Venezuela

Chávez ist kein Caudillo

An Venezuelas Präsidenten scheiden sich die Geister. Steht er für den alten Caudillismus oder einen neuen Reformsozialismus?

Nein, Hugo Chávez ist kein Caudillo. Ja, Caudillismus hat eine wichtige Rolle in der Geschichte Venezuelas und Lateinamerikas gespielt.

Caudillismo ist, etwas grob gesagt und im historisch südamerikanischen Gebrauch, die Herrschaft von Milizanführern, die bei Zusammenbruch oder Nichtfunktionieren der Staatsgewalt die Herrschaft in einem bestimmten Territorium an sich rissen.

Die Herrschaft stützte sich neben den Milizen und der militärischen Gewaltausübung dabei auf die engen Beziehungen zwischen dem Caudillo und "seinen Leuten", die oft durch fiktive Verwandtschaft (Paten, Taufpaten) betont und verstärkt wurden. Der Caudillo ist "seinen Leuten" verpflichtet, genauso wie sie ihm. Je erfolgreicher ein Caudillo militärisch ist, desto mehr Leute zieht er einerseits an. Andererseits wollen sich um des Ruhmes willen auch immer mehr junge Kerle mit ihm messen. Die Volkskultur Venezuelas (oder Mexikos) ist voller Lieder über berühmte Caudillos - oder ihre Herausforderer (und die jeweiligen Liebschaften).

Spanier und Kreolen

Das ganze 19. Jahrhundert war nach dem Zusammenbruch der spanischen Kolonialherrschaft in Lateinamerika (1821-1830) durchzogen von Caudillokämpfe und blutigen Machtkonflikten. Besonders intensiv waren diese Konflikte in Grenzregionen und den ländlich geprägten Gegenden mit ihren Rinder- und Pferdekulturen (wie Prärien, Pampas oder eben die Llanos von Venezuela und Kolumbien). Die in Europa fast unbekannten Llanos von Venezuela (etwa den heutigen Staaten Apure, Barinas, Portuguesa und Monagas nördlich des Orinoko entsprechend) haben sich allen kapitalistischen Modernisierungen widersetzt (fast bis heute) und gehören kulturell wohl zu den authentischsten "Cowboy"-Regionen der Welt (venezolanische "Cowboys" heißen Llaneros, das Doppel-l wird wie j gesprochen).

Das mag am Klima liegen - ein halbes Jahr entsetzliche Trockenheit und Hitze, ein halbes Jahr schwere Regenfälle und Überschwemmungen (durchaus über 2 Meter hoch). Erst den langen Diktaturen von Caudillos, die alle anderen Caudillos besiegt hatten, wie die von Juan Vicente Gómez in Venezuela (1908-1935), gelang es, den Einfluss der Llaneros zurückzudrängen. In den Diktaturen verwandelten sie sich in Armeegeneräle und ihre Milizionäre in Obristen, Coroneles und Hauptleute. Sie gründeten Offiziersschulen nach europäischem Vorbild.

Elemente und Traditionen des Caudillismo spielen in Südamerika bis heute eine Rolle, vor allem in der Armee Venezuelas, auch wenn jeder Offizier das weit von sich weisen würde (weil eine "richtige" Armee eben keine Miliz ist). In Venezuela kommt noch hinzu, dass seit dem Zusammenbruch der Kolonialordnung kein Mann aus der Wirtschaftselite der Sklavenhalter und Großgrundbesitzer die sichtbare Macht ausgeübt hat. Seit José Antonio Páez, dem Caudillo der Llaneros vom Apure (der 1818 mit Simón Bolívar alliiert war und ihn 1830 verriet), waren Caudillos Präsidenten, die die Sprache der Bauern und Llaneros, ihren Witz, ihre Gestik, ihre Lieder und ihr rüdes männliches Auftreten beherrschten.

Die Unabhängigkeitskriege dauerten in Venezuela von 1811 bis 1824. Die berittenen Lanzenreiter der Llanero- und Bauernmilizen standen unter Caudillos, die sie "tata" oder "taita" (ein kreolisches Wort, das in etwa "Onkel" bedeutet) oder "mayordomo" (Aufseher einer Plantage) nannten. Fast die gesamte alte Kolonialelite, meist Sklavenhalter und Latifundisten, wurden massakriert. Diese historische Erfahrung ist in Venezuela nie vergessen worden.

Anders als mit grobschlächtigen Caudillos glaubten die Eliten, die bäuerlichen und städtischen Volksmassen in Venezuela auch nach der Unabhängigkeit nicht kontrollieren zu können. Formal änderte sich - ich verkürze etwas - erst etwa mit der sogenannten Punto-Fijo-Demokratie von 1959/60. Aber selbst deren Begründer, Rómulo Betancourt, hatte Erfahrungen mit eigenen stalinistischen Milizen, konnte einen Revolver schwingen und dem Volk nach dem Maul reden.

