Die Schüler der Revolution

Die zwei größten Universitäten Venezuelas trennen nur wenige Minuten und doch Welten

Die Studenten, die nach rechts gehen, sind auf dem Weg zur Universidad Central de Venezuela (UCV), der größten eigenständigen Universität des Landes, deren Gebäude zum Weltkulturerbe der Unesco zählen. Überdachte Gänge verbinden die Fakultäten miteinander, sie schützen die Studenten vor karibischer Sonne oder Tropenregen, an den Wänden leuchten die Farben der Wandmosaiken, deren Replikate in so berühmten Museen wie der Tate Gallery in London hängen. Das Studium ist kostenlos, doch die besten Chancen, die Aufnahmeprüfung zu bestehen, haben Absolventen teurer Privatschulen, weil die öffentlichen Schulen als schlecht gelten. Acht von zehn Studenten der UCV sind gegen die Regierung von Staatspräsident Hugo Chávez, schätzt die Universitätsleitung.

Nely Marquez geht nach links. Die 28-Jährige muss noch ein paar Minuten laufen, bis sie zum Eingang der Universidad Bolivariana gelangt, der bolivarianischen Universität. Hier halten sie alle zum Staatspräsidenten, Studenten wie Dozenten, schließlich ist die Uni seine Schöpfung: gegründet 2003 mit dem Ziel, dass hier alle Venezolaner studieren dürfen - egal welche Schulnoten oder wie viel Geld sie haben. Der Präsident will hier die Fachkräfte für seine Revolution ausbilden, für sein Modell des Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wer hier Jura studiert, lernt etwas über die Rechtsgrundlagen von Kooperativen; Architekturstudenten werden in die Slums geschickt.

Eigentlich wollte Nely Marquez Public Relations oder Verwaltungswissenschaften auf der anderen Seite studieren, an der UCV. Aber sie fiel bei der Aufnahmeprüfung durch. "Ich wusste einfach nicht genug", sagt sie. Später hörte sie, dass, wer das Geld hat, für mehrere Tausend Dollar einen Studienplatz kaufen konnte, auch wenn er bei der Prüfung durchgefallen war. Um an der UCV zu studieren, braucht man einen Coupon. Eigentlich ist deren Anzahl begrenzt, aber die Dekane der Fakultäten können zusätzlich Extracoupons ausstellen. Wie viele pro Semester und unter welchen Bedingungen sie vergeben werden, das bestimmten sie selbst, sagt ein Studentensprecher der UCV, der nicht mit Namen genannt werden will. Ihm liegen Listen vor, auf denen Namen von neu eingeschriebenen Studenten auftauchen, die bei den Aufnahmeprüfungen durchgefallen sind. "Sie können in aller Ruhe studieren, niemand wird sie rausschmeißen", sagt er.

"Ein Skandal", findet Frank Calviño, der an der UCV Kommunikationswissenschaften studiert. Auch er hatte Angst, dass er bei der Aufnahmeprüfung durchfallen würde. Aber die Patres seiner Klosterschule beruhigten ihn: "Wir haben euch getrimmt." Und dann schaffte er alle 500 und noch einige Bonuspunkte, erzählt Frank, ein dünner 21-Jähriger mit heller Haut und blauen Augen. Er schaffte es, weil er anders als Nely eine gute Schule besuchen konnte. Heute studiert er im siebten Semester. Jeden Tag holt sein Vater ihn nach der Arbeit mit dem Auto ab und nimmt ihn mit nach Hause. Die Calviños wohnen in einem Haus mitten im Parque Caiza, einem Nationalpark, 40 Kilometer außerhalb von Caracas. Franks Mutter war Chirurgin, bis sie Augenprobleme bekam, der Vater ist Techniker in einer Kakaofabrik.

Warum holt ihn sein Vater jeden Tag ab wie einen kleinen Jungen? "Mit dem Bus zur Uni fahren, das wäre viel zu gefährlich", sagt Frank. "Als Weißer werde ich sofort ausgeraubt, seit Chávez gelten wir hier als Parias." Tatsächlich ist Venezuela eins der gefährlichsten Länder überhaupt: Laut einer UN-Studie ist die Mordrate dort eine der weltweit höchsten, 44 Menschen werden jeden Tag umgebracht.

Das Haus der Calviños ist eine Festung, umgeben von einer drei Meter hohen Mauer, darauf Nato-Draht-Rollen mit rasiermesserscharfen Spitzen. Darüber sind vier Reihen Hochspannungsdraht gespannt, und als ob 12.000 Volt nicht reichten, hängen über dem stählernen Eingangsportal als Lampen getarnte Kameras. "Wir müssen uns schützen, als wären wir Millionäre", sagt Frank. Die Angst vor Überfällen ist das große Thema überhaupt in Venezuela. Vielleicht das einzige, das alle Gesellschaftsschichten eint.

