Venezuela

Zurück in die (sozialistische) Zukunft

In Venezuela soll mit der Reform der Verfassung ein "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" gestärkt werden. Opposition fürchtet wegen Widerwählbarkeit des Präsidenten "Faschismus"

Der ideologische Konflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus hat zwar das gesamte 20. Jahrhundert bestimmt. In der Gegenwart aber hat er scheinbar nichts zu suchen. Kommunismus? Das erinnert an faden Geschichtsunterricht mit Gratisheften der Bundeszentrale für politische Bildung. Sozialismus? Hat das nicht etwas mit Mauer und Schießbefehl zu tun?

Mit den Umbrüchen von 1989-1991 sind auch die ersten Versuche verschwunden, die Theorien linker Vordenker von Marx bis Mao praktisch umzusetzen. Glaubt man der fast täglichen Berichterstattung, liegen sie inzwischen auf dem "Müllhaufen der Geschichte". Doch das könnte sich ändern. Fast zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion, dem Sinnbild des Staatskommunismus, und rund anderthalb Jahrzehnte nach Francis Fukoyamas Ende der Geschichte wird wieder über eine Systemalternative diskutiert. Vor allem in Lateinamerika. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts soll dort richten, was sein Vorgängermodell versiebt hat.

Venezuela führt Debatte

Dabei wirft schon der Name erste Fragen auf. Will der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" auf das vergangene europäische Modell aufbauen oder lehnt er es ab? Führend in der Diskussion in Lateinamerika, wo immer mehr Regierungen der Linken zugerechnet werden, ist Venezuela. Als dessen Präsident Hugo Chávez am letzten Mittwoch den Entwurf für eine Verfassungsreform vorstellte, begründete er dies mit der Notwendigkeit, dem venezolanischen Sozialismus über "Startprobleme" hinwegzuhelfen. Zweifelsohne ein Euphemismus, denn die verschiedenen Flügel des "Chavismus" sind tief in Debatten darüber verstrickt, wie das künftige Gesellschaftsmodell in ihrem Land aussehen soll.

In der vergangenen Woche erst sprach sich ein Kongress indigener Gruppen im Süden Venezuelas für einen "indianischen Sozialismus" aus, Chávez´ sozialdemokratische Bündnispartei Podemos plädierte in der Hauptstadt Caracas derweil für einen "demokratischen Sozialismus" und der Gewerkschaftsaktivist Stalin Borges brachte - seinem Namen zum trotz - die Lehren des Sowjetdissidenten Trotzki ins Spiel.

Der Opposition sind diese Nuancen gleich. Solange Chávez im Boot sitzt, geht der ideologische Kurs ihrer Meinung nach ohnehin gen Kuba. Venezuela gleite unter Chávez in einen "Castrokommunismus" ab, heißt es von dieser Seite. Wohin die Reise tatsächlich geht, ist noch nicht sichtbar.

Bislang steht der "venezolanische Sozialismus" trotz des revolutionären Pathos in erster Linie für eine soziale Reformpolitik, die durch die Abkehr vom neoliberalen Modell möglich wurde. Kernstück der geplanten konstitutionellen Reform etwa ist die Lockerung der Autonomie der Zentralbank. Die Eigenständigkeit der Zentralbanken ist eine der Forderungen der Weltbank an Entwicklungs- und Schwellenländer - und für diese zugleich eine der größten Hürden bei der Entwicklung einer nachhaltigen Sozialpolitik.

Dabei hätten die meisten wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen der venezolanischen Regierung auch von einer bürgerlichen Regierung durchgesetzt werden können. Die Trendwende bringt in der Tat die geplante Novelle der Charta. Zwar lässt auch die Neufassung von 33 Artikeln der Konstitution das private Eigentum unangetastet. Doch sollen nach Willen des präsidialen Arbeitsstabs neben dem Privatbesitz auch "soziales", "kommunales" und "staatliches" Eigentum gleichwertig anerkannt werden. Diese Regelung könnte einen qualitativen Sprung im politischen Prozess bedeuten, den Venezuela seit dem Regierungsantritt von Chávez Anfang 1999 erlebt. Die Anerkennung kollektiver Eigentumsformen wäre die juristische Basis für die sukzessive Vergesellschaftung der Produktionsmittel.

In der venezolanischen Innenpolitik spielt all das kaum eine Rolle. Die Oppositionsparteien hatten die Verfassungsreform schon vor der Präsentation des Textes scharf kritisiert. Vorher wie nachher sprachen die Chavez-kritischen Parteien von einer Kopie der kubanischen Charta. Eine tatsächliche Auseinandersetzung mit politischen Inhalten spielt kaum mehr eine Rolle. Im Zentrum der Kritik der Opposition steht derzeit vor allem die Änderung des Artikels 230 - eine von insgesamt 33 Änderungen. Mit dieser Neufassung will Chávez die Begrenzung der Wiederwählbarkeit des Staatsoberhauptes aufheben. Zudem soll der Präsident statt bislang sechs künftig sieben Jahre im Amt bleiben. Er folgt damit europäischen Modellen. In der polarisierten Situation Venezuelas aber sorgt die Änderung für Aufregung. Dass Chávez in demokratischen Wahlen mehrfach bestätigt wurde, hilft da ebenso wenig wie der Umstand, dass über die Verfassungsnovelle Ende dieses Jahres oder Anfang 2008 in einem Plebiszit entschieden wird. Die Opposition, so berichteten Nachrichtenagenturen, warne vor der Gefahr des "Faschismus".