Zu Hugo Chávez ist nun zunächst zu sagen, dass das in Europa und Nordamerika medial weit verbreitet Bild von ihm als "Verrücktem" ("loco") neben Fiktion auf zwei reale Vorgänge sowie der tiefen Verwurzelung von Chávez in der Llanero-Kultur zurückgeht. Der erste reale Vorgang liegt in dem Konflikt des spanischen Presse-Flaggschiffs El País mit Chávez, der um das Jahr 2000 begann. Die spanischen Journalisten neigen seitdem dazu, die direkte Ansprache, die Hugo Chávez aus venezolanischer Tradition in der politischen und antikolonialen Umgangssprache führt (in dieser Sprache ist "loco" - Verrückter - eher ein Lob), unkommentiert zu übernehmen.

Seitdem wird dieser frühe Korpus von Artikeln und Medienprodukten über Chávez' "Verrücktheit" immer weiter zitiert und wenig hinterfragt.

Zur direkten Ansprache bei Hugo Chávez gehören neben dem caudillistischen Element der rüden Umgangssprache aber vor allem auch die Formulierung einer Reformrevolution. Chávez spricht immer wieder von den sozialen Problemen der 60 Prozent sehr Armen und kritisiert die Privilegien der Oberschicht (und damit auch der Mittelschicht). Chávez stammt selbst aus den Llanos von Barinas und kennt alle Traditionen der Llanero-Kultur. Er singt auch, wie alle Llaneros, gerne ellenlange Corridos (etwa über Pferde), und das durchaus auch mal vor der Fernsehkamera oder (aber das eher früher) bei präsidialen Empfängen. Der auf dem Petersberg, noch unter Helmut Kohl, ist legendär.

Aber Chávez ist kein Caudillo. Er war Offiziersschüler einer Akademie; er hat die Universität abgeschlossen. Selbst als er mit anderen Militärs - auch aus den Llanos - die Militärrebellion von 1992 gegen eine korrupte Politikerkaste vorbereitete, agierte er eher in der Tradition des militärischen Protagonismus eines Simón Bolívar (der die historische Hauptreferenz für Chávez darstellte). Chávez hat eine Vielzahl sauberer Wahlen und Referenden gewonnen, sicherlich auch mit seiner direkten Ansprache, die die Probleme der armen Bevölkerung reflektieren. Eine klassische Revolution gibt es in Venezuela nicht, eher eben eine "Reformrevolution", die versucht, mit zentralstaatlichen Mitteln und Neuorganisation des Politischen den Problemen einer modernen Gesellschaft in Lateinamerika beizukommen: Gesundheit, Hunger, Wasser, Bildung, Armut, Lebensbedingungen, Arbeit, Gewaltenkontrolle - alles Aufgaben eines modernen Staates. Es geht also weniger um "Caudillismo" als um einen "Socialismo" des 21. Jahrhunderts. Auch von einer Diktatur oder systematischen Gewalt gegen die Opposition in Venezuela kann keine Rede sein. Die privaten Medien sind mehrheitlich gegen Chávez und existieren mehrheitlich trotzdem.

Biblisches Ausmaß

Am wenigsten haben sich Chávez und seine Anhänger (städtische und ländliche Arme, radikale Linke und ehemalige Stadtguerilla, neue Bürokratien und Teile der Armee) bislang gegen Korruption, Kriminalität und die Gewalt in Venezuela durchsetzen können. Auch mit der Lebensmittelversorgung gibt es große Schwierigkeiten.

Die Landreform und die Verbesserung der Barrios sind Aufgaben biblischen Ausmaßes. Die Chavistas, wie etwa die Bürokratien der Sozialprogramme, sind selbst teilweise ein Problem. Die große Massenbasis der armen Barriobewohner ist politisch nahezu autark. Seit dem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2006 und dem Referendum 2008 steht der Chavismo vor dem großen Problem: "Konsolidieren oder Radikalisieren". Dazu kommt der tiefe Fall der Ölpreise 2008, mit deren Profiten bisher fast alles bezahlt worden ist. Es könnten so bei weiteren Schwierigkeiten durchaus mehr Elemente des Caudillismo in den Vordergrund treten. In der Armee ist der Caudillismo verdeckt immer präsent, in den Traditionen der politischen Kultur und Sprache im Landesinneren ohnehin.

Hugo Chávez hat, von der Welt fast unbemerkt, eine relativ gut ausgerüstete Truppe aus Reservisten aufstellen lassen, die mittlerweile weit mehr Kämpfer hat als die klassische Armee. Also: Socialismo des 21. Jahrhunderts, aber durchaus mit caudillistischen Elementen, die die Geschichte Venezuelas prägen.

Michael Zeuske, Jahrgang 1952, ist Professor an der Universität zu Köln. Den Beitrag hat er für amerika21.de überarbeitet.