Venezuela

"Baduel will politische Mitte für sich gewinnen"

Exverteidigungsminister Venezuelas nahm Verfassungsreform zum Anlaß, sich bei Chávez-Kritikern einzureihen. Ein Gespräch mit Heinz Dieterich

Heinz Dieterich ist Soziologe und Ökonom. Seit 1977 ist er Professor an der staatlichen Metropolitan-Universität in Mexiko-Stadt

In Venezuela hat sich die Debatte um eine Reform der Verfassung verschärft. Nicht nur die Opposition greift das Projekt an. Selbst der ehemalige Verteidigungsminister Raúl Baduel hat das Vorhaben unlängst als »Staatsstreich« bezeichnet. Wie erklären Sie sich seinen Meinungswechsel?

Zunächst glaube ich, es ist überzogen, von einem »Staatsstreich« zu sprechen.

Warum sagt er es dann?

Er glaubt wohl, daß die Verfassungsreform der Exekutive zuviel Macht gewährt. Nach Baduels Meinung bedürfen zu viele Änderungen einer neuen verfassunggebenden Versammlung.

Eine solche Kritik wurde bislang aber nur von Regierungsgegnern geäußert.

Im wesentlichen schon, doch gibt es ebenfalls fundierte Kritik aus der trotzkistischen Gewerkschaftsbewegung, der sich bildenden Arbeiterpartei und der Partei Podemos, die Mitglied von Chávez' Regierungskoalition ist.

Während die Reformen dem regierungsnahen Gewerkschaftsverband nicht weit genug gehen, wollen Podemos, die politische Rechte und nun Baduel den Prozeß auf Reformen beschränken.

Das ist wahr. Die trotzkistischen Kreise der UNT kritisieren die Reform als »Klassenverbrüderung«. Baduel und Podemos kritisieren sie vom Standpunkt des bürgerlichen Demokratiesystems aus. Baduel denkt, daß die institutionellen Machtgleichgewichte zu sehr zugunsten der Exekutive verschoben werden. Die konstitutionellen Befugnisse des Volkes würden von ihr vereinnahmt.

Wie erklärt sich, daß Baduel ausgerechnet jetzt an die Öffentlichkeit tritt?

Er hat im Juli das Amt des Verteidigungsministers abgegeben, aber nun will er offensichtlich wieder eine zentrale Rolle spielen. Seine Kritik kam allerdings nur zum Teil überraschend. Schon in seiner Rücktrittsrede hat er kritisiert, daß die Debatte über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht ernsthaft geführt wird, und daß wenige Erfolge im Kampf gegen die Korruption zu verzeichnen sind. Auch sah er die Notwendigkeit, einen Nationalen Sicherheitsrat zur Verwaltung der staatlichen Erdölgesellschaft PdVSA einzusetzen. En zweiter Grund ist, daß die Verfassungsreform nun offiziell von der Nationalversammlung und dem Verfassungsgericht gebilligt worden ist.

Das alles hat nichts mit den Inhalten der Reform zu tun. Stellt sich Baduel mit seiner Kritik nicht auf die Seite der Reformisten, die einen neuen Sozialausgleich gutheißen, aber eine Revolution verhindern wollen?

Baduel sieht die größte Gefahr für die Revolution in der gegenwärtigen Regierungspraxis und in der mangelnden Kontrolle über die Exekutive. Er sieht, zu Recht oder Unrecht, die Gefahr autokratischer Tendenzen, die vom Präsidenten ausgehen.

Und welches Ziel hat er?

Falls Chávez keine Verhandlungslösung akzeptiert, wird Baduel versuchen, die politische Mitte des Landes und diejenigen Chávez-Anhänger, die aus dem einen oder anderen Grund enttäuscht sind, für sich zu gewinnen, um sich als Oppositionsführer der Mitte zu etablieren. Der Regierung ist es seit 1999 schließlich nicht gelungen, das oppositionelle Lager zu schmälern. Es liegt konstant bei 35 bis 40 Prozent.

Welche Konsequenzen hätte es, wenn Baduel sich durchsetzen würde?

Das würde dazu führen, daß das Regierungssystem von Präsident Chávez so nicht weitergeführt werden kann. Dies könnte die Regierung mittelfristig in Gefahr bringen. Und wenn Chávez die Staatsführung verliert, dann wäre der gesamte Integrationsprozeß in Südamerika aufgehalten.

Trotzdem haben Sie in einem Aufsatz für ein neues »strategisches Bündnis« zwischen Chávez und Baduel plädiert. Weshalb?

Weil möglicherweise nur so eine Fortführung des politischen Prozesses zugunsten der Mehrheit gewährleistet werden kann. Man sollte auch nicht vergessen, daß sich schon in der Vergangenheit Mitstreiter von Chávez gegen ihn gewandt haben. Generalleutnant Francisco Arias Cardenas tat das sogar in recht aggressiver Weise. Trotzdem wurde er Botschafter in Ecuador und später in der UNO. Und heute ist er Chef der entstehenden Vereinten Sozialistischen Partei im wichtigen Bundesland Zulia ...

...weil er den politischen Konsens der »bolivarischen Revolution« nicht verlassen hat, die auf einen Umbau des Staates abzielt. Baduel will aber gerade diesen Prozeß aufhalten.

Der Deal zwischen Arias Cárdenas und Chávez bestand darin, daß Cárdenas vertrauliche Informationen über die Subversion in Zulia übergab und dafür reintegriert wurde. Die entscheidende Frage ist jedoch folgende: Hat Chávez genügend Macht, um an der Interven­tion Baduels vorbei sein Modell autonom weiter auszubauen, oder zwingt ihn die Kräftekorrelation zu Bündnissen und Zugeständnissen? Davon hängt die nähere Zukunft des Landes ab.


Den Originalbeitrag in der Tageszeitung junge Welt finden Sie hier.