Venezuela / Politik

Showdown in Caracas

Venezuela vor den Wahlen: Bilanz der Regierung Chávez ist beachtlich. Oppositionskräfte mobilisieren gegen die bolivarische Revolution

Mitte August gab es einen bemerkenswerten Moment in der Geschichte der Opposition gegen Präsident Hugo Chávez in Venezuela. Im Nadelstreifenanzug und mit dem für ihn typischen Strohhut bewarb sich der Komiker Benjamin Rausseo für die Präsidentschaftswahl in dem südamerikanischen Land am 3. Dezember. Von Eseln und Ziegen begleitet, verkündete der 45jährige Gegner des amtierenden Präsidenten, alle Voraussetzungen für die Registrierung erfüllt zu haben. Rausseo nennt seine Partei "Piedra" ("Stein"), sein Motto lautet - in Anlehnung an das Markenzeichen von Präsident Chávez - "Strohhut schlägt Barett". Der Komiker-Kandidat kann nach letzten Umfragen immerhin mit sechs Prozent der Stimmen rechnen. Rausseo, ein entschiedener Widersacher der linken Regierung, kündigte unterdessen allerdings bereits an, seine Kandidatur zurückzuziehen, sollte sich der Sozialdemokrat Manuél Rosales als aussichtsreichster Kandidat dem Amtsinhaber in den Prognosen annähern.

Rausseo und Rosales sind die bekanntesten der 28 Kandidaten, die Anfang Dezember gegen Hugo Chávez antreten. Keiner der 28 Politiker hat eine reale Chance. Und 27 verstehen deutlich weniger Spaß als der Fernsehkomiker Rausseo.

Opposition ruft offen zur Gewalt auf

"Während Millionen Venezolaner aus den Demonstrationen für den aufrichtigen Manuél Rosales Hoffnung schöpfen", schrieb der Oppositionelle Gustavo Coronel in der vergangenen Woche im Onlineportal Petroleomworld.com, "greifen die Gorillas der roten Revolution die Institutionen, die venezolanischen Gesetze und den Rechtsstaat an". Coronel, der von 1975 bis 1979 zur Führung des staatlichen Erdölkonzerns PdVSA gehörte, läßt sein Pamphlet mit einem offenen Aufruf zur Gewalt ausklingen: "Das Blut der Venezolaner wird an denen haften, die nicht beizeiten gehandelt haben, um eine ebenso absehbare wie von den Putschisten provozierte Tragödie zu verhindern". Zur Erklärung für diejenigen, die mit dem Duktus venezolanischer Oppositionsschriften nicht vertraut sind: Mit "Gorillas" und "Putschisten" ist die amtierende Regierung gemeint; eine Regierung also, die seit Chávez' Vereidigung am 2. Februar 1999 mehrfach in demokratischen Wahlen bestätigt wurde.

Die offiziellen Kandidaten beschränken sich derweil noch darauf, den Wahlvorgang zu delegitimieren. Mitte September forderte Rausseo - der seine Rolle nun doch ernster zu nehmen schien als zunächst angenommen - die Stimmen nach der Präsidentenwahl manuell auszuzählen. Auf den Einsatz von digitalen Wahlmaschinen sollte verzichtet werden, denn diese seien nicht sicher. Rosales stellte die für ihn wenig schmeichelhaften Umfragewerte derweil als "Erfindungen" und "Manipulationen der Regierung" dar. Das Meinungsforschungsinstitut Datanálisis hatte Chávez zuletzt 58,2 Prozent prognostiziert, gegenüber 55 Prozent in Juni. Das Institut Seijas sah Rosales, den derzeitigen Gouverneur des Bundesstaates Zulia, derweil bei "nicht einmal 20 Prozent". Beide Institute, Datanálisis und Seijas, gehören von jeher dem Chávez-kritischen Lager an. Zumindest aber sind sie realistischer als Rosales, der über seine Umfragewerte sagt, sie seien "gut und werden jeden Tag besser".