Am Holztisch auf der Veranda serviert Franks Mutter Espresso in kleinen Alutassen. "Wenn der Himmel klar ist, sieht es aus, als hingen die Sterne an den Ästen der Tropenbäume", schwärmt sie und versucht zu überspielen, dass sie sauer ist. Frank hat aus Versehen mit einer Wasserkaraffe den Arm einer Porzellanpuppe abgeschlagen, die auf dem Tisch stand.

Ein Fach für Seife, Pflaster und Haargel. Ein anderes für Reis, Öl und Linsen. Eins für die Unisachen, eins für Schuhe. In der dreiteiligen Schrankwand in einem winzigen Zimmer im Armenviertel Chapellín in Caracas steht alles, was Nely besitzt. Zum Lernen setzt sie sich auf die Bettkante und legt die Bücher in ein leeres Regalfach. Ein Tisch oder ein Stuhl haben keinen Platz. Nely kommt vom Land, aus einem ärmlichen Dorf. Mit 15 heiratete sie dort einen Schreiner. Weil der im Dorf keine Arbeit fand, zogen sie zu Schwiegertante Aurora nach Chapellín. Das Viertel wächst jeden Tag, Neuankömmlinge siedeln sich am Flussufer an; wer hier wohnt, hat zwar ein Dach über dem Kopf, aber keine Postadresse. Das Zimmer, das sich Nely und ihr Mann im Haus ihrer Tante teilen, ist kaum größer als ihr Doppelbett. Die Matratze hat kein Laken, es muffelt nach feuchten Wänden, durch das Wellblechdach tropft der Regen. Nely hatte kein Geld, einen Coupon der UCV zu kaufen, nachdem sie durch die Prüfung gefallen war. Also begrub sie den Traum vom Studium - bis Chávez die für alle Abiturienten offene Universidad Bolivariana gründete. "Ich habe mich sofort eingeschrieben", sagt Nely und streicht sich das glatte, dunkle Haar aus dem Gesicht. Sie ist jetzt im vierten Semester, das Fach: Politik- und Regierungsstudien. Später, sagt sie leise, würde sie gerne im Außenministerium arbeiten. "Bevor Chávez Präsident wurde, hätte ich nicht mal von einer solchen Zukunft geträumt."

Kommerzielle Werbung ist an der Chávez-Uni nicht erlaubt, Parteiplakate sind es schon. Überall hängen Plakate mit dem Gesicht des Präsidenten und seinen Sprüchen: auf den Fluren, an den Türen, in den Hörsälen. Die bolivarianische Universität ist den Prinzipien von Chávez" Revolution verpflichtet: Südamerika einen, den Reichtum umverteilen, mehr Basisdemokratie einführen, Venezuela unabhängig machen - besonders von den USA. Chávez beruft sich dabei auf Simón Bolívar, den venezolanischen Nationalhelden, der im 19. Jahrhundert die Unabhängigkeitskämpfe gegen die spanischen Kolonialherren anführte. "Wir dürfen Chávez aber natürlich auch kritisieren", betont Nely. "Ich finde zum Beispiel, dass er sich manchmal diplomatischer ausdrücken müsste."

Diplomatisch ist Chávez wahrlich nicht: Vor vier Jahren arbeiteten in dem Gebäude, in dem heute die Universität sitzt, noch Angestellte der staatlichen Erdölfirma PdVSA. Nach einem Streik, den der Oberste Gerichtshof für illegal erklärte, entließ Chávez deren 19.000 Angestellte. Das riesige Gebäude an der Straße Los Chaguaramos stand plötzlich leer - und Chávez beschloss kurzerhand, dass dort am 1. Juli 2003 die Zentrale der bolivarianischen Universität einziehen sollte, ein Paralleluniversum zum bestehenden Hochschulsystem, mit Standorten im ganzen Land.

