Venezuela

Partizipation der Massen

Venezuela: Der rein theoretische Blick verschleiert die Errungenschaften

Betrachtungen deutscher Linker zu Venezuela bringen mitunter merkwürdige Ergebnisse zu Tage. So geschehen im ak5181, in dem in einem Artikel die Homogenisierung des Volksbegriffes im Diskurs der Bolivarianischen Revolution kritisiert wird, ohne mit nur einem Wort auf die materielle Wirklichkeit der Gesellschaft Venezuelas einzugehen, und in dem die neu entstehenden Partizipationsstrukturen salopp als "Verwaltung der Armut" abgetan werden, ohne ihren gesellschaftlichen Kontext zu beachten. Dabei werden Kriterien der bürgerlich-repräsentativen Demokratie zum Maßstab erhoben, so dass der Artikel schlussendlich auch gut in taz, SZ oder Welt hätte erscheinen können.

Dass der Begriff "Volk" als Hülle herhalten muss, um sich mit verschiedensten Inhalten füllen zu lassen, ist ein alter Hut. Dies hat nicht erst die Metamorphose vom "Wir sind das Volk" zum "Wir sind ein Volk", also von der Benennung eines Gegensatzes mit der Obrigkeit zur Anrufung einer Volkseinheit, gezeigt. Auch im Diskurs der alten venezolanischen Elite ist das Volk lediglich eine homogene, nationale Masse, um Klassenwidersprüche zu verschleiern, während das selbe Wort im bolivarianischen Diskurs eine gänzlich andere, klassenkämpferische Konnotation besitzt. Es steht für die ProtagonistInnen des konkreten Wandels, den das Land durchlebt. Dabei ist der Diskurs alles andere als homogenisierend. Immer wieder wird die Pluralität der Kämpfe betont. In jedem Fall ist das Volk "gut" und wird dem politischen Gegner im Propagandakrieg um die Ohren gehauen. Die Diskursanalyse ist deshalb zwar akademisch interessant, sagt letztlich jedoch wenig über die soziale Realität eines Konflikts aus. Denn es kommt nicht darauf an was drauf steht, sondern was drin ist.

40 Jahre lang hat in Venezuela eine Oligarchie das Land regiert. In dieser Zeit "stabiler" bürgerlich-repräsentativer Demokratie ist das entstanden, was 1998 venezolanische Realität war: Während eine kleine besitzende Elite in Saus und Braus lebte, waren zwei Drittel der Gesellschaft von jeglicher politischer und sozialer Partizipation ausgeschlossen und zu einem Leben in Armut verdammt. Jene zwei Drittel sind es, die den bolivarianischen Prozess hervorbrachten und noch heute tragen. Den Präsidenten sehen sie als exponierten Vertreter ihrer Interessen. Denn tatsächlich gibt es "unabänderbare historische Bedürfnisse des Volkes", für die seine Politik steht. Sie lassen sich verkürzt auf einige Schlagworte reduzieren: Ernährung, Gesundheit, Bildung und ein Leben in Würde. Heute steht jedem Menschen in Venezuela eine kostenlose medizinische Versorgung zur Verfügung, Bildungsprogramme ermöglichen den Zugang zu den Hochschulen und Lebensmittel werden durch Subventionen erschwinglich gehalten. Das macht Venezuela nicht zu einem sozialistischen Paradies, bedeutet aber für die konkrete Lebenswelt der Menschen enorm viel.

Auch die Partizipation ist wesentlicher Bestandteil des bolivarianischen Projekts. Anders als von den AutorInnen dargestellt, wird diese aber nicht einfach von oben verordnet. Die Grundlagen zur Einrichtung der Consejos Comunales sind die bestehenden Basisorganisationen wie die Städtischen Landkomitees oder die Wassertische, die seit Jahren daran arbeiten, die alltäglichen Probleme der Barrios zu lösen. Mit den neuen Rätestrukturen erfahren sie eine Formalisierung und werden mit Mitteln ausgestattet. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres wurden umgerechnet etwa 580 Mio. Euro an die zur Zeit 25.000 arbeitenden Räte überwiesen, die über das Geld verfügen können. Die Präsidialkommissionen, die für die Verwaltung und Unterstützung eingerichtet wurden, haben dabei - anders als von den AutorInnen behauptet - keine Entscheidungsbefugnis über die Gelder.

Die Nachbarschaftsräte sollen die Grundlage für einen neuen Staat bilden. Aus diesem Grund werden ihre Kompetenzbereiche schrittweise ausgebaut. Außerdem werden sie zunehmend in übergeordnete Entscheidungen einbezogen, die ihre Comunidad betreffen. Dies auf die Überforderung der Verwaltung zu reduzieren zeugt im besten Fall von Unkenntnis. In Bereichen wie z.B. dem permanenten Kriminalitätsproblem werden gerade auf Initiative der Comunidades Lösungskonzepte in Zusammenarbeit mit den neuen Partizaptionsstrukturen augearbeitet, um die alte Methode, soziale Probleme allein militärisch zu lösen, zu umgehen. Wer dies nicht sieht, dürfte ein bedenkenswertes Verständnis staatlicher Konfliktlösung haben.

Es ist müßig, auf Begriffen eines Diskurses herumzureiten, die ohne ihren realen Kontext und seine materiellen Bedingungen keinen Sinn ergeben. Eben dies passiert aber, wenn der venezolanische Prozess an den Idealen jener Demokratie gemessen wird, die für den Großteil der Bevölkerung nichts als Ausschluss und Armut bedeutet. Der glaube an das Funktionieren der Institutionen des bürgerlichen Staates in einem abhängigen Land des globalen Südens scheint groß zu sein, wenn die AutorInnen den zeitlich begrenzten Präsidialdekreten das Parlament als demokratische Alternative entgegenstellen. Dass es aber gerade der Präsident ist, der mit den Vollmachten den Prozess radikalisiert, tatsächliche Umstrukturierungen im maroden und korrupten Staat vorantreibt und damit wesentlich näher an den Forderungen der Basisbewegungen liegt, als jeder Parlamentsbeschluss, wird dabei außen vor gelassen. Die Tatsache, dass in Venezuela Strukturen, die greifbare Veränderungen bringen, nur außerhalb der alten Verwaltung funktionieren, wird als Anhaltspunkt für eine Machtkonzentration des Präsidenten genommen. Vielmehr zeigt sie aber, dass sich reale Partizipation und der bürgerliche Staat gegenüber stehen.

Niemand spricht davon, dass es in Venezuela Sozialismus gibt, nicht einmal der Präsident selbst. Auch das "bolivarianische Lager" ist von Konflikten geprägt, von deren Lösung die Zukunft des bolivarianischen Prozesses abhängt. Mit einer Kritik von Außen aber, die diese zur Diskreditierung des gesamten Projekts missbraucht und symbolische und diskurstheoretische Argumente den realen Veränderungen vorzieht ohne diese zu benennen, hilft nicht den fortschrittlichen Kräften in Venezuela, sondern spielt jenen in die Hände, die das bolivarianische Projekt zerschlagen wollen, weil es das Potential zu tief greifender sozialer Veränderung besitzt.

  • 1. Darlin Rivas, Sebastian Zehatschek, Franziska Dröscher: Venezuela: Partizipation in Maßen, ak518, 22.06.2007