Bolivien

Das Blutbad im Pando

Ein Überlebender berichtet über die Ereignisse Mitte September in Bolivien

Cristián Domínguez ist 51, er gehört zum Amazonasvolk der Chacobo und ist der national Verantwortliche für natürliche Ressourcen beim Dachverband der Bauern und Landarbeiter (CSUTCB). Darüber hinaus ist er seit Jahren politisch aktiv im PASO (Poder Amazónico Social), einer regionalen politischen Organisation, die als direkte Vertretung der dortigen Indigenen und Campesinos fungiert. PASO unterstützt den aktuellen Prozess des Wandels, legt aber gleichzeitig Wert auf eine organische Repräsentation und die politische Unabhängigkeit von der Regierungspartei MAS. Die nachfolgenden Aussagen basieren auf einem ausführlichen Gespräch mit ihm, welches am 17.09.2008 in La Paz stattfand.

Den Anlass für die Mobilisierung der bäuerlich-indigenen Gruppen in Pando vergangene Woche, bot die Tatsache, dass Angestellte der Präfektur gemeinsam mit den Schlägertrupps der Unión Juvenil, einer extrem gewaltbereiten Jugendorganisation, neben anderen staatlichen Einrichtungen auch das regionale Agrarinstitut, das Instituto Nacional de la Reforma Agraria, kurz INRA, gestürmt und den gewählten Direktor durch einen Mittelsmann der Opposition ersetzt hatten. Zurecht fürchten die lokalen Gemeinschaften in diesem Kontext und angesichts der aktuellen Ausschreitungen und Separationstendenzen im Tiefland, um langjährig erkämpfte Rechtstitel für ihre traditionellen Territorien (Tierras Comunitarias de Origen). Denn neben der Angst um den Verlust von ökonomischer und politischer Macht stellt die Landfrage bzw. die geplante Agrarreform der Regierung Morales einen zentralen Auslöser für den gewaltsamen Widerstand der oppositionellen Präfekten und Comités Civicos, die Teil der Großgrundbesitzer- und Unternehmereliten sind, dar.

Aufgrund der sehr widersprüchlichen Darstellungen in den bolivianischen Medien legt Cristián im Interview Wert darauf, dass die Gruppe von über 1500 campesinos, Frauen, Kinder und älteren Personen, die am 11.09.2008 nahe der Dorfgemeinde Tres Barrancas in einen Hinterhalt schwer bewaffneter Oppositionsanhänger geriet, selbst nicht bewaffnet gewesen sei.

Der öffentliche Aufruf der CSUTCB zu einer Vollversammlung am 13.09. in der Gemeinde Filadelfia, ca. 20 Kilometer südlich von Porvenir gelegen, lag uns in Kopie vor und forderte die TeilnehmerInnen des Protestmarsches lediglich dazu auf, für den mehrtägigen Marsch und den Akt der Versammlung, Teller, Tassen und Löffel mitzubringen. In diesem Zusammenhang weist Cristián zudem auf die fehlenden Toten der 'anderen Seite' hin. Wäre die indigen-bäuerliche Gruppe bewaffnet gewesen und hätte den Konflikt geplant und provoziert, dann hätte es auch zahlreiche Verluste auf der anderen Seite geben müssen, gibt er zurecht zu bedenken [1].

Die geplante Versammlung sollte der Analyse der politischen Konjunktur dienen, die Besetzung und Plünderung von öffentlichen Einrichtungen verurteilen und gleichzeitig über mögliche Reaktionen und Strategien der CSUTCB beraten. Hierbei zählte die Rückeroberung des INRA zu den zentralen Forderungen, die im Raum standen. Aus diesem Anlass machten sich - aufgrund der Abgelegenheit der Orte, der tropischen Topographie und den fehlenden Straßen und Wegen - je nach Herkunftsort bereits am 10.09. sowie am 11.09. verschieden große Gruppen auf den Weg nach Filadelfia. Um Wasser, Lebensmittel, Schwangere, Kinder und Ältere transportieren zu können, waren auch einige Lastwagen (camionetas) Bestandteil der einzelnen Mobilisierungszüge.

Auf dem Weg ergaben sich bereits vereinzelte Konfrontationen durch Straßenblockaden, welche Kräfte der Opposition bzw. Angestellte der Präfektur zusammen mit Mitgliedern der Unión Juvenil errichtet hatten. Cristián selbst war Teil einer größeren Gruppe, die durch einen Kontrollposten der Präfektur, der mit Baggern eine 5 x 4 Meter tiefe Ausschachtung ausgehoben hatten, die das Passieren mit den camionetas unmöglich machte, gestoppt wurde. Im Rahmen der Verhandlungsversuche zwischen beiden Konfliktparteien kam es zu Handgreiflichkeiten. Daraufhin zog sich die bäuerlich-indigene Gruppe zunächst zurück, was die Blockierenden offensichtlich als Schwäche interpretierten und dazu nutzten, um einzelne Personen anzugreifen und mit Faustschlägen und Feuerwerkskörpern zu traktieren. Die Angreifer konnten jedoch von der Gruppe eingekesselt und 6 Provokateure als Geiseln genommen werden, um den Durchlass zu erzwingen.