Unterstützt wird der verzweifelte wie dreiste Versuch, demokratische Prozesse in Abrede zu stellen, weil man selbst keine Mehrheit hat, auch in Europa. Daß die Wahl in Venezuela "frei und geheim wird, ist zwar nicht mehr gewährleistet, aber ein freihändiger Sieg Chávez' ist es auch nicht mehr", kommentierte im August die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

USA und Vasallen gegen Chávez

Wohin ein solcher Bruch mit den parlamentarisch-demokratischen Prinzipien führt, liegt in Anbetracht der jüngeren venezolanischen Geschichte nahe. Im April 2002 kam es schließlich schon einmal zum Putschversuch gegen die demokratisch gewählte Regierung. Und auch in den Wochen vor der Wahl appelliert der Gouverneur und Kandidat Rosales nun wieder an das Militär, sich auf seine Seite zu stellen. Solche Aufrufe lassen befürchten, daß Verzweiflungstaten der Verlierer in Venezuela auch künftig nicht auszuschließen sind. Anzeichen dafür liegen der Regierung Chávez offenbar vor. Anfang November machte der Staatschef vor Erdölarbeitern in Puerto La Cruz im Süden des Landes mutmaßliche Eskalationspläne der Opposition publik. Ein "Plan V" sehe unter anderem vor, die Erdöllieferungen in die USA abrupt zu sabotieren, um eine - womöglich militärische - Reaktion Washingtons zu provozieren. Immerhin haben ranghohe US-Vertreter schon ein entsprechendes Vorgehen für diesen Fall angekündigt. Auch wegen dieser Gefahr werden in zweieinhalb Wochen 120000 Militärs zum Schutz der Wahlen, der Wirtschaft und der Demokratie mobilisiert werden. Die Maßnahme steht im Einklang mit der Verfassung und wird mit dem Nationalen Wahlrat (CNE) koordiniert.

Weil in Venezuela für die ihnen nahestehenden Kandidaten kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist - geschweige denn eine Präsidentenwahl - setzen die USA inzwischen offen auf Konfrontation. In der zweiten Augusthälfte erst flogen in Venezuela vier US-Spione auf. Sie wurden am selben Tag an die US-Behörden übergeben, an dem Washington einen Sonderbeauftragten für die Geheimdiensteinsätze "gegen Kuba und Venezuela" benannte. Der CIA-Veteran Jack Patrick Maher ist als sogenannter Missionsmanager künftig für die Umsetzung von Geheimdienststrategien und die Auswertung von Informationen zuständig, erklärte US-Geheimdienstdirektor John Negroponte damals gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, die feststellte: "Mit diesem Schritt werden Kuba und Venezuela de facto mit Nordkorea und Iran gleichgesetzt." Bislang seien diese beiden Staaten die einzigen mit einem eigens zuständigen Sonderbeauftragten des US-Geheimdienstes gewesen. Präsident Chávez begegnete der zweifelhaften Ehrung mit Humor und nannte Maher fortan nur "Jack the Ripper".

Doch begegnet Caracas der zunehmend aggressiven Politik der USA durchaus auch mit Vorsicht und dem nötigen Ernst. Ende September erst protestierte die Regierung vehement gegen einen Bericht Washingtons, der Venezuela mangelnde Kooperation im Kampf gegen den Drogenhandel und den Bruch entsprechender internationaler Verträge vorwarf. Caracas' diplomatische Vertretung in Washington wies auf die "Politisierung" des Themas durch die US-Regierung hin und wehrte sich: Die Grenzbehörden des südamerikanischen Landes hätten von Januar bis September fast 40 Tonnen Drogen beschlagnahmt und 510 Personen festgenommen. Die US-Regierung sei mit solchen Angriffen offenbar mehr darum bemüht, Venezuela zu diskreditieren, als den Drogenhandel zu bekämpfen.

Die US-Regierung steht in ihrem Vorgehen gegen die bolivarische Revolution nicht allein. Aus Lima führt der jüngst gewählte Präsident Perus, Alán García, eine verdeckte Kampagne gegen Hugo Chávez. Wenige Wochen vor den Wahlen gab der US-nahe neoliberale Politiker - der im eigenen Wahlkampf mit einer aggressiven Rhetorik gegen die venezolanische "Einmischung" in Peru nationalistische Ressentiments geschürt hatte - der konservativen venezolanischen Tageszeitung El Universal nun ein Interview, in dem er sich als regionalen Gegenpol zu Chávez inszenierte. Chávez sei ein Autokrat mit einem "ungebührlichen" und "herrischen" Verhalten, so der Politiker, dessen Urteil über den Staatspräsidenten wie eine Drohung klingt: "In der heutigen Zeit, in der Menschenrechte keine Grenzen mehr kennen, kann sich niemand so einfach eines Landes bemächtigen." Garcías vorläufig noch verbale Intervention in die venezolanische Innenpolitik wurde von der Forderung aus der "Europäischen Volkspartei" im Europaparlament begleitet, Wahlbeobachter nach Venezuela zu entsenden. Der spanische Christdemokrat Jaime Mayor Oreja hatte sich wenige Tage zuvor in Caracas mit der rechtsextremen Partei "Primero Justicia" (PJ) getroffen. Die PJ, die Kontakte zur CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterhält, war unmittelbar an dem blutigen Putschversuch gegen Chávez im April 2002 beteiligt.

