das Prinzip der Vertragstreue im öffentlichen und privaten Recht
  • 4. Operatives Recht (Derecho operacional): 1.Regelwerk, das direkt die Planung, Vorbereitung, Durchführung und Bewertung von militärischen Operationen betrifft, sei es in Zeiten von bewaffneten Konflikten, Frieden oder Stabilität oder bei der Entwicklung von Ma0nahmen zur Durchsetzung des Gesetzes durch die nationalen Streitkräfte. 2.Einbeziehung der von Kolumbien ratifizierten internationalen Verträge, der nationalen Gesetzgebung und der Rechtsprechung im Bereich der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts in die Planung, Durchführung und Überwachung von Operationen, Einsätzen und Verfahren der Sicherheitskräfte. (FFMM 3-41), MFRE 3-0. Siehe https://www.cedoe.mil.co/publicaciones/vocadoc/derecho_operacional
  • 5. Die Unión Patriótica war eine politische Bewegung, die 1985 nach den Friedensvereinbarungen zwischen der Regierung und den Farc gegründet wurde. In der UP sollten auch die ehemaligen Guerilleros am legalen politischen Kampf teilnehmen, dies war durch den kolumbianischen Staat garantiert worden. Der Oberste Gerichtshof in Bogotá anerkannte im Jahr 2012 die Ermordung von circa 5.000 führenden Mitgliedern der UP als Genozid
  • 6. Die früherer Farc-Guerillera Anayibe Rojas Valderrama alias Sonia, wurde im Februar 2004 in Kolumbien verhaftet und im März an die USA ausgeliefert, wo sie 2007 wegen Drogenhandels verurteilt wurde. Im August dieses Jahres hatte sie ihre Strafe abgesessen und wurde nach Kolumbien abgeschoben, wo sie erneut inhaftiert wurde