Kurz vor der Dorfgemeinde Tres Barrancas (ca. 8 Kilometer von Porvenir) vereinigten sich die aus verschiedenen Richtungen zusammenlaufenden bäuerlich-indigenen Protestzüge und stießen erneut auf eine Barrikade oppositioneller Kräfte. Da die Polizei jedoch bereits vor Ort war und sich zwischen beiden Konfliktparteien positionierte, schien die Fortsetzung des Marsches aus Sicht der anwesenden campesinos und Indigenen nur eine Frage der Zeit und des Verhandlungsgeschickes. So verständigte man sich mit den Polizeikräften relativ schnell auf die Herausgabe der Geiseln, da davon ausgegangen wurde, dass die Polizei die notwendige Unterstützung beim Passieren gewähren würde. Doch nachdem die letzte Geisel die Seite gewechselt hatte, gab eine als Polizistin gekleidete Frau offensichtliche Handzeichen in Richtung der Barrikaden woraufhin plötzlich das Feuer mit Feuerwerkskörpern, kleinkalibrigen Schusswaffen, Gewehren und Maschinengewehren eröffnet wurde. In Panik versuchte sich die Menge zurückzuziehen. Diejenigen, die dabei zurückblieben - Kinder, Frauen und alle weniger mobilen Teile der Gruppe - wurden die ersten Opfer der Bewaffneten. Frauen und Kinder wurden geschlagen, erlitten Brandverletzungen und laut verschiedener Augenzeugen wurden einzelne Personen aus nächster Nähe erschossen. Dieses Vorgehen löste heftige Reaktionen auf Seiten der campesinos aus: so versuchte man gemeinsam wieder in Richtung der Blockade zu stürmen und die eigenen Leute zumindest mit den Fäusten zu verteidigen. Dieser direkten Konfrontation fielen die meisten Toten und Verletzten zum Opfer. Über die genaue Zahl gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Fakt ist, dass mindestens 15 Leichen sichergestellt und forensisch untersucht werden. Daneben gibt es Dutzende Verletzte und über 100 Verschwundene.

Da mehrere Augenzeugen berichten, dass auch Kinder aus nächster Nähe hingerichtet wurden, aber bisher offiziell keine Kinderleichen geborgen wurden, vermuten die Betroffenen, dass eine unbekannte Zahl an Opfern in den nahegelegenen Flussläufen 'entsorgt' wurden, da es dort vor Alligatoren und piranjas nur so wimmele.

Diejenigen, die fliehen konnten, flüchteten in die umliegende Bergregion, die dicht mit tropischer Vegetation bewachsen ist. Diese Gruppen wurden über mehr als 24 Stunden verfolgt und gejagt. Die bewaffneten Gruppen der Opposition, die laut Cristián aus Angestellten der Präfektur, aus Mitgliedern des zivilen Bürgerkomitees, der Oppositionspartei PODEMOS, aus Jugendlichen der Union Juvenil, aus Leuten aus Riberalta (Norte de Beni) sowie unbekannten Personen bestanden, setzten Motorräder und Fahrzeuge der Präfektur sowie Hunde ein, um die Geflüchteten aufzuspüren und zu töten.

Vielen halfen die Kenntnisse der Umgebung und traditionelles Wissen, um sich zu verstecken und zu überleben. Einzelpersonen suchten Kontakt zu AnwohnerInnen und baten um Hilfe; so konnte bspw. Trinkwasser organisiert und teilweise die Desinfektion von Schuss- und weiteren Wunden mit gespendetem Salz ermöglicht werden. Durch die Unterstützung von AnwohnerInnen wurde nicht nur die Verpflegung der Verletzten, sondern auch die überregionale Kontaktaufnahme und das Bekanntmachen der Situation bzw. des tatsächlichen Ausmaßes der Situation ermöglicht.

In zwei Fällen ist bekannt, dass nicht lebensbedrohlich verletzte Personen an Sanitäter einer Ambulanz übergeben wurden. Beide überlebten den Weg ins Krankenhaus nicht: Der eine hatte eine Schussverletzung am Bein, als Ursache für den Tod wurde später dann eine bei der Übergabe nicht vorhanden gewesene weitere Schussverletzung in der Brust festgestellt. Bei dem Zweiten Opfer verhielt es sich ähnlich. Für diese Toten werden gezielte Obduktionen eingefordert.

Nach dem Ausrufen des Ausnahmezustandes vom 12. auf den 13. September 2008 hat das Militär die Situation in Cobija weitgehend unter Kontrolle, aber in anderen Teilen des Pando geht die gezielte Verfolgung und Bedrohung von Familienangehörigen zentraler dirigentes weiter. Cristian Domínguez bittet deshalb die nationale und internationale Öffentlichkeit um Gehör und fordert politische Solidarität mit den Opern sowie finanzielle Unterstützung, um gefährdete Personen aus dem Pando evakuieren und sicher unterbringen zu können.

[1] Hinsichtlich des in den Medien immer wieder erwähnten Todes eines der Präfektur nahe stehenden Ingenieurs erklärt er, dass dieser Tod seines Wissens Resultat eines Zusammenstosses zweier Fahrzeuge gewesen sei, ein Unfall, der in den Wirren der Situation passiert sei.