Sozialpolitik sichert Chávez Basis

Mit solchen Versuchen verkennen die Gegner Venezuelas in der Region, in Europa und in den USA, daß Chávez seit Amtsantritt 1999 einen Putsch und eine als "Ölstreik" getarnte Sabotage der Petroindustrie überstanden hat. Der Staatschef und seine Partei "Bewegung Fünfte Republik" (MVR) sind aus einem Abwahlreferendum sowie aus elf verschiedenen Wahlgängen und Abstimmungen als Sieger hervorgegangen. Vor sieben Jahren wurde er von 3,8 Millionen Menschen zum Präsidenten gewählt, was 60 Prozent der gültigen Stimmen entsprach. Beim Abwahlreferendum 2004 votierten über 5,8 Millionen Venezolaner - 58 Prozent der abgegebenen Stimmen - für seinen Verbleib im Amt. "Wenn wir davon ausgehen, daß die Gegenseite wie 2004 rund vier Millionen Anhänger mobilisiert, dann müssen wir sieben oder acht Millionen Stimmen holen, um unsere Stärke zu beweisen und um ihrem Plan entgegenzuwirken, unseren Wahlsieg zu delegitimieren", erklärte Chávez am 10.September im Interview mit der venezolanischen Tageszeitung Panorama (www.aporrea.org/actualidad/n83403.html). Die MVR hat den Slogan "Zehn Millionen für Chávez" ausgegeben.

Daß es dem Chávez-Lager gelungen ist, die Zahl seiner Wähler seit Amtsantritt im Februar 1999 fast zu verdoppeln, hat mehrere Gründe. Das Sozialprogramm "Misión Identidad" etwa zielt seit Beginn 2004 darauf ab, allen Venezolanerinnen und Venezolanern einen Personalausweis auszustellen, um sie in das Wahlregister aufnehmen zu können. Bis dahin waren die Bewohner der Barrios, der Armenviertel, oft nicht gemeldet und vom demokratischen Prozeß ausgeschlossen. Da aber gerade sie den Präsidenten stützen - und auch verteidigen, wie die landesweiten Massendemonstrationen während des Putschversuches gezeigt haben -, mußte Chávez einen Weg finden, dieses Wählerpotential zu erschließen. Dabei ist die "Misión Identidad" nur eines von mittlerweile 15 sozialen und politischen Programmen, die es dem marginalisierten Bevölkerungsteil ermöglichen, an der Transformation des Landes teilzuhaben und ihre eigene Situation zu verbessern.

Die Kritiker ficht das nicht an. Schenkt man der Opposition Glauben, hat Chávez das in die Sozialprogramme investierte Geld - von 2003 bis 2006 allein knapp 13 Milliarden US-Dollar - vergeudet. Sowohl die wirtschaftliche Entwicklung wie auch die ersten Erfolge der Misiones zeugen vom Gegenteil.

Nachdem das Militär in den Bau von Brücken, Straßen und Schulgebäuden eingebunden wurde, begann 2004 die "Misión Barrio Adentro" ("Hinein ins Armenviertel"). Unter diesem Motto gewährleisten vorwiegend kubanische Ärzte und Pfleger den Armen eine kostenlose Krankenversorgung. Das Programm begann mit dem Aufbau einfacher Krankenstationen. Seit 2005 entstehen die ersten Volkskrankenhäuser, in denen auch stationäre Behandlungen in der Nähe des Wohnortes durchgeführt werden können. Parallel dazu sicherte die "Misión Mercal" die Versorgung der armen Bevölkerung mit subventionierten Grundnahrungsmitteln und Medikamenten. Die "Misión Habitat" hat sich zum Ziel gesetzt, die oft baufälligen Hütten in den Armenvierteln durch festere Häuser zu ersetzen.