Alte Fehler vermeiden

Auch unabhängig von dem konkreten Streit um die Überarbeitung der Verfassung ist der Widerstand gegen die Regierungspolitik groß. In dem Maße wie sich die Regierung dem Sozialismus als möglicher Systemalternative annähert, geht nicht nur das bürgerliche Lager, sondern auch die katholische Kirche auf Distanz zu ihr. Spätestens seit die Gründung einer "Vereinten Sozialistischen Partei" der Regierungskräfte in Vorbereitung ist, wird der Streit offen ausgetragen.

Der Erzbischof von Caracas, Jorge Urosa, sprach sich zu Beginn des Monats im staatlichen Fernsehkanal VTV entschieden gegen einen "Sozialismus marxistischer Prägung" aus. Es gebe Anzeichen dafür, dass die auf den Weg gebrachte Novellierung der Verfassung dazu diene, ein "marxistisches, staatszentralistisches und totalitäres" Regime zu etablieren. "Das ist nicht der Weg, den wir wollen", so Urosa, der sich, wie auch die gemäßigten Bündnispartner von Chávez, einen "demokratischen Sozialismus" vorstellen kann.

Die Diskussion über das Wesen eines künftigen venezolanischen Sozialismus wird aber nicht nur von den politischen Gegnern geführt, sie reicht weit in das Regierungslager hinein. Als der bisherige Verteidigungsminister Raúl Isaías Baduel im Juli sein Amt niederlegte, [extern] bilanzierte er die bisherige politische Entwicklung. Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderst" müsse "tiefgreifend demokratisch" sein, sagte der Militär, der zu einem der ideologischen Köpfe der "bolivarischen Revolution" zählt. Baduel erteilte zugleich den klassischen Lehren eine Absage:

Wir sollten uns von dem orthodoxen Marxismus abgrenzen, dem zufolge ein demokratisches System mit Gewaltenteilung nichts als ein Instrument der bürgerlichen Herrschaft ist.

Ex-Verteidigungsminister Raúl Isaías Baduel

Auch äußerte der langjährige Weggefährte von Hugo Chávez Vorbehalte gegen eine allzu schnelle Ausgabe der Ölrente. Man könne nicht verteilen, was zuvor nicht erwirtschaftet wurde, so Baduel, um schließlich vor einer Zentralisierung der politischen Gewalt zu warnen. Ein Land könne sich zwar formell sozialistisch nennen, tatsächlich aber nach den Regeln des Staatskapitalismus funktionieren. Baduel nahm dabei direkten Bezug auf die Sowjetunion. Diese historischen Fehler dürften in Venezuela nicht wiederholt werden.

Während die Rede von der Opposition als Indiz für einen Richtungsstreit gewertet wurde, wiesen Analytiker auf die Parallele zu früheren Ansätzen hin, einen eigenen lateinamerikanischen Sozialismus zu entwickeln, fernab der westeuropäischen Sozialdemokratie und des damaligen osteuropäischen Sozialismus. Der peruanische Marxist José Carlos Mariátegui zählt zu den Vordenkern dieser Strömung. Aber auch der argentinisch-kubanische Revolutionär Ernesto "Che" Guevara. Nach der kubanischen Revolution war er einer der schärfsten Kritiker der sowjetischen Großmachtspolitik. Im Februar 1965 rief er in Algier die sozialistischen Staaten auf, ihre "taktische Zusammenarbeit mit den Ausbeuterstaaten des Westens" aufzukündigen. Die realsozialistische Bürokratie und Hierarchisierung der Gesellschaft sah er in einem diametralen Gegensatz zu dem emanzipatorischen Konzept des "neuen Menschen", wie es in Kuba propagiert wurde.

Wichtige Bündnispolitik

Die Debatte um einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ist daher weder eine Erfindung des venezolanischen Präsidenten, noch ist sie eine isolierte Erscheinung. Sie knüpft an historische Vorlagen aus der Region an. Nicht nur in Venezuela wird inzwischen auf Regierungsebene ein länderübergreifendes sozialistisches System diskutiert, sondern auch in Kuba und Bolivien. Interessant dabei ist der prozesshafte Charakter der Debatte. Sie ist nicht dogmatisch, sondern schließt auch die gemäßigten Staaten der Region mit ein. Argentinien, Uruguay oder Brasilien sind zwar weit von einer homogenen linken Regierung entfernt. Doch auch sie nehmen an der Diskussion teil, obwohl ihre Bündnisse mit Caracas, La Paz oder Havanna bislang noch mehr auf nationalen Wirtschaftsinteressen beruhen.

Die integrative Politik ist der Vorteil der venezolanischen Regierung. Im Land sind entgegen landläufiger Darstellungen große Teile der Mittelschicht in das Reformprojekt eingebunden. Außenpolitisch werden die übrigen Staaten der Region zu Bündnissen motiviert. Die politische und wirtschaftliche Transformation Venezuelas ist damit bislang nicht nur nach radikaldemokratischen Prinzipien erfolgt - in den vergangenen Jahren haben im Land mehrere Volksabstimmungen stattgefunden -, sie setzt auch auf eine regionale Entwicklung.

Ist das Sozialismus? Nein. Aber so entsteht eine neue soziale Perspektive, die im weiteren Verlauf mehr politische Freiräume schaffen könnte. Anders gesagt: Erst nach der wirtschaftlichen Emanzipation kann die politische folgen. Denn einen Alleingang, das ist in Caracas Konsens, würde man weder wirtschaftlich noch politisch überleben.