Dass das Hauptgebäude der Bolivariana für eine Erdölfirma und nicht für Studenten entworfen wurde, zeigen luxuriöse Details wie der sprechende Aufzug, der die Stockwerke ankündigt, und die schicken Hightechtoiletten, bei denen ein Sensor den Spülvorgang auslöst. Der Empfang zum Rektorat im zehnten Stock hat etwas von der Kommandozentrale eines Raumschiffs: Der Raum ist rund, der Tresen aus dunklem, poliertem Tropenholz auch, in der Mitte sitzt ein Glatzkopf mit Walkie-Talkie. 220.000 Studenten habe die Bolivariana insgesamt, sagt deren akademischer Direktor Julio Vivas. Es ist eine Schätzung, denn ganz genau weiß es niemand, die neue Uni wächst zu schnell. Der Unterricht findet an 190 Orten in ganz Venezuela statt, meistens in Schulen, die in den Abendstunden zur Uni umfunktioniert werden. Weil es zu wenig Dozenten gab, wurden Ärzte, Ingenieure und Architekten in Schnellkursen zu Pädagogen ausgebildet. Weshalb Kritiker das akademische Niveau der bolivarianischen Universität für äußerst fragwürdig halten.

"Die Uni ist eben noch im Aufbau", verteidigt Julio Vivas das System. Der Biologieprofessor, der das lange graue Haar zum Pferdeschwanz gebunden trägt, ist von der UCV zur bolivarianischen Uni übergelaufen. "Bildung auch für die Armen, an diesem System wollte ich mitarbeiten", sagt er. In seinem Büro hängen hinter Glas Porträts von Fidel Castro und Hugo Chávez in Lebensgröße. Chávez" Traum ist auch sein Traum: "Irgendwann sollen alle Venezolaner einen Hochschulabschluss haben, ganz gleich, ob sie sich eine Privatschule leisten konnten oder welche Schulnoten sie hatten." Zugangsvoraussetzung bleibt das Abitur. "Damit das alle machen können, gibt es Alphabetisierungsprogramme und die Misión Ribas, in der Schulabbrecher das Abi nachmachen können", sagt Vivas. Er grüßt eine Putzfrau, die den Papierkorb leert, der unter seinem Schreibtisch steht. Und wenn erst alle Abitur haben, wer putzt dann die Büros? "Das ist doch das Schöne", sagt Vivas. "In unserem Sozialismusmodell denken alle mit. Jeder putzt selbst. Dann brauchen wir keine schlecht bezahlten Hilfsarbeiter mehr."

Als Frank in den Hörsaal an der UCV kommt, sitzen die anderen schon an ihren Plätzen. Er begrüßt die Dozentin, eine Dame mit grauen Locken, mit einem Kuss auf die Wange. Das Fach heute: Ethik im Journalismus. In Venezuela ein heikles Thema; Venezuela ist ein Land mit Pressefreiheit - aber ohne freie Presse. Die Medien sind politische Akteure, die Partei ergreifen - die staatlichen Medien sind für Chávez, die privaten waren am Putschversuch gegen den Präsidenten 2002 beteiligt. Franks Dozentin ist Oppositionelle, das wissen er und seine Kommilitonen. Doch die Fronten verlaufen auch mitten durch die UCV: Nebenan im Zimmer sitzt ein anderer Kurs, hier ist die Ethikdozentin für Chávez. Sie erklärt den Studenten, dass ein Journalist dazu da ist, die Politik des Staates an die Bürger zu vermitteln - und mehr nicht.

Eigentlich wollte Frank Arzt werden, er machte ein Praktikum in einer Kinderkrebsklinik, doch "da gab es keine sauberen Laken, keine Seife, keine Schmerzmittel". Er suchte sich ein neues Ziel, den Journalismus, denn früher, sagt er, "waren die Journalisten in Venezuela die Helden der Armen". Doch seit Chávez sei alles anders: "Jetzt versuchen die Medien nicht mal, objektiv zu berichten."

Frank nimmt dem Präsidenten das autoritäre Gehabe übel: dass alle Fernsehsender über ihn berichten müssen, auch wenn er nur eine neue Brücke einweiht. Dass er bis 2021 regieren will. Dass alle, die 2002 für ein Referendum zur Absetzung von Chávez unterschrieben haben, nicht mehr im öffentlichen Dienst beschäftigt werden. Die Liste hat ein Abgeordneter mit Angabe der Personalausweisnummern ins Internet gestellt; sie liegt allen Ämtern vor. Frank hätte damals gerne unterschrieben, aber er war zu jung.