Eine breitangelegte Alphabetisierungskampagne führte dazu, daß die UNESCO Venezuela 2005 die Beseitigung des Analphabetismus attestierte. Der Erfolg ist vor allem auf die "Misión Robinson" zurückzuführen, die auf der kubanischen Lehrmethode "Yo sí puedo" ("Ich kann es doch") basiert. Darüber hinaus sorgen schulische und betriebliche Aus- und Fortbildungsprogramme dafür, daß aus armen, ungelernten Tagelöhnern ausgebildete Industriearbeiter werden. Diese Bildungsprogramme sind für Venezuela die Voraussetzung, um das Land aus der Abhängigkeit von der Ölindustrie zu befreien und alternative Industrie- und Wirtschaftszweige aufbauen zu können. Dazu zählen bereits heute Tausende Kooperativen, die von der praktischen Umsetzung der Sozialprogramme, zum Beispiel den Baumaßnahmen, leben.

Weniger Armut, mehr Wachstum

So hat es die bolivarische Revolution bereits nach wenigen Jahren geschafft, die Armut zu senken: Der Anteil der Armen ist nach Regierungsangaben von 42 Prozent im Jahr 2005 auf 33 Prozent 2006 zurückgegangen. Die positiven Auswirkungen der Sozialprogramme wurden bei diesen Berechnungen noch nicht berücksichtigt. Zur Verbesserung der sozialen Lage trug zum einen der Mindestlohn bei, der bei sinkender Inflation von 212 US-Dollar im Jahr 2000 auf derzeit 238 US-Dollar stieg. Im selben Zeitraum fiel die Arbeitslosenquote von 17 auf 9,7 Prozent.

Das Geld für die Sozialprogramme stammt hauptsächlich aus dem Erdölgeschäft. Allein 2004 finanzierte die staatliche Erdölgesellschaft PdVSA die sozialpolitischen Vorhaben der Regierung mit 2,31 Milliarden US-Dollar und zahlte weitere zwei Milliarden in einen staatlichen Fonds für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Der gestiegene Erdölpreis sorgte, wie Energie- und Erdölminister Rafael Ramírez erklärte, für Mehreinnahmen in Höhe von zwölf Milliarden US-Dollar. Der durchschnittliche Preis pro Barrel Erdöl stieg von 20 US-Dollar im Jahr 2000 auf gegenwärtig durchschnittlich 55 US-Dollar. PdVSA fördert selbst 2,7 Millionen Barrel pro Tag und noch einmal 500 000 Barrel in Anlagen, an denen ausländische Firmen beteiligt sind. Hauptabnehmer des begehrten Energieträgers sind weiterhin die USA, die täglich 22 Millionen Barrel Erdöl benötigen und elf bis 15 Prozent des schwarzen Goldes aus dem nahen Venezuela importieren.

Die positive Entwicklung der venezolanischen Wirtschaft bringt eine langfristige Stabilisierung des Landes mit sich. 2000 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission für die Karibik und Lateinamerika (CEPAL) um 3,7 Prozent. In den Krisenjahren 2002 und 2003 war es unter dem Eindruck des Putsches und von Sabotageaktionen der Opposition noch um 8,9 Prozent, beziehungsweise 7,7 Prozent eingebrochen. Erst 2004 vollzog das BIP einen sagenhaften Sprung um 17 Prozent, 2005 folgte ein Zuwachs von 9,3 Prozent. Für das laufende Jahr wird ein Wachstum von 9,4 Prozent prognostiziert. Wie die CEPAL feststellte, wäre Venezuela damit zum dritten Mal in Folge das Land mit dem stärksten Wirtschaftswachstum in Lateinamerika.

Das spiegelt sich auch in der Außenhandelsbilanz wider. 2005 standen den Importen in Höhe von 25 Milliarden US-Dollar Exporte im Wert von 56 Milliarden US-Dollar gegenüber. Dieser Rekordwert machte Venezuela zur Nummer drei der lateinamerikanischen Exportländer, gleich hinter Mexiko und Brasilien. Zwar fließt in diese Exportquote nach wie vor maßgeblich das Erdölgeschäft ein, doch kommen die Erlöse daraus heute der Binnenökonomie ganz anders zugute als in der Vergangenheit: Im Unterschied etwa zu Mexiko, wo unter dem Zwang des neoliberalen Freihandels und dem Druck der US-Konkurrenz die inländische Industrie und Landwirtschaft zerfällt, setzt die venezolanische Staatsführung die Erdöleinkünfte zumindest partiell dafür ein, eine neue Binnenwirtschaft aufzubauen.

Während so die wirtschaftliche Eigenständigkeit angestrebt wird, zielt auch der Umgang mit den Devisenreserven von derzeit 35 Milliarden US-Dollar auf eine Emanzipierung von den USA ab. Im Jahr 2005 transferierte Venezuela zwei Drittel seiner Auslandsguthaben aus den USA nach Europa, wo die Gelder in Euro angelegt wurden. Zugleich wurden die Auslandsschulden mit Tilgungen in Höhe von drei Milliarden US-Dollar um elf Prozent auf 27 Milliarden US-Dollar gesenkt. Um die nationale und regionale Souveränität zu steigern, will Präsident Chávez die "Bank des Südens" gründen. In dieses multinationale Kreditinstitut sollen Devisenreserven fließen, mit denen dann kontinentale Großprojekte wie die Gaspipeline von Venezuela nach Argentinien finanziert werden könnten.

Ein Problem bleibt für Venezuela - wie auch für die anderen lateinamerikanischen Staaten - der Wertverlust des Geldes. Die Inflation wird Schätzungen des Nationalen Statistischen Instituts zufolge Ende 2006 wohl bei 15 Prozent liegen. 2000 lag sie bei 13 Prozent, 2002 war sie sogar auf 34 Prozent angestiegen, um danach kontinuierlich bis auf 14 Prozent (2005) zu sinken. Um diese Entwicklung zu bremsen, hat die Regierung beschlossen, ab Oktober die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt auf 13 Prozent zu senken. Außerdem lockert sie den bislang eingeschränkten Umtausch von Bolívares in Euro. Zu Beginn des Krisenjahrs 2002 hatte Chávez noch angeordnet, den Wechselkurs der venezolanischen Währung einzufrieren: für einen US-Dollar bekam man 1 390 Bolívares. 2005 erfolgte die vorläufig letzte Abwertung der Landeswährung auf 2 150 Bolívares.

Die langsame Abkehr vom US-Dollar könnte in absehbarer Zeit auch den Verkauf von Erdöl betreffen, wie die Pläne zur Gründung einer neuen Erdölbörse zeigen. Zugleich fördert Caracas ausländische Investitionen in Projekte jenseits der Petroindustrie. Die im Spätsommer mit Iran unterzeichneten Abkommen in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar belegen das. Gemeinsam mit Teheran soll in Venezuela eine Zementfabrik gebaut werden, gemeinsam will man auch an der Entwicklung eines venezolanischen PKW arbeiten.

Sozialismus als Ziel

Der Aufbau eines eigenen Marktes, die Abkehr von den USA in Finanz- und Exportpolitik sowie die umfassenden Sozialprogramme zielen auf eine grundsätzliche Neustrukturierung des venezolanischen Staates ab. Wichtigstes Element dabei ist die konsequente Einbeziehung der einst ausgegrenzten Schichten der venezolanischen Bevölkerung. Im achten Jahr der Regierung Chávez sind die Armen heute Akteure der Transformation. Doch das ist erst der Anfang: "Die arme Schicht hat ihre Lage zweifelsohne verbessern können, aber die Oberschicht hat in einem weitaus höheren Maße profitiert", stellt Chávez im Interview mit Panorama selbstkritisch fest.

Mit einer Verfassungsänderung soll der politischen Transformation zum Sozialismus daher nach der Wahl weiterer Raum verschafft werden- ein Vorhaben, das wahrscheinlich zu direkten Konflikten mit der Oligarchie führen wird. Die Debatte um eine bolivarische Einheitspartei aus den Kräften des Regierungslagers ist ein erster Schritt hin zur Positionierung in diesem Kampf. Diese Einheitspartei soll binnen der nächsten zwei Jahre gegründet werden und auf dem Prinzip der direkten Demokratie basieren.

Der Widerstand der regressiven Kräfte im In- und Ausland gegen die politische Etablierung des Bolivarianismus und die wirtschaftliche Emanzipierung des Landes ist programmiert. Bis dato sind die zahlreichen Reformen zwar zugunsten der Armen, aber nicht zu Lasten der Reichen gegangen. Weil das nicht ewig so sein wird, nähert sich die bolivarische Revolution ihrer nächsten großen Belastungsprobe. Dabei wird sich zeigen, ob sie stark genug ist, die Angriffe abzuwehren. Und es wird sich zeigen, wer ihre wirklichen Gegner sind. In Venezuela und im Ausland.