Seit Chávez die Wahlen im Dezember gewonnen hat, macht sich Frank Sorgen um seine Uni: Er hält es für möglich, dass Chávez die UCV langsam ausbluten lässt, weil der Rektor der Opposition angehört. Das Geld war schon in den letzten Jahren knapp. "Der Campus ist Weltkulturerbe, aber in die Büros der Verwaltung regnet es rein, und die Mosaiken an den Wänden verrotten, obwohl sie alles Geld der Welt wert sind", sagt Frank. Noch habe es Chávez nicht gewagt, die Uni öffentlich anzugreifen, sagt der UCV-Rektor Antonio París. Einfach ist es allerdings nicht, die Uni ist mit ihren 55.000 Studenten und 7000 Dozenten ein Koloss, schwer in den Griff zu bekommen, und der Geldmangel setzt ihr zu. Dazu kommt die Angst: Viele Studenten, die abends Seminare besuchen, gehen nur noch mit Freunden zur Toilette und zum Parkplatz. "Die UCV ist das Land in Klein: politische Polarisierung, Kriminalität und Korruption", schildert París. Autodiebstahl, Drogenhandel, Vergewaltigungen, Auseinandersetzungen mit bewaffneten Stoßtrupps der politischen Parteien - damit werden die Studenten immer wieder konfrontiert.

Die Tische in Nelys Seminarraum an der Bolivariana bilden ein Hufeisen, die Tür ist offen. Stimmen aus dem Gang dringen ins Zimmer, den Studenten, der gerade ein Referat hält, stört das nicht. An den Wänden hängen Auszüge aus Büchern: "Der Staat braucht ein Wirtschaftsmodell, das das Wohlergehen der Gesellschaft zum Ziel hat und nicht die Anhäufung von Kapital." In dem Referat geht es um Verschwörungstheorien, besonders um solche, die in Venezuela vor den Wahlen am 3. Dezember vergangenen Jahres kursierten: dass die Anhänger der Opposition alle für Chávez stimmen würden, um später zu rufen: "Nur Stimmen für Chávez? Imposible! Wahlbetrug!" Dass Chávez-Anhänger vor den Wahllokalen Kaffee mit Abführmitteln an Oppositionelle verteilen würden, damit die es nicht bis an die Urnen schafften. Dass die Opposition vorgebe, einen Teil der Militärs auf ihrer Seite zu haben, und für den 4. Dezember ein Putsch befürchtet werde. Nichts von alldem passierte: Chávez wurde mit knapp 63 Prozent der Stimmen wiedergewählt.

Auch Nely hat für ihn gestimmt: Er ist ihr Präsident, und er ist der Erste, der den Armen eine Stimme gab. Lange hatte sie keine Chance gesehen, der Armut zu entkommen - jetzt hat sie diese Chance mit ihrem Studienplatz erhalten. "Und dank Chávez haben wir das Nötigste zu essen", setzt sie hinzu. Alle drei Monate bekommt sie wie die meisten im Viertel eine Ration Reis, Linsen, Sonnenblumenöl und Margarine. Alles andere kauft sie im Mercal. Etwa 14.500 dieser Supermärkte, die Grundnahrungsmittel günstig verkaufen, ließ Chávez eröffnen.

Seit Kurzem gibt es in Chapellín auch eine kleine Arztpraxis. Zusammen mit den Ärzten ging Nely herum, klopfte bei den Nachbarn und notierte die Zahl der Bewohner und ihre Gesundheitsprobleme. Jetzt muss niemand mehr wegen Kleinigkeiten ins Krankenhaus und stundenlang anstehen. Während Nely heißes Wasser durch einen Kaffeefilter gießt, schaut Tante Aurora eine Telenovela, Schneegestöber flimmert über den Bildschirm, das Signal der Antenne ist schwach. Aurora ist Chávez dankbar, weil sie in einem der Regierungsprogramme lesen und schreiben gelernt hat. Und weil ihr 35-jähriger Sohn zu einer sechsmonatigen Entziehungskur nach Kuba fliegen durfte: "Seitdem läuft er Marathon und spielt Baseball." Zum Dank haben sie und Nely ein Poster von außen an die Haustür geklebt: "Diese Familie hält zu Chávez!"

Seit klar ist, dass Chávez Präsident bleibt, steht Nelys Karriereplanung nichts mehr im Weg: Sie weiß schon jetzt, dass sie im nächsten Semester ein Praktikum in der Pressestelle eines Ministeriums machen wird. Frank dagegen hat Angst, dass der Geldhahn für die UCV langsam abgedreht wird. Wie Chávez das Geld künftig auf die Unis verteilen wird, lässt sich schon jetzt am Essen ablesen: Die Nachwuchsrevolutionäre der bolivarianischen Uni bekommen jeden Tag ein Dreigängemenü, das Essen ist gratis und gut. Auch an der UCV ist das Mittagessen für die Studenten kostenlos; aber das Fleisch ist so zäh, die Nudeln sind so verkocht, dass die Studenten seit Wochen protestieren, indem sie die vollen Tabletts auf den Tischen stehen lassen. Und manchmal schleicht sich Franks Freund Luis, den alle el gordo, den Dicken, nennen, heimlich zum Essen in die Bolivariana.